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Das Jahr 1910 war am Ende ein überaus glückliches für Arthur und Else Friedländer. Seit ihrer Heirat waren zwanzig Sommer und zwanzig Winter ins Land gegangen, in denen all ihre Versuche, ein Kind zu bekommen, ohne Erfolg geblieben waren. Die Hoffnung auf Nachwuchs hatten sie seit langem fahren lassen, waren gewiss, vom Schöpfer der Welt mit Unfruchtbarkeit gestraft worden zu sein. Zumindest Arthur wusste nicht, wofür er ihnen diese harte Strafe auferlegt hatte. Sie machte ihr Leben tagtäglich zur Qual. Ihr Seelenschmerz steigerte sich noch, wenn sie Freunde und Bekannte trafen oder auch völlig Unbekannte, die im Stadtpark, im Prater, bei Spaziergängen entlang des Donaukanals oder am Kahlenberg, bei Festen oder Einladungen oder wo auch immer sie mit ihren Kindern spielten und herumtollten, von den Fortschritten erzählten, die sie machten, stolz auf sie waren, in Familienwonne schwelgten. Das alles würde Else und Arthur für immer versagt bleiben, so dachten sie.
Else, eine zierliche Frau, der die Schönheit ihrer Jugend immer noch anzusehen war, meinte den Grund der Strafe zu kennen, hatte ihn aber stets für sich behalten. Weder ihren lange verstorbenen Eltern, noch Arthur hatte sie je erzählt, dass sie als Kind auf ihren kleinen Bruder eifersüchtig gewesen war und ihn deswegen oft schlecht behandelt hatte. Einmal hatte sie es dabei zu weit getrieben. In den großen Ferien im August, die sie immer in derselben Pension am Semmering verbrachten - weiter oder in eine andere Sommerfrische waren sie nie gekommen - hatte sie ihn bei einem Sturz vom Kirschbaum im Garten absichtlich nicht aufgefangen, obwohl sie die Aufsicht über ihn hatte und es ohne Weiteres gekonnt hätte. Insgeheim hatte sie gehofft, er würde sich ein Bein brechen oder es würde ihm noch Schlimmeres zustossen. Sigi, mit vollem Namen hieß er Siegmund, zog sich zwar nur einen verstauchten Knöchel zu, der mehrere Tage geschwollen blieb und ihm am Laufen hinderte, doch zwei Jahre danach starb er an den Folgen eines Unfalls mit dem Jugendfahrrad, das er zum elften Geburtstag bekommen hatte. Trotz des ausdrücklichen Verbots der Eltern war er damit unbeaufsichtigt auf die Strasse gefahren und übermütig in die Pedale getreten, um möglichst schnell zu werden. Vor einer abschüssigen Kurve hatte er nicht mehr rechtzeitig bremsen können und war einen steilen Abhang hinunter zu Tode gestürzt. Elses Mutter überwand den Verlust eines ihrer beiden Kinder nie. Sie begann zu trinken, ging kaum mehr unter die Leute, kapselte sich von der Welt ab und vernachlässigte ihre Familie. Ein paar Jahre später starb auch sie. Offiziell hieß es, an Leberzirrhose, bedingt durch übermäßigen Alkoholkonsum, doch war zweifellos auch der Seelengram an ihrem frühen Tod nicht unwesentlich beteiligt. Sie wollte einfach nicht mehr leben, war doch der kleine Sigi ihr Ein und Alles gewesen, weil sie sich immer einen Sohn gewünscht hatte. Else hatte gespürt, dass sie als Mädchen nur den zweiten Platz bei ihrer Mutter eingenommen hatte, fühlte sich aber deswegen nicht weniger schuld an ihrem Tod, wie auch an dem ihres kleinen Bruders. Hätte sie ihn damals beim Sturz vom Kirschbaum aufgefangen, wie es ihre Pflicht gewesen wäre, so hätte er sich die Knöchelverletzung nicht zuzogen und wäre später auf dem Fahrrad kräftig genug gewesen, um es aus der hohen Geschwindigkeit vor der Kurve und dem Abhang anzuhalten. In ihrem Innersten war Else davon überzeugt, dass dies der eigentliche Grund für ihre Kinderlosigkeit war, denn Gott sieht alles und lässt keine Missetat ungesühnt.
Auch die fast weiße Blässe ihrer Haut schrieb sie der göttlichen Strafe zu. Doch Arthur, ihrem späteren Ehemann, hatte gerade das an ihr gefallen, ebenso wie ihre schüchterne Zurückhaltung, die sie besonders ihm gegenüber an den Tag legte. Sie hatte sich nie erklären können, wieso dieser große, attraktive und charmante Mann, von dem jede ihrer Freundinnen träumte, der jede hätte haben können, die er wollte, sich ausgerechnet in sie verliebt hatte. Egal, durch welche Tür er trat, sofort richteten sich alle Augen auf ihn, derart imposant und einnehmend war allein schon seine äußere Erscheinung. Sobald er dann noch mit seiner tiefen Bassstimme zu reden begann, leise und langsam, jedes Wort mit Bedacht wählend, nie sich verhaspelnd oder unsicher werdend, verstummten alle anderen im Raum. Auch das, was er zu sagen hatte, faszinierte die Zuhörer, war nie zweitrangig oder nebensächlich, immer von Wichtigkeit, fundiert und wohlbegründet. Nie hatte sie dumme oder überflüssige Dinge aus seinem Mund gehört, nie erlebt, dass jemand seinen Argumenten nicht gefolgt wäre, ihm gar vor den anderen zu widersprechen gewagt hätte. Er hätte sich dabei nur lächerlich gemacht oder ins Abseits gestellt. Aber nicht nur seine angeborene Führernatur, die natürliche Autorität, die er ausstrahlte, die Art, wie er auftrat und wie er bei den Menschen ankam, nicht nur, was sie von ihm sah und hörte und wie alle, Männer und Frauen vor ihm Achtung und Respekt hatten, ihn bewunderten und stets versuchten, sein Ohr und sein Gefallen zu finden, ihm nacheiferten, wenn er nicht zugegen war, um so zu sein wie er, Erfolg in allem zu haben, Aufmerksamkeit und Anerkennung zu finden wie er, nahm sie von ihm ein und ließen ihre Knie ins Zittern kommen, wenn er in ihrer Nähe war, eines der untrüglichen Anzeichen einer Frau, dass ihre Gefühle für den Betreffenden mehr als nur die der Bewunderung waren. Und schließlich waren es die Güte in seinem Herzen und die die Zuneigung zu ihr, die sie spürte, die ihre Gefühle für ihn zu echter Liebe wachsen ließen,
Doch eingedenk ihrer schändlichen Unterlassung, die zwei ihrer Liebsten das Leben gekostet hatte, wie sie irrtümlich annahm, hatte sie diesen Mann, das kostbarste Geschenk, das die Vorsehung ihr je darzubringen bereit war, in ihren Augen nicht verdient. Das hatte sie sich aus Schuldgefühlen und Angst eingeredet und darum lange gezögert, seinen Heiratsantrag anzunehmen. Arthur hatte ihre Bedenken falsch gedeutet, gedacht, sie würde nicht genug für ihn empfinden und war darum umso glücklicher gewesen, als sie ihm nach Wochen eingestanden hatte, dass er die Liebe ihres Lebens sei, dass sie nur ihn wolle und dass er der Vater ihrer Kinder werden sollte. Doch auf die Heirat war die mit den Jahren, die dahingingen, immer stärker werdende Verzweiflung darüber gefolgt, dass sie keine Kinder bekommen konnten.
Aber jetzt, nach zwanzig Jahren, nach den Seelenqualen ungezählter durchweinter Tage und Nächte, nach der langen kinderlosen Zeit, war Else doch noch schwanger geworden, jetzt, wo sie schon vierundvierzig war, und das ohne jedes Zutun der Ärzte. Hatte Gott ihr verziehen, die Strafe beendet, die er über sie verhängt hatte?
Die Freude Elses und Arthur war so groß wie die Aussicht auf das bevorstehende Familienglück. Auch die Mitglieder der weitverzweigten jüdischen Gemeinde Wiens, vor allem aber derer, die an ihrer Seite im Stadttempel in der Seitenstettengasse beteten, unter denen sich die ungewöhnliche Sache rasch herumgesprochen hatte, waren in freudiger Erwartung auf das bevorstehende Ereignis, auf die Geburt des Kinder einer Frau, die als unfruchtbar gegolten hatte. Es geschah zwar nur an den hohen Feiertagen Rosch Haschana und Jom Kippur, dem Neujahrs- und dem Versöhnungstag, dass die Synagoge voll besetzt war, denn zu den übrigen Gottesdiensten, auch am Schabbat, kamen immer weniger Leute in das im 1. Bezirk gelegenen Bethaus des Allmächtigen, der einst den Bund am Sinai mit ihnen geschlossen hatte. Aber das Gerüchte- und Nachrichtentelefon funktionierte gut, auch ohne die neumodischen Apparate an der Wand. Zudem fühlten sich nicht nur die, die zu diesen seltenen Gelegenheiten andächtig in den Bankreihen des Gotteshauses sassen, mit ihren Glaubens- und Schicksalsbrüdern verbunden, so unterschiedlich sie auch waren, vom Taglöhner bis zum Professor. Es war das unsichtbare Band von zweitausend Jahren gemeinsam erlebten Leids im Exil und der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die ihnen die Propheten und das heilige Buch der Thora gaben, von und aus denen sie als Kinder gelernt hatten, das sie zusammenhielt, wie weit sie auch voneinander entfernt waren, in welchen Ländern des Erdballs sie auch lebten, verstreut über die Völker.
Alle, auch die, die die religiösen Gesetze nicht mehr oder nur noch in Teilen befolgten, waren dem Gott ihrer Vorväter nahe, waren mit ihm vereint, besonders dann, wenn sie das ewige Licht sahen, das vor dem Aron Hakodesch in den Synagogen brannte, dem Schrein, in dem sich die heiligen Rollen der Thora befanden, die der Allmächtige ihnen gegeben hatte, bedeckt vom rot- oder blausamtenen Vorhang, auf dem die Löwen Judas, der siebenarmige Leuchter und der Stern Davids zu ihrem Schutz prangten. Auch dann standen sie im Angesicht des Ewigen, wenn sie dem Ton des Schofars lauschten, des Widderhorns, das sie zur Ein- und Umkehr aufforderte, darauf, den Irrweg des Mannas und der Sünde zu verlassen, den richtigen zu erkennen, den Menschen zum Vorbild zu dienen, ihn zu gehen, den Weg der 613 göttlichen Gebote und Verbote, denn nur er führt zum wahren Sinn des Lebens und öffnet die Tore zum Olam haba, der herrlichen Welt danach. Sie fühlten sie sich einander zugehörig wie es bei keinem anderen Volk der Fall war, das kein eigenes Land mehr besass. Der Bund mit Gott, die heiligen Schriften und die nicht endenden Verfolgungen, die sie seit ihrer Vertreibung aus der Heimat im Galut hatten erdulden müssen, hatten sie zusammengeschweißt wie nichts anderes es vermocht hätte, ihre Gedanken und ihr Streben auf einzigartige Weise verbunden, wo immer sie sich befanden und so unterschiedlich in Geist, Gestalt und Fähigkeiten sie waren.
Anderseits hatte die Haskala, wie die Juden den Eintritt ins Zeitalter der Aufklärung in deutschen und anderen westlichen Landen nannten, in das der Ideen und Vorstellungen Goethes, Schillers, Kants, Descartes und Leibniz’, ihr Werk ebenso gründlich wie die althergebrachte Religion und die Verfolgungen getan. Viele hatte die Haskala vom Glauben der Väter so weit entfernt, dass sie sich überlegten, sich taufen lassen oder waren den unumkehrbaren Schritt gar schon gegangen, hatten den Austritt aus dem Volk Gottes bereits vollzogen. Dabei nahmen sie in Kauf, sich selbst zu verleugnen, sich zu denen zu gesellen, die ihre Brüder und Schwestern immer noch böswillig verfemten oder der schlechtesten Eigenschaften und schlimmsten Untaten beschuldigten. Bei der Sonntagspredigt in der Kirche bekamen sie vom Pfarrer zu hören, die immer noch dem Judentum Anhängenden wären der ewigen Verdamnis verfallene Nachfahren von Gottesmördern und starrsinnige Leugner des wahren Glaubens, weil sie nur das Alte, nicht jedoch das Neue Testament anerkannten und Jesus den Status eines Gottessohnes nicht zubilligen wollten. Niemand von denen, die dies predigten, es donnernd von den Kanzeln in die Reihen der Christusgläubigen und der bei ihm Trost suchenden riefen, die die die bösen Worte sprachen, mit denen sie sie gegen ihre jüdischen Mitbürger aufhetzten, dachte daran, dass die Juden zuvor auch keinen anderen Menschen als Gott verehrt hatten, vor ihren Statuen nicht niedergekniet waren, ihre Standbilder und ihre als heilig angesehenen, in Holz, Stein, gebrannten Lehm oder Papyrus geritzten und gezeichneten Symbole nicht angebetet hatten. Weder die Könige Babylons und Assyriens, noch die Pharaonen Ägyptens waren für sie göttlich gewesen. Sie alle waren von ihren Priestern als Gottessöhne bezeichnet worden und in Wahrheit doch nichts als Götzen gewesen, Auswüchse menschlicher Anmassung. Sie verhöhnten Gott statt ihn zu preisen.
Jesus selbst, Rabbi Jehoschua ben Jossef aus Beth Lechem, dem Dorf der Brotbäcker, hatte sich nie als Gott gefühlt, hatte zu ihm, dem Vater gebetet, wie es die Juden aller Epochen taten, denn Gott ist der Vater aller Menschen. Sein Bestreben war es, das Judentum zu reformieren, den Fragen und Forderungen seiner Zeit anzupassen. Nie fühlte er sich als etwas anderes denn als Jude, nie hätte er es gutgeheißen, dass ein anderer, Scha’ul, wie er richtig hieß, Saulos für die Griechen und Saulus für die Römer, ihn viele Jahre nach seinem Tod zum Gottessohn erklärte, zu einem derer, den er und die Seinen, die man später Jünger nannte, stets abgelehnt und als Api Kores, als Ungläubige, gar als Gotteslästerer bezeichnet hatten. Seine Ermahnungen, den Nächsten zu lieben und die Feinde zu ehren, waren keine neuen Erkenntnisse, wie die meinten, die in den Kirchen dazu aufriefen, im Leben aber das pure Gegenteil davon praktizierten, sondern Wiederholungen dessen, was in den heiligen Schriften der Juden an hundert Stellen geschrieben stand.
Der Übertritt zur Religion des Saulus, dem Christentum, das seit Konstantins Zeiten von Rom ausgehend die ganze westliche Welt erobert hatte, weil es die Mission erfunden hatte, eine seiner wenigen echten Neuerungen - im Judentum ist sie streng verboten -, schien den aus ihm Ausgetretenen die volle Gleichberechtigung zu bringen, die Beseitigung und Aufhebung gesellschaftlicher Schranken und das Ende der abwertenden und spöttelnden Witze über sie, die sie täglich hören mussten, sogar von den Nichtjuden, die behaupteten, ihnen wohlgesonnen zu sein.
Die Freude der Friedländers und der Wiener Juden, die nicht ins Christentum gewechselt waren, war doppelt, denn das Kind, ein Sohn, wurde am 10. März geboren, rosafarben, wohlriechend, pausbäckig, beim Austritt aus der Geborgenheit des Mutterleibs laut kreischend, seine Lungen entfaltend, das erste Mal die Luft einatmend, die ihm das Dasein auf Erden ermöglichte, genauso, wie es sich für ein gesundes Baby gehörte. Es war, und das war das Zeichenhafte daran, kein Tag wie jeder andere, nein, es war justament der Todestag Dr. Karl Luegers, eines üblen Antisemiten. In der langen Zeit, in der er als Bürgermeister der Stadt geamtet hatte, hatte er den Juden immer wieder neue Schikanen, Nachteile und anderes Ungemach bereitet, sie öffentlich mit den ärgsten Schimpf- und Schmachwörtern belegt, ihnen die Verantwortung und Schuld für alles Schlechte auf Erden zugeschoben, von Hungersnöten über Kriege und soziale Ungerechtigkeiten bis hin zu Grippe- und Pestepidemien, wie man sie ihnen Mittelalter zugeschrieben hatte. Bis zum letzten Tag seines Lebens hatte er nicht aufgehört, die christliche Bevölkerung Wiens in demagogischer Weise gegen sie aufzubringen. Verständlich, dass sein Ableben, das völlig unerwartet kam, von den Geschmähten und Verunglimpften mit Befriedigung begrüßt wurde. Dass es auf den Tag genau mit dem Wunder der Geburt des ersten Kindes einer fast fünfundvierzigjährigen jüdischen Frau zusammenfiel, die von den Ärzten seit vielen Jahren als unfruchtbar diagnostiziert worden war, wurde nicht nur von den Betenden im Stadttempel, sondern auch den in den meisten anderen Wiener Synagogen und Bethäusern – es gab fast zweihundert - als gütiges Walten Gottes betrachtet. Der Allmächtige hatte seine Kinder, zumindest die, die ihm treu geblieben waren, auch im Exil nicht vergessen, sie von ihrem größten Feind befreit und ihnen am selben Tag in Gestalt eines entgegen aller Wahrscheinlichkeit geborenen Kindes Vorfreuden auf eine bessere Zukunft geschenkt.
In der Leopoldstadt, der Brigittenau und dem Alsergrund, wo die Masse der einfachen Juden und der Mittelstand wohnten und ihrem Tagwerk nachgingen, um ihren Familien ein halbwegs gesichertes Auskommen zu bieten, aber auch in den vornehmen Villen der Reichen in Hietzing und Döbling, wo abends und an Feiertagen und Wochenenden den Annehmlichkeiten des Lebens ausgiebig gefrönt wurde, wurde lange darüber diskutiert und auf das Wohl des neuen Erdenbürgers Lechajim getrunken.
Sogar in den beiden als jüdisch geltenden Fußballclubs der Stadt, Rapid, dem der Arbeiter, und Vienna, den Nathaniel Meyer Freiherr von Rothschild, Grandseigneur, Naturliebhaber, Reiseschriftsteller, Fotograph und bedeutendster Mäzen Österreich-Ungarns, als ersten Wiens gestiftet hatte und den er präsidierte, wurde das freudige Ereignis, das sich wie ein Lauffeuer bis in die hintersten jüdischen Winkeln der Weltstadt herumgesprochen hatte, gebührend gefeiert.
Fritz Grünbaum und die anderen jüdischen Kabarettisten unterließen es nicht, die ungewöhnliche Sache auf ihre Weise zu kommentieren, die Besucher mit ihr zum Lachen zu bringen, ohne die Tränen zu unterdrücken, sowohl die der Belustigung wie auch die der Ironie und der Zukunftsangst. Letztere war mehr als angebracht, ohne dass die Juden es gewusst hätten. Keiner von ihnen ahnte auch nur im Entferntesten, was ihnen in wenigen Jahrzehnten bevorstand. Im Gegenteil, die rund zweihunderttausend, die es in Wien gab, nach den Katholiken die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe der Stadt, viel mehr als Protestanten und Moslems zusammengenommen, hatten ihre Kultur und ihren Wohlstand in erheblichem Maß mitgestaltet, waren Bürger der von vielen Völkern bewohnten Metropole der weitverzweigten und in die Moderne strebenden Habsburger Monarchie, in der Aufklärung und Toleranz herrschten. Zumindest dachten sie das. Jeden Gedanken an das Unfassbare, das die Zukunft für sie bereithielt, hätten sie als Unkenrufe Ewiggestriger, die die Zeichen der Zeit nicht erkannt hatten, weit von sich gewiesen.
Mit Ausnahme des Visionärs Theodor Herzl, der den ersten Zionistenkongress nach Basel einberufen und einen neuen Judenstaat vorgeschlagen hatte, und der aus den östlichen Provinzen des Reichs zugezogenen Kaftanträger, die schläfengelockt und schwarzgewandet den Unmut nicht nur vieler Christen, sondern auch der eingesessenen, modern gekleideten und liberal denkenden Juden erregten, waren die meisten überzeugt davon, dass die Zeiten der Exzesse des Judenhasses zumindest in deutschen und österreichischen Landen endgültig vorbei waren. Der Geist der deutschen Dichter und Denker, aber auch die Weisheiten Moses Mendelssohns schienen alles verändert zu haben. Die Exzesse des Antisemitismus unter Lueger betrachteten sie nur noch als das letzte Aufflammen eines im Erlöschen begriffenen Feuers, waren davon überzeugt, dass die Lösung der sogenannten Judenfrage in der Assimilation in die Wirtsvölker, nicht in der von Herzl und den Zionisten geforderten Auswanderung nach Palästina und der Gründung eines eigenen Staates für sie bestand.
Auf jeden Fall waren die Juden aus Wien nicht wegzudenken, welcher der vielen Strömungen sie auch angehörten. Sigmund Freud erdachte die Psychoanalyse und heilte Kranke, denen niemand sonst Hilfe bringen konnte. Medizin und Juristerei waren fest in jüdischer Hand. Arthur Schnitzler begeisterte Juden wie Nichtjuden mit seinen Liebesstücken im Vorstadt- und Offiziersmilieu. Alexander und Marie Roda Rodas Komödien erzielten Zuschauerrekorde. Der schon genannte Fritz Grünbaum wurde zum Vorbild aller Kabarettisten. Die berühmte Wiener Operette war als jüdisch verschrien. Hermann Bahr stand am Beginn der Wiener Moderne in der Literatur. Zum Gipfelkreuz der deutschsprachigen Schriftstellerei, genauer gesagt zu ihrem Gipfelstern, dem Himmel noch näher als Berlin, wie viele meinten, machten Wien die ebenfalls jüdischen Autoren Richard Beer-Hofmann, Felix Salten, Hugo von Hofmannsthal, Alfred Polgar, Peter Altenberg, Egon Friedell, Leo Perutz, Franz Kafka, Franz Werfel, Joseph Roth, Else Lasker-Schüler und Stefan Zweig.
Der Jude Karl Kraus erhob Wien zum Weltzentrum des Sarkasmus. Als ein Antisemit einmal zu ihm meinte, die Juden seien an allem Unglück der Welt schuld, antworte er:
«Nein, die Radfahrer.»
Verwundert fragte ihn der Antisemit:
«Warum die Radfahrer?»
Karl Kraus darauf: «Warum die Juden?».
Der Schachkönig aus dem Prager Ghetto Wilhelm Steinitz herrschte unbestritten auf den vierundsechzig Feldern, bis ihm Emanuel Lasker, ein anderer Jude, vom Thron stiess. Johann Strauss, der ebenfalls von Juden abstammte, war der absolute Liebling aller Wiener und Wienerinnen. Seine Klänge im Dreiviertel-Takt berauschten die Menschen, seine Walzer machten Abendgesellschaften und Bälle zu Ereignissen, die mit dem Pariser Can-Can Jacques Offenbachs, des gefeierten französischen Juden, im friedlichen Wettstreit um die Krone der Beschwingtheit und Ausgelassenheit lagen.
Die überglücklichen Eltern Else und Arthur Friedländer gaben ihrem Sohn den weltlichen Namen Max und den jüdischen David, nannten ihn aber später nur noch Maxi. Zur Bris Mile, der Beschneidung des unter solch besonderen Umständen geborenen Knaben am dritten Tag nach der Geburt, die auch bei wenig religiösen Juden aus dem Leben nicht wegzudenken ist, und zur anschließenden Feier kamen so viele Leute in den Tempel in der Seitenstettengasse, dass bei weitem nicht alle hineinpassten. Es bildete sich eine riesige Menschentraube, die über den Judenplatz hinaus bis zum Platz am Hof reichte.
Sogar der Neuen Freien Presse, der nicht nur in Österreich-Ungarn führenden deutschsprachigen Tageszeitung, war der Auflauf und der Anlass, der zu ihm geführte hatte, eine Meldung wert. Ihr Chefredaktor und spätere Korrespondent in Paris war bis vor wenigen Jahren der ebenfalls schon genannte, früh verstorbene Theodor Herzl gewesen. Er war es, der über den Prozess gegen Alfred Dreyfus und seine Begleiterscheinungen berichtet hatte. Ein jüdischer Hauptmann, der einzige Jude im französischen Generalstab, war des Hochverrats beschuldigt, entgegen seinen stets wiederholten Unschuldsbeteuerungen aufgrund fadenscheiniger Indizien zur Verbannung auf die Teufelsinsel verurteilt worden. Unter dem johlenden Beifall des judenfeindlichen Mobs wurde er im eigens dafür der Öffentlichkeit geöffneten Kasernenhof degradiert und aus der Armee ausgestoßen. Was Herzl dabei sah, den Hass der Menge auf die Juden in einem der hochzivilisierten Länder Europas, nach Ansicht vieler sogar dem zivilisiertesten von allen, zumindest aber dem, das gemeinsam mit Deutschland und Österreich an der Spitze der westlichen Zivilisation stand, brachte ihn, den weltlichen, der Religion fast gänzlich abgekehrten Juden dazu, dem Gedanken der Assimilation seiner Glaubensbrüder in die europäischen Mehrheitsgesellschaften, dessen oberster Verfechter er gewesen war, ein für alle Mal abzuschwören.
Er forderte nun ihre Heimkehr die alte, zwischen dem Mittelmer und dem Jordanfluss gelegene Heimat. Nach wechselnden Besetzungen gewalttätiger Eroberer und jahrhundertelanger Abholzung war sie zu einer steinigen, unfruchtbaren und dünn besiedelten Provinz des türkischen Sultans verkommen, in der Sümpfe und Malaria Landwirtschaft unmöglich machten. Ihn und seine Effendis, die im weit entfernten Istanbul in feudalem Luxus residierten, interessierte der karge Landstrich nur noch, um den wenigen arabischen Schafhirten, die es in ihr neben den frommen, dem Gebet und Thorastudium zugewendeten Juden in Safet und Jerusalem noch gab, die letzten Dinare als Pacht und Steuern aus den Taschen zu ziehen. Außer wasserlosen Wüsten und sengender Hitze gab es dort nichts mehr.
Doch genau dort, als das Land noch grün und waldbestanden war, hatten während Tausenden von Jahren die Juden gelebt, dem Ewigen den Tempel erbaut, das vielleicht grösste Bauwerk der Antike. Saul, David, Salomon und ihre zahlreichen Nachfolger hatten dort die Königreiche Israel und Juda errichtet, die Propheten dort die Welt zur Besserung ermahnt. Alexander war dort vor dem Hohepriester auf die Knie gesunken, die Makkabäer hatten dort die Seleukiden besiegt. Nun gebot ihnen Herzl, genau dorthin, in die alte Heimat zurückzukehren, die auch die neue werden sollte, Städte zu errichten und das Land wieder fruchtbar zu machen. Erste Pioniere waren schon ausgezogen, hatten Siedlungen gegründet, in denen sie im Schweiße ihres Angesichts den Boden wieder Leben einzuhauchen begannen. Nur genau dort, im eigenen Staat, dem neu zu gründenden Israel, würden die Juden als freie und gleichberechtigte Bürger leben können, ohne antisemitische Übergriffe wie in Europa befürchten zu müssen, prophezeite ihnen Herzl.
Doch sein Buch Altneuland, mit dem er die Idee propagierte, wurde von den meisten Wiener Juden nur belächelt. 1897, zum von ihm einberufenen Kongress der Zionisten, kamen hauptsächlich Vertreter des russischen Judentums, das unter den vom Zar begünstigten und von den Kosaken begangenen Pogromen enorm geblutet hatte. Diejenigen, die nicht nach Amerika auswandern wollten, sahen ihr Heil im Land der Väter, das Herzl ihnen versprach, dem Land, aus dem sie einst von den Römern vertrieben worden waren. Von den Juden der anderen europäischen Länder aber, obwohl auch sie seit fast zweitausend Jahren von der Rückkehr geträumt hatten, an jedem Pessachfest beteuert hatten Jerusalem, wenn ich deiner vergesse, verdorre meine Rechte, waren nur Wenige bereit, dem Aufruf Herzls zu folgen. In Wien waren es in erster Linie die Idealisten der Jugendbünde Haschomer Hatza’ir, Betar und Bne Akiwa, die alles stehen und liegen ließen und das gewohnte und bequeme Leben in der Weltstadt gegen das unbekannte und harte Dasein in der Wüste tauschten. Jugendlicher Eifer und Idealismus waren ihre Triebfedern. Aber mit der Zeit gesellten sich immer mehr zu ihnen, nicht nur junge Hitzköpfe. Es war der keineswegs besiegte Antisemitismus, der sie aus Österreich und anderen Ländern vertrieb. Entgegen den Erwartungen nahm er nicht ab, sondern ganz erheblich zu, wurde immer aggressiver und virulenter.
Aber noch war es nicht soweit, noch schrieb man das Jahr 1910, an dem die Welt der Wiener Juden noch in Ordnung schien, besonders nach dem Tod Dr. Karl Luegers.
Wenig mehr als vier Jahre nach der Geburt Max-David Friedländers brach der Krieg aus, den man später den Ersten Weltkrieg nennen sollte. Niemand ahnte bei seinem Ausbruch, dass er zwanzig Millionen Menschen das Leben kosten würde. Niemand hätte sich vorstellen können, dass er nach vier schrecklichen Jahren das Gesicht Europas von Grund auf verändern, seine Landkarte vollkommen umgestalten und seine Völker auf eine Art neu ordnen sollte, die zu Beginn des Krieges undenkbar war. Davon und vom Leid, das Völkerringen in bisher nie gekanntem Ausmass verursachte, war anfangs nichts zu spüren. Im Gegenteil, Wien, wie alle anderen Städte in den Reichen der Kaiser Franz Joseph und Wilhelm II, war von Begeisterung und Euphorie für die angebliche Strafaktion gegen die Auftraggeber des Mordes am österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand ergriffen. Bei einem Besuch in der österreichischen Provinzhauptstadt Sarajewo war er mitsamt seiner Gattin, der kommenden Kaiserin, einem Attentat serbischer Nationalisten zum Opfer gefallen. Wenige nur wussten, dass die Bestrafung Serbiens nur ein Vorwand Franz-Josephs und Wilhelms zum Einmarsch in Serbien und zur Niederschlagung des serbischen Nationalismus war. Ein absichtlich unannehmbar verfasstes Ultimatum Österreich-Ungarns zur Aufspürung und Anklage der Hintermänner hatte Serbien erwartungsgemäß abgelehnt, sodass Franz-Joseph, wie von langer Hand geplant, Serbien den Krieg erklärte.
Aufgrund teilweise geheimer Beistandsverpflichtungen kamen Russland, Frankreich und Großbritannien Serbien zu Hilfe und erklärten ihrerseits Österreich-Ungarn den Krieg, das von Deutschland unterstützt wurde. Damit war der Weltenbrand entfacht.
Als treue Untertanen ihrer Kaiser und stolze Bürger ihrer Staaten meldeten sich die Juden in Scharen zu den Waffen. Für viele war es die Gelegenheit, ihre Zugehörigkeit zum deutschen und deutsch-österreichischen Volk, auf der Gegenseite aber auch zum französischen, englischen und russischen unmissverständlich unter Beweis zu stellen und damit, so glaubten sie, dem Antisemitismus in ihren Ländern endlich die Basis zu entziehen.
In allen Teilen Deutschlands und Österreich-Ungarns, den Mittelmächten – ihnen sollten sich noch Bulgarien, die Türkei und Italien anschließen, Italien allerdings nur für kurze Zeit - sprachen die Juden Deutsch. Von Lüneburg und Königsberg an Nord- und Ostsee bis nach Montenegro an der südlichen Adria und vom Elsass im Westen bis nach Czernowitz im äußersten Osten fühlten sie sich als Deutsche, egal ob sie unter Ungarn, Tschechen, Slowaken, Polen, Italienern, Ruthenen, Slowenen, Bosniern, Dalmatinern, Galizianern, Bukowinern, Rumänen oder einer anderen der zweiunddreißig Nationen lebten, die Franz Joseph als ihr Oberhaupt anerkannten. Unter Wilhelm gab es sowieso nur Deutsche. Das behauptete er wenigstens.
Auch Arthur Friedländer gehörte zu denen, die sich freiwillig meldeten und mit absoluter Siegesgewissheit im Sommer 1914 einrückten. Wie alle war auch er davon überzeugt, noch vom dem Chanukkafest, für die christlichen Waffenbrüder war es das Weihnachtfest, wieder zu Hause zu sein. Mit den Serben und ihren Helfern würde man kurzen Prozess machen, hatte ihnen der Kaiser versichert und des Kaisers Wort kam dem Gottes gleich.
Doch der Krieg entwickelte sich ganz anders als geplant. Im Westen erstarrte die Front auf französischem und belgischen Boden. Für Geländegewinne von wenigen Hundert Metern, die kurz drauf wieder verloren gingen, wurden ganze Divisionen geopfert. Hunderttausende starben einen sinnlosen Tod. Im Osten leisteten die Russen speziell den schlecht ausgebildeten österreichischen Truppen erbitterten Widerstand, hielten ihren Vormarsch nicht nur auf, sondern gingen zum Gegenangriff über, entrissen ihnen gar die urösterreichische Stadt Czernowitz, das Wien des Ostens, wie sie genannt wurde.
Die deutschen und ungarischen Soldaten, die christlichen wie die jüdischen, die mohammedanischen nicht zu vergessen, standen fest zum Kaiser. Viele der slawischen, rumänischen, polnischen, ruthenischen und anderen aber sahen sich in einem Gewissenskonflikt, wollten nicht gegen ihre Brüder kämpfen, die auf russischer Seite unter Waffen standen. Nicht wenige desertierten oder weigerten sich, zu schießen, was die Heeresführung gewissentlich verschwieg, um weiterem Defaitismus keinen Vorschub zu leisten.
Else Friedländer in Wien, dem des Westens, erhielt Anfang November 1914, kaum vier Monate nach Kriegsbeginn, den Besuch eines Offiziers des Generalstabs in voller Montur. Er stellte sich als Hauptmann von Hoyersberg vor, erschien in Begleitung seines Adjutanten, bat um Einlass und meinte, er hätte eine wichtige Mitteilung, wäre eigens vom Stab mit dem Auftrag betraut worden, sie aufzusuchen und sie ihr persönlich zu überbringen. Sie solle sich keine Sorgen machten, ergänzte er noch vor dem Eintritt in die, im zweiten Stock eines Mietshauses in der Alserstrasse im 9. Bezirk gelegenen Wohnung, ihr Gatte sei am Leben und hätte ganz Außerordentliches geleistet. Auch deswegen wären er und Unterleutnant Andlinger hier, sein Adjutant. Mit ungutem Gefühl bat Elsa die beiden Offiziere herein. Dass Gefühl sollte sie nicht trügen. Nachdem die Herren sich gesetzt hatten, Else musste sich eingestehen, dass sie schneidig aussahen, genauso wie es sich für k. und k. Offiziere gehörte, und höflich am Cognac genippt hatten, den sie ihnen servierte, erklärte ihr Hauptmann von Hoyersberg, ihr Mann sei ein wahrer Held, wäre mit der Goldenen Tapferkeitsmedaille geehrt worden. Es handle sich um eine der höchsten militärischen Auszeichnungen, die die österreichisch-ungarische Armee an Nichtadelige zu vergeben hätte, erklärte er bedeutungsvoll. Nur ganz wenige Soldaten würden sie erhalten. Zudem sei er für die Führungsqualitäten, die er klar unter Beweis gestellt hätte, ohne Absolvierung der normalerweise dafür erforderlichen Schulen und Kurse zum Leutnant befördert worden. Zusätzlich zum lebenslangen Ehrensold für die Tapferkeitsmedaille in Gold hätte der Kaiser persönlich, nachdem er von der Heldentat ihres Mannes erfahren hatte, der Familie eine Kriegspension ausgesetzt, die sie aller materielleren Sorgen entledigen würde. Die ganze Kompanie, nein die ganze Armee sei stolz auf Leutnant Friedländer.
Else, die immer noch nicht wusste, wie es ihrem Mann ging, sich schon mehrmals vergeblich nach seinem Befinden erkundigt hatte, wurde immer nervöser. Hauptsache, er sei am Leben, hatte von Hoyersberg bisher nur auf ihre immer wiederkehrenden Fragen geantwortet. Sie solle sich ein ganz klein wenig gedulden, ihn zuerst von seiner Heldentat berichten lassen, hatte er stets wiederholt, was sie in einen Zwiespalt der Gefühle stürzte. Arthur war ein Held, also warum sagte ihr der Hauptmann nicht, wie es ihm ging? Irgendetwas Schlimmes musste ihm zugestoßen sein, befürchtete sie, sonst wäre er schon längst mit der Sprache herausgerückt. Und was sollte der Hinweis auf Kriegspension? Eine solche bekamen doch nur Schwerstversehrte oder die Hinterbliebenen von Gefallenen. Wenn er noch am Leben war, so kam nur die erste Möglichkeit in Betracht. Um Himmels willen, was nur war ihm nur zugestoßen?
Sie hörte kaum zu, was der Hauptmann ihr über seine Heldentat berichtete, wartete ungeduldig darauf, bis er endlich auf seinen Gesundheitszustand zu sprechen kam. Wie undeutliches Rauschen drang die Erzählung an ihr Ohr, dass ihr geliebter Arthur, der Vater ihres vierjährigen Sohnes, der friedlich und nichtsahnend im Kinderzimmer nebenan schlief, die ganze Kompanie vor dem sicher scheinenden Untergang gerettet, alle Mann vor dem Tod bewahrt hatte. Ohne Rücksicht aufs eigene Leben, so berichtete von Hoyersberg mit unverhohlener Bewunderung, sei er im Kugelhagel und im Geschützfeuer, durch das noch kein Mensch lebend gekommen wäre, mitten durchs Minenfeld über die Front zu den russischen Stellungen gerannt, hätte sich in den Bunker gestürzt, von dem aus seine Kameraden wie die Fliegen niedergemäht worden waren und hätte die beiden MG-Schützen mit dem Bajonett erledigt. Damit nicht genug, sei er danach brüllend und wild um sich schießend herausgekommen, was die anderen Russen in derartige Panik versetzte, dass sie unter Zurücklassung all ihrer Waffen geflohen wären. Er hätte ganz alleine einen ganzen Zug Russen besiegt, zudem nicht irgendeinen, nein, einen, der die Operationen der österreichisch-ungarischen Truppen an einer strategisch wichtigen Stelle, wo dürfe er aus Geheimhaltungsgründen nicht sagen, in Gefahr hätte bringen können. Ihr Mann, darauf könne sie mit Fug und Recht stolz sein, fügte er ein und hielt mehrere Sekunden lang mit seinem Bericht inne, um die Bedeutung seiner Worte hervorzuheben, hätte der Armee große Verluste erspart, den Kriegsverlauf dadurch vielleicht sogar entscheidend zu des Vaterlands Gunsten beeinflusst. Nicht viele Heldentaten in der k. und k. Armee wären mit seiner vergleichbar.
Der Hauptmann, ein schlaksiger, temperamentvoller Mittdreißiger mit schmalem, elegant geschnittenem Oberlittenbart und tadellos gescheiteltem, blauschwarz schimmernden Haar, war von seinem, mit leuchtenden Augen vorgetragenen und von heftigen Gesten begleiteten Bericht selbst derart begeistert, dass er ganz vergass, auf das zu sprechen zu kommen, was Else am meisten interessierte und worauf sie die ganze Zeit wartete, den Gesundheitszustand ihres Mannes. Er hielt in seinem Bericht nochmals inne und ließ seine Worte erneut wirken. Am meisten beeindruckte und faszinierte er damit jedoch sich selbst und seinen Adjutanten. Der hatte die ganze Zeit schweigend neben ihm gesessen und während der Erzählung seines Vorgesetzten immer nur zustimmend genickt.
Endlich wurde von Hoyersberg sich bewusst, dass er der Frau des Helden auch noch über die negative Seite der Tat berichten musste. Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich.
«Ja», räusperte er sich, «als alles schon vorüber war, als unsere Leute die von ihrem Mann eroberte Stellung schon besetzt hatten und mit dem Entschärfen der Minen beschäftigt waren, explodierte eine von ihnen ausgerechnet unter den Füßen ihres Mannes. Das Schicksal ist manchmal undankbar und skrupellos, nimmt keine Rücksicht auf das Große, was der von ihm hart Gestrafte noch kurz zuvor geleistet hat.
«Was ist mit ihm?» schrie Else in äußerster Angst und Verzweiflung, war am ganzen Leib ins Zittern gekommen, «sagen Sie mir es endlich!»
«Es fällt mir schwer», antwortete der Hauptmann leise, «es ihnen mitzuteilen. Ein Mann wie er, von dem wir in der ganzen Armee keinen Zweiten haben, hat beide Beine verloren, aber wie gesagt, er lebt, er lebt, er lebt! Das ist doch die Hauptsache, liebe Frau Friedländer. Danken wir Gott dafür, dem Ihren wie dem christlichen, der in Wahrheit doch ein und derselbe ist!»
Else wurde schwarz vor Augen. Sie begann zu hecheln, verfiel in einen Weinkrampf. Der Hauptmann versuchte sie zu trösten, fasste die völlig Verzweifelte vorsichtig an den Schultern.
«Sie sind die Ehefrau des größten Helden, den unser Land hat. Verzagen Sie nicht. Wie gesagt, er ist am Leben, wird bald zu Ihnen und Ihrem Sohn nach Hause zurückkehren. Den Krieg hat er hinter sich und eine glänzende Zukunft vor sich, auch ohne Beine. Wer würde nicht stolz auf ihn sein, ihm für seine Tat danken, wer ihm nicht eine Stellung geben, die seiner würdig ist? Unser Land hat viele Patrioten, die es sich leisten können und es auch tun werden, davon bin ich überzeugt!»
Er erging sich noch in langen Ausführungen über die jüdisch-christliche Waffenbrüderschaft. Nie hätte er gedacht, so meinte er, dass ein Jude zu einer solchen Tat, zum Beweis solchen Mutes und solcher Aufopferungsbereitschaft fähig wäre. Doch er sei eines Besseren belehrt worden, müsse das in aller Offenheit zugeben. Nach dem Krieg, der bald gewonnen wäre, wie er anfügte, wäre es für alle Zeiten aus mit dem leidigen Antisemitismus in Österreich-Ungarn, dafür würden er und seine Kameraden im Offizierschor schon sorgen, wenn es überhaupt noch nötig wäre. Schließlich hätte alle Welt gesehen, wozu Juden imstande wären, nicht nur ihr Mann. Auch andere hätten sich in der Armee hervorgetan, Hervorragendes geleistet, alles fürs Vaterland gegeben. Ob Jude oder Christ, das sei nun einerlei, der Herrgott und die Apostel seien schließlich auch Juden gewesen, das hätte so mancher vergessen.
Keine drei Wochen später kam Arthur nach Hause, besser gesagt, er wurde von einer Ordonnanz im Rollstuhl ins Haus gefahren und dann die Treppen hinauf bis zur Wohnungstür getragen. Ohne Beine, den Rumpf und die Arme abgemagert durch den Kriegsdienst und die Zeit im Lazarett, wog er nicht mehr viel. Es bereitete dem Soldaten keine Mühe, den dürr gewordenen Mann mit dem schmerzverzerrten Gesicht über die Schwelle zu hieven. Nichts mehr an ihm erinnerte an die Größe und Kraft, die er noch vor wenigen Monaten besessen und ausgestrahlt hatte. Die Uniformjacke schlotterte an seinem hageren Oberkörper, stand weit ab, hing an ihm herunter wie ein viel zu großer Mantel.
Else, die über sein Kommen benachrichtigt worden war und den ganzen Tag ruhelos in der Wohnung auf seine Ankunft gewartet hatte, nicht in der Lage gewesen war, in ihr Näh- und Schneideratelier zu gehen, das sich mit einem kleinen Schaufenster strassenseitig im Parterre des Hauses befand, um wie üblich Kunden zu bedienen und ihrer gewohnten Arbeit nachzugehen, fiel ihm schluchzend um den Hals. Sie hatte versucht, sich auf seinen Anblick vorzubereiten, sich vorzustellen, wie er jetzt wohl aussehen würde, doch was sie zu sehen bekam, übertraf ihre schlimmsten Befürchtungen. Der Schrecken stand ihr mit Großbuchstaben im Gesicht geschrieben. Es gelang ihr nicht, ihn vor Arthur zu verbergen. Obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, tapfer zu bleiben, ihm Stärke zu zeigen und Stärke zu vermitteln, ihm Mut für die Zukunft zu machen, schaffte sie es nicht, ihre Tränen vor ihm zu verbergen.
Aber es war nicht ihre Angst und Sorge um ihn, nicht das Entsetzen über seinen Zustand, den er in ihrem Gesicht sah, die ihn mit seinem Schicksal hadern ließen. Es waren die unablässigen Gedanken daran, dass er unwiderruflich und für alle Zeiten zum Krüppel geworden war, nicht mehr in seinem Beruf als Gartenbaumeister der Stadt würde arbeiten, nicht mehr mit den Senioren der Vienna würde Fußball spielen können, zu einem nutzlosen Mitglied der Gesellschaft geworden war, seiner eigenen Familie nur noch zur Last fallen und ein unnützer Mitesser sein würde, den man bemitleidete, ihm vielleicht sogar den baldigen Gnadentod wünschen würde, die ihn in die tiefsten Niederungen seiner Existenz drückten. Ihn, der noch vor wenigen Wochen so stark und zuversichtlich gewesen war. Von der Selbstsicherheit und Überlegenheit, die er ausgestrahlt hatte, mit der er alle Menschen in seinem Umfeld in den Bann gezogen, sie fasziniert hatte wie kein Zweiter, ihnen den Tag zum Fest gemacht hatte, war nichts, aber auch gar nichts geblieben.
Elses Küsse erwiderte er nur zögerlich, tätschelte geistesabwesend und ihn kaum ansehend den kleinen Maxi, der unbeholfen und verängstigt über den Anblick und die weltfremde und unbekannte Niedergeschlagenheit und Traurigkeit seines Vaters neben seiner Mutter stand. Zutiefst bedauerte er es, bei der Explosion der Mine nur die Beine und nicht das Leben verloren zu haben. Ein schnelles Ende wäre ihm tausendmal lieber gewesen als das lange Warten auf den Tod.
Fortan war nichts mehr wie früher. Nicht etwa, weil Arthur keine Beine mehr hatte, im Rollstuhl saß, nicht mehr arbeiten, Fußball spielen oder seiner Familie nützlich sein konnte, sondern weil der Unfall sein Wesen zur Gänze verändert hatte. Hatte er zuvor auch nach einem langen und anstrengenden Arbeitstag immer noch Zeit gefunden, mit seinem Sohn zu spielen, ihn auf dem Arm zu nehmen und ihm Märchen oder spontan erfundene Geschichten zu erzählen, die seinen Sohn an den Lippen des Vaters hingen ließen, war er Else ein aufmerksamer und liebender Ehegatte gewesen, der ihr zuhörte, all ihre Sorgen verstand, eine Lösung für jedes Problem und einen Ausweg aus jeder Sackgasse wusste, in der sie sich wähnte, hatte er seine Freunde und Sportkollegen mit seinem Witz, seinen Bonmots und seiner Lebenslust begeistert, ja regelrecht mitgerissen, so war all das und noch viel mehr, was ihn früher ausgezeichnet hatte, vollständig aus ihm gewichen. Nichts mehr war von seinem Charme, seinen geistreichen Bemerkungen, seiner ansteckenden Fröhlichkeit, seiner strotzenden Lebensfreude, seinen Ideen, seiner Zuversicht und seiner Anteilnahme an dem, was andere beschäftigte, geblieben. Er sprach kaum noch, saß von früh bis abends nur noch am Fenster, sah auf das hinaus, was draußen geschah, in der Welt, die nicht mehr die seine war, für die er sich nicht mehr interessierte, an der er nicht mehr teilhatte.
Die Reporter und Fotografen der Neuen Freien Presse und anderer Zeitungen und Zeitschriften, die ihn um Interviews regelrecht bestürmten, empfing er erst nach mehreren Absagen, nur um endlich Ruhe vor ihnen zu haben. In ihrer Anwesenheit, die ihm unangenehm und lästig war, war er mürrisch und wortkarg, beantwortete ihre Fragen knapp und widerwillig. Sie mussten ihn drängen, doch endlich etwas von dem zu erzählen, was er an der Front an Schrecklichem und Todbringenden erlebt hatte, was er fürs Vaterland geleistet hatte. Doch seine, von allem bewunderte und gerühmte Heldentat genau und in allen Einzelheiten zu beschreiben, dauernd zu wiederholen, was sie von ihm hören wollten, wie er jede Gefahr missachtend durchs Minenfeld gerannt war und die russische Stellung ganz allein genommen hatte, ein Mann gegen zehn, widerstrebte ihm zutiefst. Er berichtete nur das Nötigste, um die Quälgeister so rasch wie möglich loszuwerden, die mit ihren Fragen nicht aufhörten. Trotzdem waren die Blätter voll der Anerkennung und des Lobes für ihn und seine Tat. Sie berichteten ausführlich darüber, beschrieben ihn als einen der mutigsten Soldaten Österreich-Ungarns, wenn nicht gar den mutigsten von allen, der sich ungeachtet dessen einen bescheidenen Charakter bewahrt hätte, nicht mit seiner Tat prahlen würde, ein einfacher und anständiger deutsch-österreichischer Familienvater geblieben wäre. Nicht nur in Wien war er zu einer Berühmtheit geworden. Davon, dass er Jude war, stand für einmal nirgends etwas.
Sobald die Presseleute gegangen waren, starrte er wieder ins Leere, in die Leere, die ihn umgab, weil er alles aus seinem Kopf entfernt hatte, das sie hätte ausfüllen können. Das Unerträglichste für Else und Maxi aber war, dass er auch sie nicht mehr richtig wahrnahm, sich kaum noch mit ihnen beschäftigte, nicht mehr hörte, was sie ihm zu sagen hatten, ihnen nicht mehr antwortete, nicht mehr für sie da war, obwohl er ständig um sie herum war. Else drang nicht mehr zu ihm durch und für Maxi war er ein Fremder geworden, kam ihm wie ein störender, unbeweglicher Fels vor, um den er einen Bogen machen musste, wenn er in sein Zimmer zum Spielen oder Lernen wollte. Arthur sah keine Zukunft mehr, fand sein Dasein nutz- und sinnlos, wusste nicht, was er mit seinen Tagen anfangen sollte und war es leid, nichts als ein Störenfried zu sein, sich selbst und denen, die er einmal geliebt hatte, nur noch zur Last zu fallen. Seine Gedanken drehten sich im Kreis, verschwammen in seinem Hirn zu einem Brei, in dem er elendiglich versank. Der Krieg deckte die Probleme der Juden in Wien nur mit einem dünnen Mantel zu. Das irdische Dasein Arthur Friedländers aber hatte er zerstört. Auch wenn er ihn nicht getötet hatte, so war sein Leben zu Ende, noch bevor er den Offiziersrevolver nahm und sich am 10. März 1915 erschoss, auf den Tag genau fünf Jahre nach dem Tod Karl Luegers, den der Krieg aus den Köpfen der Wiener nur zeitweise verdrängt hatte.
Als Else am Nachmittag vom Schneiderladen in die Wohnung hinaufkam, um rasch das vergessene Ballkleid einer Kundin zu holen, das sie letzte Nacht noch erweitert hatte, weil seine Besitzerin, die im letzten Jahr stark zugenommen hatte, es schon heute Abend unbedingt tragen wollte, fand sie ihren Mann unbeweglich im Rollstuhl sitzen. Sie dachte, er würde schlafen, bis sie das eingetrocknete Blut an seinen Haaren entdeckte. Sie erschrak, rüttelte ihn, doch er rührte sich nicht mehr. Sie sah seinen weit geöffneten Augen, die erstarrten Pupillen, erblickte den Revolver, der neben ihm am Boden lag und schrie auf. Sie war davon überzeugt gewesen, dass Arthurs Traurigkeit und Abwesenheit nur eine, auf den Verlust seiner Beine zurückzuführende Depression wäre, die über kurz oder lang vorübergehen würde. Jetzt aber erkannte sie, dass es viel mehr als das gewesen war. Sie warf sich auf den Boden, hämmerte mit den Fäusten aufs Parkett, bis sie rot anschwollen und die Haut an den Fingerknöcheln aufriss. Sie fühlte die Schmerzen nicht, sah nichts mehr um sie herum, fiel in ein noch tieferes Loch als das, in dem Arthur in den letzten Tagen seines Lebens gewesen war. Einem Sturzbach gleich brachen die Tränen aus ihr heraus, strömten über ihre Wangen, salzten ihren Mund. Sie wollte laut schreien, aber nichts als heiseres Zittern der Stimmbänder und gurgelndes Röcheln der Luftröhre kamen aus ihrer Kehle. Sie hatte ihren über alles geliebten Mann, den Vater ihres Sohnes – wenigstens war er in diesem schrecklichen Moment bei einer Nachbarin und musste ihn nicht miterleben - endgültig verloren. Er war tot, für immer von ihr gegangen. Nichts konnte ihn mehr zu ihr zurückbringen. Doch nicht sein Tod war es, der ihre Seele verschüttete, sie so weit unter sich begrub, dass sie nie mehr Liebe für einen Mann empfinden konnte, es war das Ende der Hoffnung, das Aus für den innigsten Wunsch, den sie je gehegt hatte, den, der ihre Hoffnung bis zuletzt aufrecht erhalten und genährt hatte, die Hoffnung darauf, dass Arthur die Depression eines Tages überwinden und wieder ganz der Alte werden würde, der, der er vor dem Krieg gewesen war, auch ohne seine Beine, die ihr viel weniger wichtig als ihm gewesen waren. Es waren nicht seine Beine, auch kein anderer Körperteil von ihm, die sie geliebt hatte, er selbst war es gewesen, das, was ihn wirklich ausmachte, das, was liebende Menschen auch dann noch zusammenhält, wenn die Schönheit der Jugend vergangen und der Reiz des Körperlichen vergangen ist. Das hatte er nicht verstanden. Es war keineswegs verwunderlich, denn in den Zeiten des Krieges, den Franz Josef und Wilhelm entfesselt hatten, galten der Gesellschaft nur unversehrte Männer an der Front und im Heim als vollwertig.
Kaum waren die sieben ersten Tage der Trauer vorbei, in denen sie mit eingerissenen Kleidern neben den nächsten Angehörigen Arthurs, seinen Eltern und seinen beiden Schwestern auf einfachen niedrigen und ungepolsterten Schemeln Schiwe gesessen und die Kondolenzbesuche von Freunden und der Honoratioren der jüdischen Gemeinde empfangen hatte, ohne ihnen die Hand zu geben und mit ihnen über anderes als die heiligen Schriften zu reden, wie es die Religion des Einen Gottes für diese Zeit vorschreibt, die es im Leben jedes Menschen gibt, wie klug, mächtig oder reich er auch sein mag, stürzte sich Else in die Arbeit, um zu vergessen und den Schmerz des Verlustes nicht mehr zu spüren, aber auch um keine Trostworte mehr hören zu müssen, die ihre Pein nur vergrößerten, statt sie zu lindern.
Zwar war Wien Tausende von Kilometern weit weg vom Kampfgeschehen, es gab keine Kriegshandlungen in der Stadt, und doch war das Leben für die meisten seiner Bewohner in den Jahren des Weltkriegs fast noch schwerer als das der Soldaten an der Front. Die Zeit waren gekennzeichnet von Mangel an Brot und Kohle, von zehn Grad minus im Winter in ungeheizten Wohnungen, von astronomischen Preissteigerungen, weitverbreiteter Arbeitslosigkeit, Hunger, Armut und Krankheiten, Plünderungen, Raubüberfällen und Strassenschlachten mit der Polizei um einen Sack Zucker oder Mehl. Keine Hauptstadt einer Kriegspartei litt in dieser Zeit mehr als Wien. Nur Wenige mussten nicht darben. Zu ihnen gehörten Else Friedländer und ihr Sohn Max-David. Obwohl Else alles andere als eine Kriegsprofiteurin war, schaffte sie es dank der nicht unbeträchtlichen monatlichen Pension, die sie als Witwe eines Offiziers und Kriegshelden erhielt, dank unermüdlicher Arbeit in ihrem Schneideratelier, vor allem aber dank ihrer klugen Art, das Geld zu verwalten, weder Hunger leiden zu müssen, noch in Not zu geraten oder sich in einer ungeheizten Wohnung die Gliedmaßen abzufrieren.
Sie erkannte bald, dass sie mit Tauschgeschäften der galoppierenden Inflation der Landeswährung entgehen konnte, ließ sich ihre Arbeit mit Fleisch, Butter und Milch bezahlen und wechselte alle Kronen und Heller, sofort nachdem sie sie von Kunden oder der Militärbehörde bekommen hatte, auf der Bank gegen Schweizer Franken ein, die einzige ausländische Währung von steigendem Wert, die erhältlich war. Vor allem aber kaufte sie damit, als die Häuserpreise in Wien ins Bodenlose gefallen, ihre Schweizerfranken aber ins Unermessliche gegenüber der österreichischen Krone gestiegen waren, alles an Häusern, Wohnungen, Läden und sonstigen Immobilien zusammen, was ihr angeboten wurde und das war nicht gerade wenig. Um den Neid der Nachbarn zu vermeiden - Tüchtigkeit, Erfolg und Cleverness bieten immer Anlass dazu, besonders Antisemiten, wenn es sich bei den Tüchtigen um Juden handelt, gründete sie für jeden Kauf eine Aktiengesellschaft. Einzig der Notar, die Bank und die Steuerbehörden wussten, dass sie die alleinige Inhaberin der Aktien war.
Nach dem Ende des Krieges, als Österreich-Ungarn vom größten Kontinentalstaat Europas und einem der mächtigsten zu einem unbedeutenden Kleinstaat geworden war, der keinen Machtfaktor mehr darstellte, kleiner als etliche seiner vormaligen Provinzen, wurde die Lage für die Wiener und Wienerinnen, die nicht Elses goldenes Händchen besaßen, noch schlimmer. Die Inflation stieg in nie gekannte, bis dahin absolut unvorstellbar gewesene Höhen, frass alles auf, was die Menschen besaßen, die über keine Devisen verfügten. Es ging so weit, dass eine Semmel am Morgen eine Million, am Nachmittag aber zehn Millionen kostete. Die Notenpressen liefen auf Hochtouren, um den immer größer werdenden Bedarf an Geldscheinen decken zu können, die kaum ausgegeben, das Papier nicht mehr wert waren, auf das sie gedruckt waren. Die Leute warteten keine Sekunde, gaben die Scheine aus, sobald sie sie bekommen hatten, um überhaupt noch etwas dafür zu bekommen, hauptsächlich Esswaren und Heizmaterial. Sie fuhren sie in prall gefüllten Schubkarren zu den Läden und Märkten. Fielen Scheine herunter, so bückten sie sich nicht einmal, um sie zu suchen, ihnen nachzulaufen und aufzuheben. Der dadurch entstehende Zeitverlust kostete sie mehr als die heruntergefallenen oder herumfliegenden Scheine wert waren. Für zwanzig Deka Krakauer oder drei Paar Debrecziner mussten sie manchmal drei oder vier Fuhren mit dem Schubkarren unternehmen. Häuser aber waren um den Preis von ein paar Mittagessen an einem Stand am Naschmarkt zu bekommen. Im Unterscheid zu Krakauern oder Debreczinern konnte man Häuser aber nicht essen. Die Mägen der Kinder halbwegs voll zu bekommen, war wichtiger als Gebäude zu besitzen, deren Mieteinnahmen infolge der Inflation nicht einmal mehr die anfallenden Reparaturen und Renovationen deckten. Nur Else dachte anders.
Anfang 1925, als eine Währungsreform die Verhältnisse wieder ins Lot gebracht hatte, als der neu eingeführte Schilling die hyperinflationäre Krone abgelöst und so stabil wurde, dass man ihn bald als Alpendollar bezeichnete, nannte Else Friedländer mehr als hundert große Zinshäuser an allerbesten Lagen Wiens ihr eigen, dazu unzählige Läden aller Art im ersten, zweiten, dritten, vierten und neunten Bezirk und sogar mehrere Fabriken, eine Brauerei und ein ausgedehntes landwirtschaftliches Gut in Niederösterreich, auf dem sie neben vielem anderen Wein anbaute und Rennpferde züchtete, die zu besten in der Krieau gehörten, auch auf den Bahnen von Paris und London liefen und ihr Millionen an Siegprämien einbrachten. Die Betriebe, die sie übernommen hatte, ließ sie von den schuldlos bankrottgegangenen Vorbesitzern weiterführen. Sie dankten es dem großzügigen neuen Eigentümer, den sie nicht kannten und betrogen ihn nur selten.
Alle ihre Aktiengesellschaften hatte sie in einer Holding zusammengefasst, die von Hans-Ulrich Kohn, einem der Direktoren der Wiener Niederlassung der Bank Rothschild & Söhne für sie verwaltet wurde. Nur zu ihm und zu seiner Bank hatte sie Vertrauen. Ihr Instinkt trog sie auch hier nicht. Während die pikfeinen, vornehm gekleideten Direktoren anderer Bankinstitute ihre Kunden in aller Regel übervorteilten, wo und wie es nur ging, das Kapital und die Gewinne der von ihnen nach außen hin präsidierten Firmen, zu denen sie Null Komma Josef beigetragen hatten, wie die Wiener sagten, in die eigenen Taschen wirtschafteten und solange wie die Maden im Speck von ihnen lebten, bis sie auch ihr letztes Gramm Fett aufgezehrt hatten und die Firma Konkurs anmelden musste, befolgte Hans-Ulrich Kohn die strengen Prinzipen von Treu und Glauben der Rothschilds, die sie groß und zu den Bankiers von Fürsten, Kaisern und Königen ganz Europas und neuerdings sogar anderer Teile des Erdballs gemacht hatten.
Trotzdem stand Else weiterhin jeden Tag in ihrem bescheidenen Atelierladen in der Alserstrasse und arbeitete als einfache Schneiderin acht Stunden und mehr am Tag für ihre Kunden. Ein sinnloses Leben im Überfluss, das in der Hauptsache auf Vergnügungen, Ausschweifungen und Luxusreisen auf Überseedampfern, an den Genfersee oder nach St. Moritz ausgerichtet war, wie es Waffenfabrikanten und andere Industrielle führten, die vom Leiden der Soldaten und Zivilisten im Krieg profitiert, den Tod zu ihrem Geschäft gemacht hatten und sich dann keinen Deut um die Armut und die existentiellen Probleme eines Großteils des Volkes scherten, die in Zeiten allgemeiner Bitternis rauschende Feste in ihren Villen in Baden und Bad Vöslau feierten, ohne sich im Geringsten um ihre darbenden Mitmenschen zu scheren, war ihr zutiefst zuwider.
Elses Preise waren die niedrigsten des ganzen Bezirks, Schulden trieb sie nie ein und nähte und reparierte oft kostenlos, besonders für die, die sonst nichts mehr zum Anziehen hatten und Kleider für die Kleinen brauchten, um sie in die Schule schicken zu können. Keiner von ihnen ahnte, dass ihre Wohltäterin, die so modest und unprätentiös lebte und sich stets die Zeit nahm, sich ihre Sorgen und Nöte anzuhören, eine der reichsten Frauen des Landes war, wenn nicht gar die reichste von allen. Es fiel nur auf, dass jeweils kurz nachdem sie der netten Frau Friedländer, der Elsi, wie sie allgemein genannt wurde, ihr Leid geklagt hatten, Geld von einem Gönner, der à tout prix unbekannt bleiben wollte, auf ihr Konto überwiesen wurde, das sie vor Schmach, Hunger und Elend bewahrte. Keinem wäre es in den Sinn gekommen, bei dem anonymen Wohltäter könne es sich ausgerechnet um Elsi handeln, die kleine, billig gekleidete und stets ungeschminkte Schneiderin in der Alserstrasse, die sich selbst nie etwas gönnte. Auch mit anonymen Spenden an wohltätige Organisationen, die sich um Kriegswaisen und -witwen kümmerte, aber auch begabten jungen Menschen aus mittellosen Familien ein Studium an der Universität ermöglichte, geizte sie nicht.
Ihr Ein und Alles, die Sonne ihrer Tage und das Licht ihrer Nächte war Maxi, ihr Sohn, die Frucht ihrer Liebe zu Arthur, das Einzige, was ihr von ihm geblieben war. Je älter er wurde, desto mehr glich er ihm. Mit fünfzehn überragte er alle Mitschüler um mindestens einen Kopf, seine blauen Augen und schwarzen Haare waren die seines Vaters, sogar die Sprüche und den Charme hatte er von ihm geerbt, ohne je viel Kontakt mit ihm gehabt zu haben. Geld und Güter interessierten Else nicht, sie dienten ihr nur dazu, Maxi und sich selbst die Existenz zu sichern und die, die es am Nötigsten hatten, vor dem zu bewahren, was ihr Mann sich angetan hatte.
Max-David war ein guter Schüler im Gymnasium in der Stubenbastei, wie sein Vater von den Mädchen umschwärmt, aber auch bei den Freunden und den Mitspielern der Nachwuchsmannschaft von Austria Wien sehr beliebt, dem österreichischen Fußballmeister, dem er wie etliche seiner Mitschüler angehörte, vor allem die jüdischen. Mit ihrem legendären Kapitän und Trainer Hugo Meisl, dessen ungezügelte, südamerikanisch anmutenden Goooooooool-Schreie aus vollem Hals ihn später zum Star der österreichischen Fußballreporter machen sollten, aber auch mit abtrünnigen Spielern der Vienna und anderen jüdischen und nichtjüdischen Cracks hatten die Violetten, wie sie der Farbe ihrer Leibchen nach hießen, in ihrem Stadion in Ober St. Veit und auswärts Mannschaften besiegt, die zu den stärksten des Kontinents gehörten. Juventus Turin, der AC Torino, Etoile La Chaux de Fonds, MTK Budapest und nicht zuletzt Rapid Wien, der WAC - der Wiener Athletik-Club - und die selbst die Vienna hatten sich der Austria beugen und ihre Überlegenheit anerkennen müssen.
Else hielt ihren Reichtum auch und ganz besonders vor ihrem Sohn verborgen, um ihm eine Kindheit und Jugend mit allen Freuden und Enttäuschungen zu ermöglichen, ihm den Wert der Dinge schätzen zu lehren und ihn nicht in Bequemlichkeit, Überheblichkeit und sorgloses Nichtstun fallen zu lassen. Nur hin und wieder brachte sie es nicht übers Herz, ihm einiges von dem zu kaufen, auf das sie selbst in seinem Alter hatte verzichten müssen, weil ihre Eltern es sich nicht hatten leisten können. Doch stellte sie es immer so dar, als handle es sich um Präsente begüterter und besonders zufriedener Kunden oder um Gewinne von Preisausschreiben, Lotterien oder Wettbewerben, an denen sie angeblich teilgenommen hatte.
Seine erste Liebe erlebte Maxi, so nannten ihn alle, die ihn mochten, im Alter von siebzehn Jahren, was damals sehr früh dafür war. Es war die zu Hertha Kollek, der hübschen, hochaufgeschossenen Tochter eines Rechtsanwalts, der eine Kanzlei in der Herrengasse im ersten Bezirk unweit der Hofburg führte, aus der der Kaiser erst vor wenigen Jahren ausgezogen war, also an allerbester Lage. Aber nicht nur deswegen, sondern vor allem wegen seiner Scharfzüngigkeit, Eloquenz und Brillanz bei der Führung von Prozessen, von denen er die allermeisten gewann, konnte er sich über mangelnden Zustrom zahlungskräftiger Klienten nicht beklagen. Die Bibliothek in seinem Haus war größer als jede, die Maxi zuvor gesehen hatte. Doch nur wenige jüdische Bücher standen darin. Er wusste von seinem Judentum noch weniger als die Friedländers. Hertha, die zwei Monate älter als Maxi war, hatte sich schon seit langem in ihn verliebt, den schlaksigen, immer fröhlichen und gutgelaunten Burschen, der stets im Mittelpunkt aller stand, das Wort bei jeder Zusammenkunft führte, am Pausenhof, am Sportplatz, im Café oder in der Stadt, von dem alles, was er sagte, aus einem klugen und witzigen Buch zu stammen schien und der zu den Wenigen gehörte, die noch größer als sie waren. Sogar ihr Vater war von ihm beeindruckt und das wollte etwas heißen.
Hertha himmelte ihn förmlich an, doch hatte sie sich nie getraut, ihn anzusprechen oder es ihm gar zu sagen. Es schickte sich damals nicht für eine wohlerzogene Vertreterin des weiblichen Geschlechts, so etwas zu tun. Er selbst hatte es ebenfalls nicht getan, obwohl er ihren Vater kannte - er kam öfters ins den Laden seiner Mutter, um eine Hose oder eine Jacke reparieren zu lassen -, Hertha ihm aufgefallen war und er mehrmals Gelegenheit gehabt hätte, sie anzusprechen, bei Schulfeiern mit den Klassen des Mädchengymnasiums oder bei Geburtstagsfesten, zu denen sie beide eingeladen waren. Er merkte nicht, dass sie geradezu sehnsüchtig darauf wartete. Seinetwegen war sie sogar samstags zu Fußballspielen nach Hütteldorf oder Ober-St. Veit gefahren, wo er im Einsatz stand, ohne sich vorher in irgendeiner Weise für diesen Sport interessiert zu haben. Auch waren die Begegnungen im Stadtpark, in der Kärntnerstrasse oder in der Alserstrasse nicht so zufällig, wie Maxi annahm. Trotz seiner siebzehn Jahre und seiner körperlichen Reife war sein erotisches Verlangen noch nicht so weit gediehen wie das von Hertha. Während sie sich in Gedanken nach ihm verzehrte, nur an ihn dachte, wenn sie nachts im Bett lag und von verbotenen Dingen träumte, war sie für ihn nur eine von vielen hübschen Mädchen, die um ihn und seine Freunde herumschwirrten. Lieber trank er ein Krügel Bier mit den Freunden im Prater, als sich mit ihnen abzugeben.
Doch mit der Zeit gefiel ihm Hertha, auf die er aus einem ihm unbekannten Grund stets traf, immer besser. Besonders ihr verschämtes Lächeln, die Art, wie sie die Augen niederschlug, wenn sich ihre Blicke trafen, reizten ihn, ließen ihn sich stark fühlen und zogen ihn unwiderstehlich zu ihr hin. Sie gab ihm das Gefühl, ein richtiger Mann zu sein, was er in der Wirklichkeit der Strasse und der Kaffeehäuser noch längst nicht war. Dort galt er keineswegs als Erwachsener, sondern als unreifer Schüler und nicht ernst zu nehmender Fußballer einer Juniorenmannschaft.
Maxi und Hertha ahnten nicht, dass sie sich genauso verhielten wie es seinerzeit Maxis Eltern getan hatten, bevor sie zueinander gefunden hatten. Dass es in diesen Zeiten einen entscheidenden Unterschied zwischen ihrer sich anbahnenden Beziehung und der gab, die Maxis Eltern verbunden hatte, sollte sich jedoch bald zeigen.
Als Herthas scheue Annäherungsversuche keinen Erfolg zeitigten, beschloss sie, forscher vorzugehen. Das altbewährte Fahrrad musste her, würde ihr, so hoffte sie, den gewünschten Dienst leisten. Die tragische Geschichte des Bruders von Maxis Mutter kannte sie nicht, sonst hätte sie ein anderes Mittel für ihre Zwecke gewählt.
Auf dem Weg, den Maxi bei der Heimkehr aus dem Gymnasium nahm, wartete sie nach Schulschluss an einer Hausecke auf sein Kommen, tat dabei so, als sei sie weltversunken in ein Buch vertieft, das Fahrrad unverschlossen an die Mauer des Hauses gelehnt. Als sie seiner endlich gewahr wurde, wie so oft hatte er auch heute noch lange mit seinen Freunden vor der Schule geschwatzt, steckte sie das Buch ein, schwang sich aufs Rad und fuhr ihm genau vor die Füße. Sie mimte die Erschrockene, ließ sich fallen, einen Unfall vortäuschend, und schrie laut auf, als sie mit dem Knie aufs Trottoir aufschlug. Es blutete sogar. Geschickter hätte sie es nicht anstellen können. Maxi kniete sich sofort besorgt neben sie, entschuldigte sich für seine Unachtsamkeit und seine Ungeschicklichkeit, besah sich ihr verletztes Knie, das sie ihm mit hochgeschobenem Rock hinstreckte und fragte sie, ob sie aufstehen könne. Sie verzog den Mund und täuschte Schmerzen vor, tat so, als versuche sie vergeblich, das Bein zu strecken, meinte, es ginge unmöglich. Als Maxi auf die naheliegende Idee kam, Hilfe zu holen, hielt sie ihn jedoch davon ab, sagte, es wäre vielleicht doch besser, dass er ihr zuerst aufzuhelfen versuchte und reichte ihm die Hand. Er ergriff sie und zog sie auf. Wie unabsichtlich fiel sie ihm in die Arme.
Er spürte das Beben in ihrer Brust, roch den Duft ihrer Haut und sah den zärtlichen Blick in ihren Augen. Obwohl er oft Mädchen begegnet war, außer natürlich im Gymnasium, das zu jenen Zeiten strikt nach Geschlechtern getrennt war, ja er fast immer und überall außerhalb der Schule von Mädchen umgeben gewesen war, so war er doch nie einem von ihnen so nahe gewesen. Er empfand Zärtlichkeit für die junge Frau, die unversehens in seinen Armen lag, spürte ungestümes Verlangen nach ihr, hatte nur noch den Wunsch, sie an sich zu drücken, sie zu berühren, in seine Arme zu nehmen, zu küssen und vielleicht gar zu lieben, so wie er es auf verbotenen Bildern gesehen hatte, denn Genaueres wusste er darüber nicht. Das war damals so, auch noch bei Siebzehnjährigen. Ihr ging es gleich, sie fühlte und wünschte sich Dasselbe, doch keiner von beiden, weder sie noch er, trauten sich, es auszusprechen oder gar zu tun. Nicht einmal ihre kaum voneinander entfernten Lippen wagten sie aufeinanderzupressen, auch nicht mit geschlossenem Mund. Die Moral jener Tage hinderte sie daran, ihre Gefühle dem anderen zu schnell zu offenbaren oder gar das zu tun, nach dem sie sich in diesem Augenblick mehr als nach allem anderen sehnten.
Doch aller Moral zum Trotz dauerte es nicht lange, bis sie auf einem sonntäglichen Ausflug in den Wienerwald als Mann und Frau zueinanderfanden. Sie konnten einfach nicht länger warten, umarmten, küssten und lieben sich stundenlang, wollten nicht voneinander lassen, auch als es schon dunkelte und sie befürchten mussten, den Heimweg nicht mehr zu finden.
Für beide war es das erste Mal. Hertha, trotz all ihrer Liebe zu Max-David, den Kosenamen Maxi benutzte sie fast nie, bereitete die verbotene voreheliche Vereinigung anfänglich mehr Schmerzen als Vergnügen, doch das änderte sich rasch. Sobald sie die Lust entdeckt hatte und den Gipfel der Freuden, in den diese sie in kurzen Abständen zu heben vermochte, verlangte sie nach immer mehr. Er hatte schon mit der ersten geschlechtlichen Berührung den Plaisir d’amour entdeckt, die Lust der körperlichen Liebe, von der er in der französischen Literatur so viel gelesen hatte, ohne wirklich zu verstehen, was es eigentlich war. Heute hatte er es entdeckt, hatte am eigenen Leib erfahren, welch nie gekannten Gefühle die Sache ihm zu bereiten in der Lage war. Nichts war mit damit vergleichbar, keine andere Regung des Körpers, schon gar nicht die Sehnsucht nach der Frau, mit der er dieses Gefühl erlebt hatte. Nur das, der Plaisir d’amour interessierte ihn, nur das suchte er von da an. Es war die körperliche Liebe, die ihn reizte, nicht die wahre, die die Herzen und Seelen sich liebender Menschen verbindet. Er wurde geradezu süchtig nach dem Plaisir d’amour, suchte den Akt der Vereinigung sooft und wo es nur ging mit Hertha. Mit anderen Mädchen oder Frauen wagte er den Schritt noch nicht, obwohl er sich bildlich vorstellte, wie es wohl mit Rita, Eva, Karoline oder Erna wäre, während er mit Hertha zusammen war. Ihr blieb nicht verborgen, dass ihr Geliebter während des Aktes oft abwesend war, sich in einer anderen Welt befand, nicht in der ihren, wie sie es sich wünschte. Doch unerfahren wie sie war, schrieb sie es dem Wesen des Mannes zu, statt der Tatsache, dass seine Liebe zu ihr viel weniger stark als die ihre zu ihm war.
Instinktiv suchte sie, seine Liebe zu ihr zu vergrößern, sie richtig zu entfachen, ihre Flammen höher schlagen zu lassen als bisher, tat alles, was er von ihr verlangte, kam überallhin mit ihm mit, vergaß ihre eigenen Bedürfnisse, stand seiner Lust zur Verfügung, wo und wann er sie verspürte. Doch das, was sie bei ihm hervorrufen wollte, gelang ihr nur bei sich selbst. Ihr Verlangen nach ihm und ihre Liebe zu ihm stiegen noch weiter an. Das machte die Sache umso schlimmer. Hatte sie anfänglich nur seine Liebe gesucht, so wurde sie nun ebenso süchtig wie er nach dem Geschlechtsakt. Doch im Unterschied zu ihm reizte sie dieser nur mit Max-David. Für sie waren seelische und körperliche Liebe eins. Nie hätte sie mit einem anderen schlafen können. Es war selbstverständlich für sie, dass dies ihr ganzes Leben lang so sein würde. Keinen anderen sah sie auch nur aus der Ferne an, nach keinem anderen sehnte sie sich, keinen anderen wünschte sie sich, keinen anderen sah sie ihrer Phantasie, wenn sie zusammen waren.
Bei ihm verhielt es sich ganz anders. Gerade weil sie ihm dauernd nachlief, ihm jeden Wunsch von den Lippen ablas, noch bevor er ihn aussprechen konnte, und vor allem, weil er sie nicht wirklich liebte, nur nach dem Sex, wie man die Sache neuerdings nannte, mit ihr geradezu verrückt war, dabei aber ständig an andere dachte, die ihm im Kopf herumschwirrten, wurde er ihrer bald überdrüssig. Hertha nahm es wahr, wollte es sich aber nicht eingestehen, versuchte immer verzweifelter, ihn an sich zu binden, mit Geschenken, mit noch mehr Aufmerksamkeit und noch mehr Unterwürfigkeit, erreichte damit aber nur das Gegenteil von dem, was sie bezweckte.
Else, Max-Davids Mutter, hatte davon keine Ahnung, sah in Hertha schon ihre künftige Schwiegertochter. Eine bessere hätte sie sich nicht vorstellen können. Sie entsprach in jeder Hinsicht all dem, was sie sich für ihre Schwiegertochter wünschte, war intelligent, gebildet, ernsthaft und bescheiden, hatte Tam und Chejn, das, was eine gute jüdische Schwiegertochter vor allen anderen Eigenschaften am allermeisten auszeichnet. Sie würde ihrem Sohn ein Leben lang treu sein und ihm wunderbare Kinder schenken. Dessen war sich Else sicher, als ihr Sohn sie zum ersten Mal mit nach Hause gebracht hatte, schon vor etlichen Wochen, kaum waren sie zusammengekommen, und sie über die wichtigen Dinge eines jüdischen Ehepaars mit ihr gesprochen hatte. Nicht nur von der Größe her passte sie zu ihm. Die beiden waren das ideale Paar, davon war sie überzeugt. Dazu kam Hertha aus gutem Haus. Dr. Jakob Bernauer, ihr Vater, war ein hochangesehener Mann, ihre Mutter, Frieda Bernauer, leitete ein jüdisch-christliches Waisenhaus der Kinder gefallener Kriegsteilnehmer und stand der Kindergartenkommission der jüdischen Gemeinde vor. Hertha vereinte Judentum und Deutschtum in vorzüglicher Weise.
Nur eines störte Else an ihr, aber das würde sie schon ändern, dessen war sie gewiss, nämlich dass sie Maxi nie widersprach, still neben ihm saß, wenn er den größten Blödsinn erzählte, wie sie fand, ihn bewunderte und anhimmelte, als wäre er ein Halbgott. Sie würde ihrer Schwiegertochter schon beibringen, dass man einem Mann auch einmal die Stirn bieten musste, ihm nicht alles durchgehen lassen durfte, besonders Maxi nicht, dem schon in den Kopf gestiegen war, dass ihm alle Mädchen nachliefen. Aber zuerst einmal sollten die beiden heiraten, am besten gleich nach der Matura im nächsten Jahr. Alles andere würde sich finden. Die Kosten für sein Studium würde sie übernehmen, ebenso wie für die Verlobungsfeier, die Hochzeit, die Wohnung und die Ausstattung für die beiden, falls das für Herthas Eltern zu viel wäre. Auch die Höhe des Nadens, der Mitgift, die für die meisten Väter und Mütter gefragter jüdischer Bräutigame der ausschlaggebende Faktor für ihre Zustimmung zur Ehe war, war ihr vollkommen egal. Geld war für sie, wie schon erwähnt, nur dazu da, um die Existenz zu sichern. Dem Glück des Lebens war es weder dienlich noch förderlich, stand ihm gar im Weg. Um das zu erreichen, brauchte es Anderes, unendlich viel Wertvolleres, etwas, was man für Geld nicht kaufen konnte. Dazu gehörte auch und nicht zuletzt eine gute Frau. Die würde Hertha ihrem Sohn sein. Daran zweifelte sie nicht.
Doch mit der Zeit brachte Maxi Hertha immer seltener mit nach Hause. Als seine Mutter ihn nach dem Grund fragte, antwortete er lapidar, die Sache mit Hertha wäre nichts Ernstes, es gäbe noch tausend andere Mädchen auf der Welt. Else konnte es nicht glauben, hatte Hertha nicht nur längst in ihre Pläne, sondern auch in ihr Herz geschlossen. Sie versuchte alles, ihrem Sohn klarzumachen, dass er im Begriff war, einen großen Fehler zu begehen, dass er Hertha um Himmels willen nicht einer vorübergehenden Laune wegen aufgeben solle, dass er eine Frau wie sie so schnell nicht wiederfinden würde, dass die meisten anderen nur an kurzzeitigen Flirts und Liebeleien interessiert wären, nicht aber an einer ernsthaften Beziehung, dass Hertha die beste Mutter für seine Kinder werden würde.
Bei dieser Bemerkung lachte Maxi laut auf.
«Kinder», rief er, «was soll ich jetzt schon mit Kindern? Ich will zuerst das Leben genießen. Kinder kann ich auch noch in zwanzig Jahren bekommen!»
«Bist du dir darüber im Klaren, wie alt Deine Mutter ist?», warf Else ein. «Ich bin einundsechzig. Willst du mich erst mit über achtzig zur Großmutter machen, wenn ich überhaupt so alt werden sollte? Soll ich erst mit ein- oder zweiundachtzig meinen ersten Enkel auf dem Schoß wiegen?»
«Es gibt Wichtigeres als Enkelkinder, liebe Mutter», versuchte Maxi sie zu besänftigen. «Trete doch im Laden etwas kürzer, arbeite weniger und genieße endlich auch einmal dein Leben anstatt dauernd nur für andere da zu sein».
Else geriet in Rage über diese Antwort.
«Was glaubst du eigentlich», erwiderte sie, «was Leben bedeutet, was seinen Sinn ausmacht? Ich dachte, ich hätte es dich gelehrt, aber offenbar habe ich mich geirrt, konnte es dir nicht beibringen. du hast nichts verstanden, Maxi. Glaubst du wirklich, es sind die Vergnügungen, die glücklich machen? Was soll ich deiner Meinung nach genießen? Das Faulenzen und Nichtstun? Soll ich in der Sonne liegen, irgendwo am Strand in Italien oder in Kaffeehäusern herumlungern, Canasta spielen wie die unterbeschäftigten Frauen reicher Männer, die nur Langeweile kennen, ihre Zeit in Modegeschäften, bei Cocktail-Partys und auf allen möglichen Festen verbringen, die sich wie die Hühner gebärden, in kurzen Charleston-Röcken herumlaufen, jungen Männern nachrennen und ihre Ehemänner betrügen? Mein Leben ist ausgefüllt, ich genieße es von frühmorgens bis spätabends. Meine Arbeit und du, mein Sohn, ihr seid das, was mich glücklich macht. Nur eines wünsche ich mir noch: ein Enkelkind. Eine bessere Mutter als Hertha findest du für dein Kind nicht, das habe ich dir schon gesagt und das weißt du selbst! Eine treusorgende jüdische Ehefrau wird sie dir sein, am Freitag Challes für Schabbes backen, wunderbare Sederabende an Pessach ausrichten, Eure Kinder jüdisch erziehen. Wirf sie nicht weg. Du ahnst nicht, was du an ihr verlierst!»
Maxi rutschte auf seinem Stuhl herum. Er fühlte sich schlecht. Die Standpauke seiner Mutter hatte er wohl gehört, allein sie drang nicht in seine Seele. Er wollte alles andere als eine treusorgende Ehefrau und eine Mutter für seine Kinder, fühlte sich viel zu jung dafür. Er wollte das Leben in vollen Zügen auskosten, genau das tun, was seiner Mutter ein Gräuel war, am Strand in Italien liegen, sich in Kaffeehäusern und auf Cocktail-Partys vergnügen, Feste feiern, Charleston tanzen und vor allem das immer wieder aufs Neue erleben, was sie nicht ausgesprochen hatte, den Plaisir d’amour, die Lust der Liebe, nicht nur mit einer, nein mit möglichst vielen der Frauen, die ihm zu Füßen lagen. Doch er wollte auch seine Mutter nicht verletzen, antworte darum ausweichend:
«Du warst mir immer die beste Mutter, die es geben kann, hast dich für mich aufgeopfert. Das werde ich dir nie vergessen. Eines Tages wirst du deinen Enkel bekommen, das verspreche ich dir!»
«Warte nur nicht zu lange damit, Maxi, wer weiß, wie lange ich noch lebe», erwiderte sie und fügte nochmals an: «Und vergiss vor allem Hertha nicht. So eine Frau wie sie findest du nicht so schnell wieder».
Maxi aber tat genau das Gegenteil. Noch am selben Abend begleitete er die kleine blonde Rita, die er auf einer Klassenfete kennengelernt hatte, zu einem Tanzfest in den Prater und landete mit ihr im Gebüsch.
Am nächsten Tag sagte er Hertha, dass es aus sei zwischen ihnen. Eine Welt ging für sie unter. Sie wollte es nicht wahrhaben, versuchte ihn umzustimmen, klammerte sich weinend an ihn, erklärte ihm, dass er die Liebe ihres Lebens sei, beschwor ihn, bei ihr zu bleiben. Er aber riss sich von ihr los und ging ohne ein weiteres Wort. Sie blieb aufgelöst und verzweifelt zurück, dachte gar daran, sich etwas anzutun. Nichts ist schlimmer als der Kummer einer erwachenden Frau, die vom Mann, der sie erweckt hat, verlassen wird. Hertha brauchte lange, viele Monate, um über den Verlust auch nur einigermaßen hinwegzukommen. Ganz gelang es ihr nie. Ihr Schmerz wollte nicht vergehen.
Bei Rita blieb es nicht. Die Frauen wechselten sich bei Max-David ab, Jüdinnen und Nichtjüdinnen, es war ihm egal, Hauptsache, sie verschafften ihm den Plaisir d’amour. Nur daran war er interessiert, nur ihn suchte er.
So gingen die Jahre dahin, ohne dass Else zu ihrem Enkelkind gekommen wäre, ohne dass sich ihr sehnlichster Wunsch erfüllt hätte. Max-David schaffte trotz seiner amourösen Ablenkungen die Matura, leistete den Wehrdienst, begann das Studium für Ingenieurwissenschaften an der Technischen Universität Wien, schloss es erfolgreich ab und fand eine Anstellung als Qualitätskontrolleur bei der Wiener Niederlassung einer tschechischen Automobilfabrik, die zu den führenden Europas gehörten.
Man schrieb das Jahr 1933. Die Nazis spielten in Österreich zwar eine lautstarke, aber bescheidene Rolle, wurden nach mehreren blutigen Zwischenfällen gar verboten. Engelbert Dollfuß, ein Bewunderer Mussolinis, grub ihnen das Wasser ab. Kleinwüchsig, aber wortgewaltig, errichtete er als Kanzler in Wien einen Faschismus österreichischer Prägung, den italienischen immer im Auge behaltend. Sogar die Juden hatten darin ihren Platz, wenn auch hauptsächlich in den Kabaretts, im Theater, in den Arztpraxen und als Rechtsanwälte vor Gericht. Doch sie blieben mit wenigen Ausnahmen unbehelligt, ganz im Gegensatz zu dem, was sie in benachbarten Deutschland erleiden mussten, nachdem Adolf Hitler im März an die Macht gekommen war, das Parlament entmachtet hatte und eine Diktatur zu errichten begann, die die Juden immer mehr zu Parias stempelte, ihnen nach und nach aller Rechte beraubte. Viele wurden in neu errichtete Konzentrationslager deportiert, aus denen keiner zurückkam. Doch trotz allem zögerten die meisten auszuwandern. Nur wenige gingen in die USA oder nach Paris oder träumten von einem eigenen Staat und schifften sich nach Palästina ein. Zu sehr fühlten sie sich als Deutsche, zu sehr waren sie davon überzeugt, das neu auflodernde Feuer des Antisemitismus würde sehr bald erlöschen, es hätte den Nazis nur als Vehikel gedient, um die Macht zu übernehmen. Es würde alles nicht so schlimm werden, wie es sich anließ, dachten und sagten viele. Schließlich lebte man im Land der Dichter und Denker, einem Hort der Kultur und Humanität.
Die Olympischen Spiele von 1936 in Berlin schienen ihnen Recht zu geben. Die Aufschriften Nur für Arier verschwanden von den Parkbänken, die Judensterne und Parolen Kauft nicht bei Juden wurden von SS-Männern eigenhändig von den Schaufenstern jüdischer Geschäfte gekratzt, sie zeigten sich gar mit Juden auf den Terrassen der Berliner Kaffeehäuser. Der Stürmer, das berüchtigte Organ der Nazis, verzichtete auf Judenhetze, Juden wurde fast überall wieder der Zutritt gewährt, vor allem dann, wenn amerikanische oder englische Journalisten und Fotographen zugegen waren. Sie berichteten nach Hause, in Deutschland stünde alles zum Besten, die Erzählungen über staatlich verordnete Judenverfolgungen wären Schauermärchen von Feinden des modernen Deutschland. Else aber war eine der Wenigen, die sich nicht täuschen ließen.
Wieder, wie schon im Weltkrieg, hatte sie den richtigen Riecher, wie die Wiener sagten. Statt die groß angepriesenen österreichischen Staatsanleihen zu kaufen und darauf zu hoffen, dass Österreich seine Unabhängigkeit von Nazideutschland bewahren würde, dass sich auch in Deutschland die Situation normalisieren würde und die Juden nicht weiter drangsaliert würden, beauftragte sie ihren Bankier, es war immer noch derselbe, Hans Ulrich Kohn von Rothschild und Söhne, alles, was sich von ihren Anlagen und Besitztümern zu Geld machen ließ, zu verkaufen, wenn nötig mit Verlust, den Erlös in US-Dollar zu wechseln und auf ein Konto zu überweisen, das sie über die Wiener Niederlassung der Bank bei deren New Yorker Zweigstelle eröffnet hatte. Eine Wiederholung des New Yorker Börsenkrachs von 1929, der die viele der größten Vermögen, nicht nur in den USA, sondern auch in Österreich vernichtet hatte, der sie aber nur wenig getroffen hatte, schien ihr weniger wahrscheinlich, als die Katastrophe, die sie durch die Nazis auf Europa zukommen sah. Nicht viele Juden in Europa besaßen diese Weitsicht. Hätte Else vor Jahrtausenden im Land der Juden gelebt, dort, wo heute so wenige hinwollten, wäre sie mit größter Wahrscheinlichkeit Prophetin geworden, hätte drohendes Unheil gekündet wie einst Deborah und das Volk der Israeliten unter der Führung des Heerführers Barak vor der Vernichtung durch den Kanaaniterkönig Jabin und seinen Feldherrn Sisera errettet. Doch im zwanzigsten Jahrhundert nach der Geburt Jesus, des Rabbi Jehoschua bin Jossef aus Beth Lechem, besaßen ihre Nachfahren weder ein eigenes Land noch einen Heerführer oder Waffen, mit denen sie sich gegen ihre hochgerüsteten Feinde hätten verteidigen können, und auch keine Prophetin, denn Else war nichts als eine Schneiderin. Keiner schenkte ihr Glauben, wenn sie von dem sprach, was sie auf Wien und die Juden zukommen sah und ihre Nachbarn zum Gehen aufforderte, sie fast anflehte, es zu tun, solange sie es noch konnten.
Keine zwölf Monate später schloss sie zum Bedauern ihrer Freunde und Kunden das Schneideratelier in der Alserstrasse, nicht ohne alle Waren und das gesamte Inventar zu verschenken und ein großes Abschiedsfest zu veranstalten, zu dem der halbe Bezirk kam. Sie gab die Wohnung auf und entschied, mit Hans David nach Amerika zu übersiedeln. Er zögerte, seine gute Stellung aufzugeben, auf seine Freundinnen und Geliebten zu verzichten und mitzufahren, doch als er von den wahren finanziellen Verhältnissen seiner Mutter erfuhr, es war ihr unmöglich, sie noch länger vor ihm geheim zu halten, sah er die Reise nach Amerika als lockenden und lohnenden Aufbruch in ein neues Land an, in dem es, so wurde jedenfalls erzählt, keinen Antisemitismus gab, aber ebenso gute Stellungen und ebenso schöne Frauen wie in Wien. Das viele Geld der Mutter aber war das ausschlaggebende Argument. Es würde ihm ein sorgloses Leben ermöglichen mit allem, was für ihn dazugehörte, denn die Werte seiner Mutter waren nicht die seinen.
Am 14. Juni 1937, einem wolkenverhangenen Montag, standen sie am Wiener Westbahnhof, nahmen den Nachtzug nach Paris, natürlich ein Liegeabteil zweiter Klasse, denn Else liebte Luxus nicht, stiegen am Gare de Lyon nach Cherbourg um und standen am Abend des nächsten Tages auf der Queen Mary, die aus Southampton auf der gegenüberliegenden Seite des Kanals gekommen war, um zusätzliche Passagiere für die Atlantiküberquerung aufzunehmen. Sie waren bereit zur Reise in eine bessere Welt als die, die sie im Begriffe waren zu verlassen. Else war einundsiebzig Jahre alt, ihr einziger Sohn Max-David siebenundzwanzig.
Schon auf der Überfahrt erregte der schlanke und großgewachsene Wiener mit den stechend blauen Augen und dem entwaffnenden Lächeln die Aufmerksamkeit mitreisender Damen. Eine von ihnen, eine elegant gekleidete Frau um die fünfunddreißig mit hoch aufgestecktem Haar, drückte ihm beim Vorbeigehen auf dem Promenadendeck, ohne ihn anzusehen und ohne dass jemand es bemerkt hätte, einen zusammengefalteten Zettel in die Hand. Bevor der überraschte Max-David ihr eine Frage stellen konnte, war sie weitergegangen und begann in einiger Entfernung eine Unterhaltung mit einem nicht viel weniger hübschen Bordoffizier, sodass die Frage, die er ihr stellen wollte, vorerst unbeantwortet blieb. Doch nachdem er den Zettel entfaltet hatte und las, was sie darauf geschrieben hatte, wurde ihm klar, um was es ging. Auf dem Zettel stand nichts anderes als eine Kabinennummer und die Uhrzeit: 22h00.
Erwartungsvoll klopfte er um diese Zeit an die Kabinentür. Seine Erwartung wurde nicht enttäuscht, zumindest was das Körperliche betraf, um das es ja auch ihm in erster Linie ging. Sie öffnete ihm in einem kurzen, durchsichtigen Seiden-Negligé, zog ihn ohne ein Wort hinein und bereitete ihm ein geschlechtliches Abenteuer, wie sogar er es nie erlebt hatte. Nur von Tam und Chejn wie bei Hertha war bei ihr nichts zu spüren. Außer unablässigem Stöhnen zeigte sie ihm gegenüber nicht die geringste Gefühlswallung. Für einmal war nicht er der Dominante und nur aufs Äußerliche Bedachte. Paradoxerweise oder vielleicht war es gar nicht so paradox, löste eben das Gefühle in ihm für die Frau aus, mit der er schlief. Doch seine wiederholten Versuche, sie während des Aktes zu küssen, wehrte sie mit aller Bestimmtheit ab, drehte jeweils den Kopf mit fest geschlossenen Lippen weg. Zwar verspürte er Lust wie selten zuvor, doch empfand er auch ein seltsames, nie gekanntes Gefühl der Unbefriedigtheit, nicht der physischen, sondern der psychischen, das sich gegen die seelenlose Vereinigung sträubte. Er dachte nicht daran, dass er genau das Hertha angetan hatte.
Als er es sich gegen halb zwölf vollkommen ausgelaugt auf dem Bett bequem machen und sich ausruhen wollte, stieß sie ihn brüsk hinunter, befahl ihm in einem Ton, der keine Widerrede duldete, sich anzuziehen und so rasch wie möglich zu verschwinden. Sie fügte an, ihr Mann würde um Mitternacht vom Kartenspielen aus dem Kasino des Schiffes zurückkommen. Bis dahin müsse sie die Kabine in Ordnung bringen, damit er nichts merke. Er solle morgen um dieselbe Zeit wiederkommen, meinte sie zu Max-David, der schon in der Tür stand und schob ihm einen Geldschein in die Jackentasche. Ehe er es sich versah, schubste sie ihn hinaus und schloss die Tür hinter ihm, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
Nie im Leben hatte sich Max-David so schlecht gefühlt. Tiefer konnte er nicht sinken. Er war zur männlichen Hure geworden. Seine Person zählte nicht mehr, nur noch sein Geschlechtsorgan. Man konnte ihn für zwanzig Dollar kaufen, so viel hatte sie ihm gegeben, und dann bis zum nächsten Gebrauch achtlos in eine Ecke stellen, mit seinen Gefühlen spielen, als wären sie nichts wert. Er hämmerte an die Tür, um ihr seine Meinung zu sagen und vor allem, dass er keine Hure wäre, sich nicht benützen ließe, doch sie öffnete ihm nicht mehr. Erst als ein Steward vorbeikam und sich erkundigte, ob alles in Ordnung wäre, okay sei, wie er fragte, hörte er auf und ging. Den Zwanzig-Dollar-Schein, gegen tausend österreichische Schillinge, wollte er zerreissen und die Schnipsel vor ihre Kabinentür streuen, doch dann überlegte er es sich.
‘Warum eigentlich nicht’, schoss es ihm unvermittelt durch den Kopf, ‘wenn schon, dann soll das elende Weib richtig zahlen, nicht nur zwanzig Dollar!»
Am nächsten Tag stand er Punkt zweiundzwanzig Uhr erneut vor ihrer Tür. Wieder öffnete sie ihm wortlos im halboffenen Seiden-Negligé, zog ihn herein und wollte mit dem Sexspiel beginnen. Doch diesmal hielt er sie auf, meinte im Jargon, den er für den angemessenen hielt:
«Zuerst den Zaster, sonst gibt’s nichts!»
Sie schien nicht im Geringsten verwundert, holte ihr Portemonnaie aus der Handtasche und reichte ihm lächelnd zwanzig Dollar.
«Fünfzig», erwiderte er mit grimmigem Gesichtsausdruck.
Sie ließ sich immer noch nicht beirren oder von ihrem Vorhaben abbringen, sagte nur «von mir aus», holte weitere Scheine aus dem Portemonnaie und gab sie ihm ebenfalls. Nur zu lächeln hatte sie aufgehört.
Diesmal nahm er sie so hart, dass sie laut aufschrie, doch es schien sie nicht zu stören. Sie verlangte gar nach mehr, blieb auch in dieser Situation die Stärkere, die Befehlende.
«Schlag mich, so fest du kannst», forderte sie ihn auf.
Als er ausholte, hielt sie jedoch seine Hand zurück.
«Nicht ins Gesicht! Bist du verrückt? Mein Mann könnte die Striemen sehen und misstrauisch werden».
Max-David reizte und ekelte die Sache zugleich. Einerseits zeigte und gestattete ihm die unbekannte Frau, deren Namen er nicht einmal kannte, Dinge, die er nie zuvor gewagt hatte, anderseits war sie verheiratet, zu alt für ihn und missbrauchte ihn nach ihrem Gutdünken, meinte, für fünfzig Dollar alles kaufen, ihn wie Dreck behandeln zu können oder wie einen Hengst, der nur ihrer geschlechtlichen Befriedigung diente.
Als sie ihn um halb zwölf wieder rüde hinauskomplimentierte, schwor er sich, morgen, in der letzten Nacht der Überfahrt, auf keinen Fall wiederzukommen.
Doch er brach den Schwur und stand abermals vor ihrer Kabine. Diesmal erschien ein Mann. Kaum hatte er die Tür aufgerissen, baute er sich außer sich vor Rage im ärmellosen Unterhemd und kurzen Hosen vor Max-David auf, reckte den Brustkorb heraus und die Nase weit nach oben. Sein schwammiges Gesicht war tiefrot angelaufen. Er war um die fünfundfünfzig, breitschultrig, untersetzt und überaus beleibt, strotzte nur so vor Fettringen um den Bauch. Sie quollen förmlich aus dem Unterhemd heraus. Noch nie hatte Max-David so große und unförmige Männerbrüste gesehen. Er blickte von oben auf den kleinen Mann herab, sah Schweißperlen. Sie glänzten auf der Kopfhaut des Fettwanstes, die hellrosa zwischen schütterem blonden Haar durchschimmerten. Der Berserker, als etwas anders konnte man ihn nicht bezeichnen, hatte die Fäuste geballt, von denen Blut tropfte, während die Fingerknöchel weiß blinkten, öffnete die fest zusammengepressten Lippen, verzog sein Gesicht zu einer hässlichen Fratze und kreischte Max-David mit rotumrandeten Augen an, seine hohe Fistelstimme überschlug sich dabei fast, er solle sich zum Teufel scheren, ja nie wiederkommen, sonst würde er ihm alle Knochen brechen. Nur die Tatsache, dass Max-David ihn um einiges überragte, hinderte ihn daran, es gleich zu tun.
Offenbar war er der Ehemann der Frau und ihr auf die Schliche gekommen. Blutüberströmt und mit völlig aufgelösten Haaren kauerte sie wimmernd hinter ihm auf dem Bett, hielt sich Kopf und Bauch mit den Händen. Er musste wie wild auf sie eingedroschen und eingeboxt und sie an den Haaren durch die Kabine geschleift haben. Herausgerissene Strähnen lagen auf dem Boden herum.
Obwohl Max-David nichts als Abscheu für die Frau empfunden hatte, tat sie ihm jetzt doch leid. Ganz ohne Grund hatte sie das Abenteuer mit ihm nicht gesucht. Doch in jenen Zeiten war häusliche Gewalt, zumindest wenn sie nicht zum Tod oder zur Invalidität dessen führte, dem vom Ehepartner Gewalt angetan wurde, nicht strafbar. Dem Ehemann war es sogar gestattet, den Beischlaf mit seiner Ehefrau zu erzwingen. Er gehörte zu ihren ehelichen Pflichten. Verweigerte sie sie, so durfte er durchaus Gewalt anwenden, ebenso wie es ihm gestattet war, sie körperlich zu züchtigen, wenn sie unfolgsam war und sie nach Gutdünken bestrafen, wenn sie die schändlichste aller Untaten begangen hatte, Ehebruch, wie es hier der Fall war. Beging der Ehemann hingegen dieselbe Verfehlung, so galt sie als Kavaliersdelikt, das seine Frau zwar nicht gutzuheißen, aber doch hinzunehmen hatte. Scheidung kam für die meisten Frauen nicht in Betracht, war sie doch mit gesellschaftlicher Ächtung und in den allermeisten Fällen auch mit finanziellem Ruin und dem Verlust der Kinder verbunden.
Als Max-David besorgt zur arg Misshandelten hinsah, knallte ihm der Mann wütend die Tür vor der Nase zu. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als nachdenklich in seine Kabine zurückzugehen. Der Aufbruch in die neue Welt hatte ungut begonnen.
Am nächsten Morgen kam die Freiheitsstatue in Sicht. Alles drängte sich aufgeregt an die Reling, um sie zu bestaunen, ebenso wie die dichtgedrängten Wolkenkratzer der Halbinsel Manhattan, die sich der Länge nach vor ihnen hinzog. Der neben Max-David stehende Mann, ein bärtiger Grieche, der sich als Costas Sevrapoulos vorstellte, bezeichnete sie als das achte Weltwunder. Eines ragte wie ein zugespitzter Pfeil aus allen anderen heraus, das berühmte, erst vor wenigen Jahren fertiggestellte Empire State Building, das höchste, je von Menschen geschaffene Bauwerk, ganze zweihundert Fuß höher als der Eifelturm in Paris.
Kurz danach legte der große Dampfer in Ellis Island an, einer vor der Südspitze Manhattans im Hudson River zwischen Brooklyn und New Jersey gelegenen Insel. Sie war künstlich vergrößert worden, um die vielen Millionen Menschen abzufertigen, die seit Jahrzehnten aus allen Ländern der Erde ins sagenhafte neue Riesenland Amerika einwandern wollten, das allen Menschen Schutz vor ungerechtfertigter Verfolgung und grenzenlose Freiheiten und Möglichkeiten versprach. Es war das Tor, durch das auch all die mussten, die aus Europa flohen, vor den Nazis, den Sowjets oder wem auch immer.
Wie alle anderen Passagieren stellten sich Else und Max-David in langen Reihen in der Einwanderungshalle an. Als sie endlich vor dem Immigration Officer standen, einem muskulösen, uniformierten Weißen mit der US-Polizeikappe auf dem Kopf, die sie in Westernfilmen im Kino gesehen hatten, war ihnen doch etwas mulmig zumute. Der sechszackige Stern, der übergroß vorne in der Mitte der Kappe prangte, beängstigte und beruhigte sie zugleich. Wären die kleinen goldenen Kügelchen an den Enden der Zacken nicht gewesen, so hätte man ihn ohne Weiteres für den Stern Davids halten können, den Judenstern, wie ihn die Nazis in Deutschland nannten und ihren Opfern aufzwangen. Hier war er kein Stern der Schande, sondern das stolze Emblem eines mächtigen Staates, in dem kein Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden gemacht wurde.
«Jews from Vienna?» fragte er sie, während er ihre Pässe prüfte.
Er sprach das Wort Jew so unbefangen und natürlich aus, als wäre es ebenso normal wie Indian, Russian oder Italian. Dabei sah er ihnen geradewegs in die Augen, schien auf den Grund ihrer Seelen blicken zu wollen.
«Yes», versuchte Max-David ebenso unbefangen zu antworten. Es war eines der wenigen englischen Wörter, die er gelernt hatte.
Der Officer besah sich die Papiere, die Hans Ulrich Kohn ihnen in Wien in die Pässe gelegt hatte. Unter ihnen befand sich die Einladung einer New Yorker Familie namens Goldberg, die sie ebenso wenig kannten wie alles Übrige in der Stadt. Die Gesundheitszeugnisse hingegen interessierten ihn entgegen allen Erwartungen nicht. Er drückte einen ersten Stempel mit den rotblauen Stars and Stripes in ihre Pässe, sagte teilnahmslos, als hätte er nicht eben ein kleines Wunder getan, so kam es den beiden jedenfalls vor, «Okay, go the next desk», gab ihnen Pässe und Papiere zurück und wies sie zum nächsten Schalter.
Die erste Hürde war genommen, doch nun erwartete sie der Health Officer, der Beamte, der bestimmte, ob sie sofort ins Land durften oder - je nach Krankheit - für kürzere oder längere Zeit in Quarantäne mussten, bevor sie das Recht zur definitiven Einreise bekamen. Er begrüsste sie mit einem knappen Hello, besah sich nur kurz die Gesundheitszeugnisse und begann mit seinen Fragen und Untersuchungen. Ein Arzt im weißen Kittel, das Stethoskop um den Hals, stand neben ihm und den anderen Health Officers, die dasselbe mit allen anderen Ankömmlingen der Queen Mary machten. Hinter ihm befand sich ein mehrteiliger, aufklappbarer Paravent, hinter dem sich Passagiere mit verdächtigen Symptomen ganz oder teilweise ausziehen und einer eingehenden Untersuchung unterziehen mussten. Mit der Hilfe eines Wörterbuchs gelang es Max-David und Else, alle Fragen des Beamten zu dessen Zufriedenheit zu beantworten, sodass sie nicht über die berüchtigte Treppe mussten, um ihre Gesundheit unter Beweis zu stellen. Der zweite Officer sagte ebenfalls okay, was das meistverwendete Wort der Amerikaner zu sein schien, drückte ihnen auch seinen Stars and Stripes-Stempel in die Pässe und verwies sie zum letzten Schalter, über dem Customs und Currencies, also Zoll und Devisen stand.
Hier erst mussten die mitgebrachten Koffer geöffnet werden. In erster Linie interessierte den Beamten, es war eine Beamtin, ob sie Esswaren mitbrachten. Das war zum Schutz der einheimischen Landwirtschaft vor dem Einschleppen fremder Keime streng verboten. Auf dem Namensschild der streng dreinblickenden Kontrolleurin stand Ann Francis Greenberg. Eine Unsrige, durchfuhr es Else. Sie erkundigte sich auf Deutsch, woher ihre Eltern kämen. Die Beamtin antwortete kurz angebunden auf Englisch, das ginge sie nichts an. Offenbar hatte sie die auf Deutsch gestellte Frage verstanden. Else hingegen verstand die englischen Worte nicht, begriff aber auch so, vor allem aus dem abweisenden Gesichtsausdruck der Beamtin, den Sinn der Antwort. Was waren das für Juden in diesem Land, fragte sie sich. Zuletzt wollte die uniformierte und bewaffnete junge Frau - an ihren Gürtel hing deutlich sichtbar ein prall gefüllter Pistolenhalfter - wissen, ob sie zu verzollende Waren mitführten und das mitgebrachte Bargeld die Summe von zehntausend Dollar überstieg. Nachdem sie beides verneint hatten und die Zollbeamtin auch in den Koffern nichts Verdächtiges hatte finden können, drückte sie Else und Max-David den dritten und letzten Stars and Stripes-Stempel, jenen mit der Inschrift Customs cleared in die Pässe und wünschte Ihnen ‘Welcome to America’. Dabei hellte sich ihr Gesichtsausdruck merklich auf. Leise meinte sie zu Else, die ihre Großmutter hätte sein können:
« My parents come from Budapest, but keep it for you».
Bevor die überraschte Else etwas sagen konnte, war Ann Francis Greenberg schon mit den nächsten Einwanderern beschäftigt. Also waren die Juden in Amerika doch nicht so anders als die in Europa, dachte Else. Ihre Miene hellte sich merklich auf.
Else sah noch, wie die jüdische Beamtin die nächsten Ankömmlinge in scharfem Ton zurechtwies, als diese ihr Geld zustecken wollten. Sie kannte keine Gnade, ließ sich nicht bestechen und bevorzugte keinen, egal ob es sich um reiche Industrielle aus der Ersten Klasse der Queen Mary oder arme Schlucker aus der dritten Klasse handelte. Für sie und alle anderen Beamten in diesem Saal, wo über die Bewilligung oder Ablehnung der Einwanderung in die Vereinigten Staaten von Amerika entschieden wurde, was für so manchen die Entscheidung über Leben oder Tod bedeutete, waren alle gleich, ob Juden, Christen, Buddhisten oder Hottentotten. Kein noch so hohes Schmiergeld half italienischen Mafiosi oder deutschen Wirtschaftskriminellen ins Land, sofern ihre Taten bekannt waren und ihr Steckbrief aushing. Ohne Gnade wurden sie mit dem nächsten Schiff in die Verließe Mussolinis und Hitlers zurückgeschickt.
Irgendwann im Laufe des Tages fanden sich Else und Max-David mit ihren Koffern außerhalb des Gebäudes wieder. Sie waren in Amerika, atmeten die Luft der Freiheit und Gleichheit mehrmals tief in ihre Lungen ein. Niemand konnte sie mehr zurückschicken in das zerrissene Europa, wo Angst und Schrecken herrschten, Hitler, Mussolini, Franco und Stalin den ganzen Kontinent bedrohten.
Sie nahmen eine Fähre. Sie brachte sie auf die andere Seite von Manhattan, zum East River, der in Wirklichkeit kein Fluss, sondern ein Meeresarm ist, auf dem bisweilen orkanartige Stürme toben. Von dort ging es mit dem Taxi in Richtung Norden weiter. Unterwegs bestaunten sie die gewaltige Brooklyn Bridge, die bei ihrer Eröffnung 1883 die längste Hängebrücke der Welt gewesen war.
Sie hielten vor einem der Wolkenkratzer, in dem die ehrwürdige Bank Rothschild und Söhne ihren Sitz hatte. Ed Greenberg - den Namen hatten sie doch heute schon gelesen -, einer der Manager, empfing sie in einem kleinen Büro. Er hieß sie herzlich willkommen, bot ihnen Coke an. Er trug einen maßgeschneiderten dunkelblauen Anzug, eine graugrün gestreifte Clubkrawatte und auf Hochglanz polierte schwarze Lackschuhe. Ein Ziertuch in den Farben der Krawatte steckte in der Brusttasche seines Sakkos. Mit seinen kurzgeschnittenen blonden Haaren und dem braungebrannten Gesicht sah er gar nicht aus wie ein Jude, glich einem gojischen Minister oder Staatssekretär. Ohne zu fragen, schüttete er so viel Eis in ihre Gläser, dass sie ihn baten, den Großteil davon wieder herauszunehmen. Er entschuldigte sich, meinte, er sei schon lange nicht mehr in Old Europe gewesen, hätte nicht an die Gewohnheiten der Europäer gedacht. Sie sollten ihm das bitte nicht übelnehmen.
Nachdem sie die Formalitäten erledigt hatten, Max-David erschrak dabei fast über die Höhe des Kontostands seiner Mutter, fuhr er sie persönlich zur Wohnung, die die Bank auftragsgemäß für sie erstanden hatte. Sie war nicht weit entfernt, befand dich an bester Lage von Manhattan, auf der Ostseite des Central Parks, unweit des Broadways, des Metropolitan Museum of Art, das ihnen mit seinen mächtigen Säulen wie ein überdimensionaler griechischer Tempel vorkam, und der nicht viel weniger eindrücklichen Synagoge der jüdisch-liberalen Gemeinde. Greenberg beruhigte sie. Sie könnten unbesorgt sein, meinte er, am Shabbat, das Wort Schabbes verstand er nicht, mit dem Auto vorfahren und ohne Hut an ihr vorbeigehen. Die Frommen würden an anderen Orten beten. Max-David fand das vollkommen verrückt. In Wien wäre so etwas auch in den modernsten Gemeinden unmöglich gewesen. Sie waren wirklich in einer neuen Welt angekommen. Sogar die Juden schienen hier anders zu sein als in Europa, in Old Europe, wie der Bankier gesagt hatte.
Else hatte ausdrücklich eine bescheidene Wohnung gewünscht. Doch was sie zu sehen bekam, war alles andere als das. Schon beim Eintritt ins Haus waren sie von Marmor, Säulen und Skulpturen umgeben, nicht den billigsten. Mit seinen nur neun Stöcken glich es einer Villa im Jugendstil neben den hochaufschiessenden Wolkenkratzern, die im Norden und Süden zu sehen waren. Der Portier, ein schwarzer Hüne, der Jack Johnson ähnelte, dem legendären Boxweltmeister aus der Zeit vor dem Weltkrieg, öffnete ihnen. In seiner Phantasieuniform fehlte keine Farbe und kein Orden. Die Uniform eines italienischen Carabinieri-Generals wirkte neben ihr geradezu armselig. Als er die Neuankömmling in Begleitung von Mister Greenberg sah, den er offensichtlich kannte und für ebenso hochgestellt wie den Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten hielt, zog er Augenbrauen und Mundwinkel in die Höhe, fast bis zur Stirn, entblösste zwei Reihen strahlend weißer Pferdezähne und begrüsste die Ankömmlinge überschwänglich, aber auch mit der ihm angemessenen scheinenden Portion Respekt. Er lud die Koffer in den Lift, der so groß war, dass eine halbe Armee hineingepasst hätte und fuhr mit den neuen Wohnungseigentümern und ihrem Begleiter in den obersten Stock hinauf. Die goldenen Griffe und Schlösser an den Wohnungstüren waren unübersehbar. An machen gab es sogar drei und dazu noch Riegel und Türspione. Else schüttelte den Kopf und raunte Max-David leise zu, damit die beiden anderen es nicht hörten:
«Siehst du, was Luxus bringt: Nichts als Angst vor Einbrechern!»
Sie hätte ohne weiteres lauter sprechen können, denn der Bankier verstand nur Englisch und Jiddisch und der Portier nur Englisch und Spanisch.
Die Wohnung war ein Luxusappartement von olympischen Ausmaßen mit allem, was dazugehörte. Allein das ovale Entree war so groß wie ihre Vier-Zimmer-Wohnung in Wien gewesen war. In seiner Mitte sprudelte Wasser aus zwei römischen Springbrunnen. Die Wände waren ringsum mit großflächig verspiegelten Einbauschränken versehen. Die Spiegel reichten vom Boden bis zum Plafond in mehr als drei Metern Höhe. Else kam sich vor wie im Spiegelkabinett im Prater. Davor standen römische Ziersäulen aus rosa und weißem Marmor. Zwischen den Ziersäulen und den Einbauschränken konnte man spazieren gehen wie auf den Seitenstrassen der Prater Hauptallee. Auch der Boden bestand aus Marmor. Keine Fugen waren zu sehen. Max-David fragte sich, wie das möglich war. Sie konnten doch unmöglich eine so große Platte hier hinaufgeschafft und in einem Stück eingebaut haben. Er nahm, sich vor, sich bei Gelegenheit darüber zu erkundigen. Türen zwischen den Säulen führten zur Bibliothek, zum Arbeitszimmer, zum Musikzimmer, in dem ein schwarzer Schleiflack-Flügel der Marke Steinway stand, zur Küche, die einem Wiener Restaurant ähnelte, nur moderner war, zu zwei Bedienstetenzimmern, zum Salon, zum Ess-Saal und zu den sechs Schlaf- und Gästeräumen. Jedes der Gemächer verfügte über Vorzimmer, Badezimmer, Schlafsalon mit Himmelbett, Spiegelkommode, Schreibtisch und Barschrank sowie eine begehbaren Schrankraum. In jedem hätten Elses ganzer Wiener Schneiderladen und der halbe Nachbarladen Platz gefunden. Das Appartement war mit Möbeln und Kunstgegenständen eingerichtet, die jedem Museum zur Ehre gereicht hätten. Nur schon die Teppiche waren ein Vermögen wert, vom den Bildern, Skulpturen, Vasen und Uhren ganz zu schweigen. Else nahm an, dem Bankier ein viel zu hohes Budget für den Wohnungskauf eingeräumt zu haben. Aber woher hätte sie wissen sollen, welches das richtige gewesen wäre? Sie war nie zuvor in Amerika gewesen und New York war so weit von Wien entfernt wie der Mond und so anders als Wien, dass sie sich auf einem anderen Planeten wähnte.
«Was soll das?», ereiferte sie sich, «ich habe doch ausdrücklich eine kleine und einfache Wohnung gewünscht. Die ist viel zu groß und zu teuer für uns zwei!»
Greenberg liess sich nicht beirren. Er lächelte und blieb höflich, antwortete auf Englisch, versuchte dabei, seinen breiten amerikanischen Akzent zu unterdrücken. Wenn Else ein Wort nicht verstand, erklärte er es ihr auf Jiddisch.
«Madam», sagte er, «wir haben die Wohnung für ein Butterbrot aus einem Konkurs für Sie ersteigert und mussten dafür nicht einmal Ihr Kapital angreifen, konnten sie lediglich aus den Zinsen und Benefits bezahlen, die Sie mit Ihren Anlagen in weniger als sechs Monaten verdienen. Die gesamte Einrichtung war erst noch im Preis inbegriffen. Außerdem brauchen Sie eine anständige Bleibe in New York. Sie wissen nicht, wie es hier in billigen Häusern aussieht. Da herrschen Mord und Totschlag. Man kann New York nicht mit einer europäischen Stadt vergleichen. Hier gibt es mehr Gesindel als in Neapel, London und Marseille zusammen. Zudem ist die Wohnung eine hervorragende Kapitalanlage. Sie können Sie jederzeit zu einem viel höheren Preis verkaufen als der, den sie bezahlt haben. Wohnungen in gediegenen Häusern am Central Park gehören zu den gesuchtesten von ganz Manhattan, ja vielleicht sogar von ganz Amerika. In wenigen Jahren wird sie das Doppelte oder Dreifache des heutigen Wertes haben, darauf verwette ich meinen Hut!»
Jetzt war es Max-David, der lachte.
«Ich dachte, man braucht keinen, um an der Synagoge vorbeizugehen. Da können Sie ihn leicht verwetten.»
Ed Greenberg schmunzelte bei dieser Antwort. Er hatte einen Gleichgesinnten gefunden.
«Ich muss mich wohl in mein Schicksal fügen», meinte Else schließlich, «obwohl mir der ganze Luxus hier zuwider ist. Überfluss habe ich nie geschätzt und werde ihn auch nie schätzen. Zumindest der ganze Schnickschnack muss weg. Ich nehme an, dass es Arme in New York gibt, die lange vom dem Verkaufserlös der Gemälde, Statuen und Teppiche leben können, die mich selbst nichts gekostet haben und hier umsonst und nutzlos herumstehen. Das macht mich glücklicher, als in diesem ganzen nutzlosen Zeug zu schwelgen».
Der Bankier hatte solche Äußerungen noch nie von einer begüterten Klientin gehört. Doch, er musste sich korrigieren, einmal, vor Jahren war eine dieser verrückten Rothschilds, der die Bank gehörte, auf eine ähnliche, gar noch krassere Idee gekommen. Sie hatte all ihren Privatbesitz verkauft und verschenkt, auch ihre Aktien der Bank, und war nach Palästina in einen Kibbuz am See Genezareth gezogen, wo es hauptsächlich aus Russland zu Fuß ins Land gekommene Spinner und Idealisten gab, die von der Gründung des Staates Israel faselten und ohne jedes Eigentum und Geld auskamen. Wie er erst kürzlich erfahren hatte, würde sie vormittags im Kuhstall arbeiten, sich nachmittags um den Kindergarten kümmern und nachts, wenn die Männer mit Gewehren Wache standen, um marodierende Araber fernzuhalten, Klavierkonzerte im Gemeinschaftssaal geben, alles ohne einen einzigen Cent dafür zu bekommen. Es gab schon irre Leute auf dieser Welt, dachte er bei sich, sagte jedoch nichts, um Frau Friedländer nicht zu verärgern, die offenbar auch nichts von Luxus hielt. Es war ihm vollkommen unerklärlich.
Max-David war über das Vorhaben seiner Mutter wenig erfreut. Er hatte ganz andere Absichten.
«Nein, das machen wir bestimmt nicht», wandte er ein. «Irgendeinmal muss Schluss sein mit deinem Leben für andere, Mutter. Jetzt bist du an der Reihe, darfst du dir auch einmal etwas gönnen und die Früchte deiner Arbeit genießen.»
Zornesröte stieg ihr ins Gesicht.
«Habe ich dich so erzogen, mein Sohn?», ereiferte sie sich. «Weißt du immer noch nicht, dass Geld nur dann glücklich macht, wenn man anderen damit Gutes tut? Das habe ich dir siebenundzwanzig Jahre lang zu lehren versucht, offenbar vergeblich.»
Sie hielt inne, sammelte sich, wollte vor dem Bankier mit ihrem Sohn nicht streiten.
«Aber wir besprechen das ein andermal, alleine. Herr Greenberg hat sicher noch viel zu tun und wir müssen die Koffer auspacken und versuchen, uns in diesem Palast zu Hause zu fühlen. Mir wird das jedenfalls nicht leichtfallen.»
Das sollte auch zutreffen. Auf Anraten der Bank hatte Else ihrem Sohn Kontovollmacht erteilt. Sie schränkte sie aber kurz danach auf die Verfügungsgewalt über die Zinsen und Erträge ihrer Anlagen ein, nachdem er an einem Tag mehr ausgegeben hatte als sie in ihrem ganzen Leben. Es stand ihm jedoch immer noch mehr als genug Geld zur Verfügung, um sich keine Anstellung als Ingenieur suchen zu müssen - die er ohne Schwierigkeiten hätte finden können - oder sonst einer Arbeit nachzugehen. Er kostete das Luxusleben in New York und den ihm in den Schoß gefallenen Reichtum bis zur Neige aus. Seine Mutter aber ging nur aus dem Haus, um die Synagoge oder ein nahegelegenes Coffee Shop zu besuchen, sich mit den dort kennengelernten Frauen zu treffen, die wie sie Deutsch sprachen und wie sie selbst vor kurzer oder längerer Zeit aus Österreich oder Deutschland einwandert waren. Vor allem wollte sie Erkundigungen darüber einziehen, wie sie das verachtete, sündteure Inventar der neuen Wohnung am besten veräußern konnte, um den Erlös an die zu verteilen, die ihn mehr als sie benötigten. Doch ohne Kenntnisse der örtlichen Gegebenheiten und der englischen Sprache und ohne die Menschen wirklich zu kennen, auf die sie traf, ohne zu wissen, wer es ehrlich meinte und wer nicht, war das keineswegs so einfach wie sie es sich vorgestellt hatte. Jeder und jede, die von ihren ungewöhnlichen Absichten erfuhr, riet ihr zu etwas Anderem. Die meisten wollten so viel wie möglich für sich selbst abzwacken, vor allem die, die in keiner Weise darauf angewiesen waren, sondern selbst genug besaßen. Vordergründig bewunderten und lobten sie die alte Frau für ihr Vorhaben, hinter ihrem Rücken aber tuschelten sie, bezeichneten sie als Verrückte, der man das abnehmen sollte, was sie unbedingt loswerden wollte, um sie danach in ein Irrenhaus zu sperren.
So blieb die nächsten Wochen in der Wohnung alles wie es war, sehr zur Freude von Max-David. Er warf das Geld seiner Mutter mit beiden Händen zum Fenster hinaus, feierte ausschweifende Feste mit neugewonnene Freunden, die in Wirklichkeit keine waren, sondern nur von ihm zu profitieren suchten, und brachte fast täglich Frauen nach Hause. Das Konto war gefüllt genug und die Wohnung groß genug, dass seine Mutter kaum etwas von all dem mitbekam, besonders da sie sich in ihr Zimmer verkroch, die vielen anderen Räume kaum je betrat und abends früh zu Bett ging, während er erst spätnachts mit seiner neuesten Eroberung, nicht selten auch mit zwei oder drei leichten Mädchen ankam. Die Putzfrauen hatten anderntags alle Hände voll zu tun, um die riesige Wohnung auch nur halbwegs aufzuräumen und zu säubern.
Die Reise in die Freiheit nach Amerika wurde für Else immer mehr zu einer in die innere Einsamkeit und Leere. Sie lernte kaum Englisch, wurde von den wenigen Menschen, die sie noch traf, wenn sie sich aus dem Appartement wagte, was immer seltener geschah, als verschrobene Alte betrachteten. Hatte sie das Dasein in der bescheidenen Bleibe und im Schneideratelier in Wien ausgefüllt und befriedigt, so sah sie in New York keinen Sinn mehr im Leben, fand auch kaum noch Zugang zu ihrem Sohn, der sich mit jedem Tag, der nutzlos verging, immer weiter von ihr entfernte.
Man schrieb das Jahr 1941. In New York, wie an der ganzen Ostküste der USA, war es in diesem Herbst besonders sonnig. Leichtbekleidet und gutgelaunt flanierten die Menschen in ihrer Freizeit über die Meerespromenaden von Long Island, durch den Central Park in New York, in den Höhenwegen der Appalachen und über die Boulevards von Charleston, Atlantic City und Jacksonville, so als wäre immer noch Sommer. In Europa hingegen interessierte das Wetter niemand, ausser vielleicht einige deutsche Generale, die einen frühen Wintereinbruch in Russland fürchteten. Dort tobte der schrecklichste aller Kriege, ein noch viel grausamerer, mit tödlicheren Waffen ausgefochtener und noch mehr Opfer fordernder als der, der Else Arthur genommen hatte, die Liebe ihres Lebens. Immer noch war er in ihren Gedanken. Seit seinem Tod hatte sie keinen Mann auch nur angesehen, war mit keinem eine Verbindung eingegangen.
Schon zwei Jahre zuvor, im September 1939, hatte Deutschland Polen überfallen und das Land unter sich und der verbündeten Sowjetunion aufgeteilt. Wieder einmal hatte Polen zu existieren aufgehört. Im Frühsommer des letzten Jahres waren die Deutschen in Frankreich eingefallen, hatten auf ihrem Weg dorthin die die Benelux-Staaten überfallen, ohne sich um deren Neutralität zu scheren. In Siegerpose liess sich Hitler mit seinen Heerführern vor dem Eifelturm ablichten. Das Foto ging um die Welt, malte die schlimmsten Bilder an die Wand. Er liess extra den Eisenbahnwaggon aus dem Depot holen, in dem die deutsche Kapitulation am 11. November 1918 unterzeichnet worden war und erklärte das Dokument von damals am selben Ort, im Wald von Compiègne, für null und nicht nichtig. Viele befürchteten, er würde sich bald in London vor dem Denkmal von Admiral Nelson den Fotografen stellen und auch Großbritannien, den letzten verbliebenen Kriegsgegner Deutschlands, niederwerfen und seine Schreckensherrschaft über ganz Europa ausdehnen. Täglich flogen die deutschen Messerschmitts über den Kanal und griffen London an. England schien vor dem Fall zu stehen. Doch der neue Premierminister Winston Churchill rief seine Landsleute zum Widerstand bis zum Letzten auf, versprach ihnen dabei aber nichts als Blut, Schweiß und Tränen. Es war es die Ehrlichkeit und der Appell an die Selbstbehauptung, die die Briten durchhalten liesss. Chamberlains Appeasement-Politik, seine vielen Zugeständnisse an Hitler in der Hoffnung, ein Diktator würde sein Wort und seine Friedensbeteuerungen einhalten, waren gescheitert. Und doch wiederholen heute viele Politiker denselben Fehler, glauben den Versprechungen eines iranischen Ayatollahs, versuchen, ihn mit Geld und schönen Worten kaufen zu können und sehen nicht, wie viele Gräber sie schaufeln.
Wieviel Hitlers Wort wert war, musste jetzt Stalin, selbst ein massenmordender Despot, erfahren, denn nun hatte Hitler auch noch den Pakt mit ihm gebrochen und war in die Sowjetunion eingefallen. Im Radio kündigte er an, die Bolschewiken zu vernichten und Lebensraum für das deutsche Volk zu schaffen. Er bezeichnete es als ein höherwertiges als alle anderen, sprach von einer Herrenrasse und von Übermenschen. Slawen, Neger und Juden standen für ihn und seine Rassentheoretiker am ganz unten auf der menschlichen Werteskala. Die Juden insbesondere waren Untermenschen. Er verglich sie mit Ratten, die es nicht nur aus dem deutschen Volk zu entfernen, sondern gänzlich auszurotten galt. Offen sprach er von Ende der jüdischen Rasse in Europa.
Die Sowjetunion war auf den Angriff ihres Verbündeten nicht vorbereitet und nicht in der Lage, den deutschen Truppen nennenswerten Widerstand zu leisten. Auf einer Länge von mehr als 1.600 Kilometern stiessen sie tief nach Russland hinein, gelangten in Blitzfeldzügen im Norden bis nach Leningrad und im Süden bis ans Schwarze Meer. Der deutsche Vorstoss ging sogar noch weiter als der von Anfang 1918, als die nach dem Sturz des Zaren die an Macht gekommenen Kommunisten um Lenin und Trotzki den Krieg nicht hatten fortsetzen wollen. Hindenburg und Ludendorff konnte weite Gebiete Russland kampflos besetzen, ihre Truppen mit der Eisenbahn vorrücken lassen, was zum Frieden von Brest Litowks führte. Die am Ende siegreichen West-Alliierten hoben ihn noch im selben Jahr auf.
Damals hielten die Deutschen noch etwas von ritterlicher Kriegsführung, wenn auch Ludendorff bereits vor Hitler Lebensraum für das deutsche Volk forderte. Doch an der Zivilbevölkerung und den Juden, die zu Hunderttausenden in ihren Armeen kämpften, vergingen sie sich nicht.
1941 aber kamen unfassbare Meldungen aus Europa. Berichte kursierten über systematische Massaker der Deutschen in Osteuropa. Es hieß, sie würden überall die Juden zusammentreiben und erschießen oder sie in riesige, eigens für sie errichtete Konzentrationslager deportieren, ihnen den gesamten Besitz abnehmen, sie entrechten, unter unmenschlichen Bedingungen zu schwerster, unbezahlter Zwangsarbeit pressen, Hungers sterben lassen, sie gar vergasen oder verbrennen. Unzählige seien zu Tode gekommen. Die meisten in Amerika, auch die Politiker, konnten nicht glauben, dass ein das Volk von Goethe und Schiller derartige Verbrechen anrichten sollte, hielten die Berichte für Gerüchte. Niemand wusste, was wahr und was Propaganda war. Gesicherte Nachrichten gab es nicht. Wer konnte den Berichten aus Europa schon Glauben schenken? In der langen Menschheitsgeschichte hatten die grausamsten Eroberer nicht das begangen, was man den Deutschen anlastete, nicht die Wikinger, Hunnen und Mongolen auf ihren Raubzügen durch Europa, nicht die Spanier bei ihrem Goldraub und ihrer Zwangsmissionierung in Südamerika.
Die USA blieben offiziell weiterhin neutral, lieferten aber im großen Umfang Waffen an England für seinen Kampf ums Überleben und gegen die Barbarei der Nazis. Immer mehr Gräueltaten sickerten durch, immer unglaubhafter wurde es, dass es sich es nur Gerüchte handelte. Abscheu und Entsetzen riefen sie hervor. Trotzdem sprach die Mehrheit der Amerikaner sich in Meinungsumfragen gegen die Einmischung in den weit entfernten Krieg aus.
Else war fünfundsiebzig geworden. Ihr Leben in der viel zu großen Wohnung in New York war von Tristesse und Einsamkeit geprägt. Der Luxus, der sie gegen ihren Willen umgab, liess ihre Schuldgefühle nur noch anwachsen. Täglich machte sie sich Vorwürfe, dass sie ihren Plan, die nutzlosen Kunstgegenstände in der Wohnung zu verkaufen und den Erlös den Armen zu schenken, nicht hatte verwirklichen können. Ihren Sohn sah sie kaum noch und wenn, so wechselten sie nur wenige Worte miteinander. Die Musik aus dem Radio, die nicht die ihre war, die deutschsprachige Zeitung, in der Dinge standen, die sie nicht begriff, eine Nachbarin, die manchmal vorbeischaute, aber nie auf einen Kaffee blieb, waren die einzigen schwachen Lichtblicke in ihrem Alltag. Aus dem Haus war sie schon lange nicht mehr gekommen. Was sollte sie auch draußen? Sie verstand die Sprache der Menschen und das, was sie bewegte, kaum, lebte in einer anderen, längst vergangenen Zeit und war trotz ihrer physischen Präsenz in Amerika nicht angekommen. Ihren einzigen Traum, den nach einem Enkelkind, hatte sie ausgeträumt und doch wollte sie ihn nicht ganz aufgeben.
Ein allerletztes Mal wollte sie den Versuch unternehmen, ihr Leben und das ihres Sohnes in die Bahnen zurückzulenken, in denen es sich vor ihrer Abreise in die Neue Welt befunden hatte, auch wenn sie ahnte, dass diesem Versuch nicht viel Erfolg beschieden sein würde. Doch ohne ihn zu unternehmen, wollte sie ihr irdisches Dasein nicht beenden.
Sie nahm die wenige Kraft, die ihr verblieben war, zusammen und sagte zu Maxi, als sie an einem seltenen Morgen gemeinsam beim Frühstück saßen, sie würde sich freuen, wenn er am Freitagabend mit ihr noch einmal Schabbes feiern würde, so wie sie es früher in Wien immer getan hatten, zu zweit oder mit Freunden und Gästen, mit denen sie nach dem Essen bis weit in die Nacht hinein zusammengesessen waren, Smires gesungen hatten, fröhliche, gottgefällige Lieder, und über alles diskutiert hatten, was der Ewige geschaffen hatte und die Menschen zu zerstören suchten. Sie würde gemeinsam mit einer der Putzfrauen alles vorbereiten, erklärte sie Maxi. Es würde ihm sicher gefallen. Er solle allein kommen, bat sie ihn, damit sie endlich wieder einmal miteinander reden könnten, ungestört, bei einem einträchtigen Zusammensein und einem Schabbesessen, das sie an frühere Zeiten erinnerte. Maxi konnte seiner Mutter den Wunsch nicht abschlagen und sagte zu, verzichtete für einmal auf seine nächtlichen Vergnügungen.
Schon am Mittwoch begann sie mit den Vorbereitungen. Elvira, die bescheidene Puerto-Ricanerin, die sie in Herz geschlossen hatte, anders als die Brasilianerin Lydia, eine hochnäsige Blondine, die von ihrem Sohn eingestellt worden war, sandte sie auf den Markt und zu Sheiner’s Mechaje, den koscheren Feinkostladen, um alles zu besorgen, was sie brauchte. Sie gab ihr einen langen Einkaufszettel, den sie mit der Hilfe des Wörterbuchs verfasst hatte, damit sie ja nichts Falsches mitbrachte oder etwas vergaß.
Dann stand sie zwei Tage in der Küche und fühlte sich beim Kochen und Backen in die alten Wiener Zeiten zurückversetzt. Golden und glänzend erschienen sie ihr in der Erinnerung, obwohl sie alles andere gewesen waren. Am Freitagnachmittag deckte sie den Tisch, still und besinnlich, wie sie es früher in Wien jede Woche gemacht hatte. Als es eindunkelte, zündete sie die Schabbeskerzen, bedeckte ihre Augen mit den Händen und sprach das uralte Gebet. Die Königin Schabbat zog ins Haus ein und erfüllte es mit ihrem Glanz. Kein anderer gleicht ihm. Sogar das Licht der Sonne verblasst neben ihm.
Max-David kam nach Hause. Er strahlte über das, was er sah. Es ließ ihn auch in Wehmut verfallen, erinnerte ihn an seine Kindheit und Jugend, an die glückliche Zeit, in der er nichts besessen hatte als die Liebe seiner Mutter. Er küsste sie zum ersten Mal seit langem auf die Stirn, wünschte ihr von Herzen Gut Schabbes.
Gehackte Eier mit Zwiebeln standen auf dem Tisch, gefilte Fisch mit frisch geriebenem Kren, eine große Platte mit Scheiben gesulzten Karpfens, in deren Mitte sich die gefilten Fisch befanden, ein dampfender Topf Mazzeknödelsuppe, heißes Tscholent mit großen braunen Bohnen und weichgekochtem Rindfleisch, goldglänzender Gänsebraten, Entenleber, Kartoffelpuffer und Kreplach, Teigtaschen mit allen möglich Füllungen. Alle waren sie fleischig, denn Milch und Butter dürfen fromme Juden nicht mit Fleischspeisen mischen. Vor Max-David lagen die Challes, zwei herrlich duftende Brotzöpfe, bedeckt mit dem weißen Seidentuch, auf das die Löwen Judas und der Davidstern gestickt waren. Er setzte die Kippa auf, nahm die geöffnete Flasche koscheren Rotweins, die vor ihm stand, goss den Silberbecher bis oben voll, wie es üblich ist, erhob sich, schlug das Siddur auf, das kleine Gebetbuch mit dem silbernen Deckel und den leuchtenden Glassteinen darauf, das er zur Bar Mitzwe bekommen hatte, und sprach den Kiddusch, das freitagabendliche Dank- und Segensgebet für Brot und Wein und all die anderen Gaben, mit denen Gott sie so reichlich beschenkt hatte, auf dass sie sie zum Guten und nicht Schlechten verwendeten. Seine Mutter stand mit zitternden Beinen und pochendem Herzen neben ihm, nippte nach ihm am randvollen Schabbesbecher, den er ihr reichte, und aß das Stück Challe, das er für sie abgebrochen und in Salz getunkt hatte, wie es der Brauch war, damit auch sie am Segen Gottes teilhabe. Eine Träne rann ihr übers Gesicht.
Nach dem Essen, das ihnen mundete, wie schon lange keines mehr, sah Else ihren Sohn an und wartete eine Weile, bevor sie zu sprechen begann. Wie erwachsen war er geworden mit seinen zweiunddreißig Jahren und doch noch so unreif, lebte in den Tag hinein ohne wahres Ziel und ohne seinem Dasein Sinn zu geben, suchte Vergnügungen und häufte vergängliche materielle Güter an statt geistige, die allein beständig sind, brachte Mätressen nach Hause statt eine Familie zu gründen mit einer zniesdigen jüdischen Frau, einer, die Anstand und Tam hatte und ihm Kinder schenken, sie zu wertvollen Menschen erziehen würde, die nicht nur für sich selbst lebten, sondern andere mit den Gaben beschenkten, die Gott ihnen gegeben hatte. Nur das machte glücklich. Warum erkannte er das nicht?
Sie nahm seine Hand, blickte ihm in die Augen und sprach leise, damit er umso deutlicher hörte, was sie ihm zu sagen hatte und es in sein Herz drang:
«Mein lieber einziger Sohn», begann sie. «ich bin eine alte Frau und habe nicht mehr lange zu leben, das weißt du.»
Er protestierte.
«Unterbrich mich nicht, sondern hör’ zu, Maxi», sagte sie. «Es ist sehr wichtig, was ich dir sagen will. Du kennst den einzigen Wunsch, den ich noch habe, bevor meine Seele zum Ewigen wandert, ins Ojlem habo, die künftige Welt, wo die Menschen klüger sind als in dieser, sich nicht bekriegen und bekämpfen, nicht dem Geld nachrennen und einander nicht hassen und umbringen, sondern in Eintracht und Liebe miteinander leben, füreinander sorgen und geistige Güter anhäufen, nicht materielle.
«Ja Mutter», unterbrach er sie erneut, «ich weiß, dass du dir ein Enkelkind wünschst».
«Und warum erfüllst du mir dann den Wunsch nicht?», fragte sie.
«Ich würde es ja gerne tun, aber ich habe noch nicht die richtige Frau gefunden», antwortete er. «Lass mir Zeit. Sie wird mir früher oder später über den Weg laufen.»
«Ich habe die Zeit nicht mehr, mein Sohn, aber trotzdem habe ich beschlossen, sie dir zu lassen. Du musst deinen Weg selbst finden und wenn es erst nach meinem Tod sein sollte, dass du eine zniesidge Frau findest, so soll es mir in Gottes Namen auch recht sein.»
Max-David verstand den Sinn ihrer Rede nicht. Hatte sie ihre Meinung geändert und verzichtete plötzlich auf das Enkelkind, das sie sich immer gewünscht hatte?
«Heisst das, dass du keine Enkel mehr willst?», fragte er verwundert.
«Nein, im Gegenteil», erklärte sie. «Es heißt, dass ich dir bis zu deinem fünfzigsten Geburtstag Zeit gebe, zu heiraten und Kinder zu bekommen. Solltest du bis dahin nicht zur Vernunft gekommen und immer noch unverheiratet und kinderlos sein, so verlierst du dein gesamtes Erbe, bis auf den letzten Dollar. Auch die Wohnung und alle meine Bankanlagen, Firmenbeteiligungen und die sonstigen Dinge, die mir nichts, aber dir so viel bedeuten. In diesem Fall, ich hoffe beim Allmächtigen nicht, dass er eintritt, fällt mein Vermögen, alles, was ich besitze, an die Armen und Bedürftigen von New York, der Stadt, die uns aufgenommen hat, in der Materialismus und der Geiz mir aber auch zutiefst zuwider sind. Ich habe am Montag einen Termin bei einem Notar, um all meinen Besitz an eine Treuhandfirma zu übertragen und ein Testament aufzusetzen. Es wird verwahrt, bis du heiratest und dein erstes Kind geboren wird. Dann fällt alles an dich. Bis dahin kannst du in der Wohnung bleiben und bekommst weiter die Zinsen und Erträge meiner Anlagen und Beteiligungen. Das ist mehr als hundert Arbeiter im Jahr zusammen verdienen. Solltest du jedoch an deinem fünfzigsten Geburtstag immer noch unverheiratet und kinderlos sein, so erhältst du ab diesem Tag keinen Cent mehr und die Wohnung und alles Übrige fällt an die Organisationen und Armeneinrichtungen, die ich und der Notar bestimmen werden.
Max-David hatte Schlimmeres erwartet.
«Wenn es nur das ist, liebe Mutter», erwiderte er, «so kann ich dich beruhigen. Bis dahin verbleiben mir noch achtzehn Jahre. Das ist mehr als genug, um eine Mutter für meine künftigen Kinder zu finden.»
«Nimm die Sache nicht so leicht, Maxi», gab sie zu bedenken, «achtzehn Jahre sind schneller um, als du jetzt meinst, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Zögere nicht, wenn du der Richtigen begegnest, einer Frau, die die wahren Werte des Lebens schätzt und nicht Geld und Vergnügungen nachrennt.»
«Jaja Mutter», stimmte er zu, ohne aufgenommen zu haben, was sie ihm gesagt und wozu sie ihm geraten hatte, nicht zu ihrem Glück, sondern zu seinem.
Wenige Monate später starb Else. Der Arzt vermerkte als Todesursache Herzversagen. In Wirklichkeit hatte sie sie einfach nicht mehr leben, nicht mehr mitansehen wollen, wie ihre Welt unterging und ihr Sohn all das verriet, an das sie geglaubt und wofür sie gelebt hatte. Sie sehnte sich nur danach, mit ihrem geliebten Arthur an einem besseren Ort als diesem wiedervereint zu sein. Sie besaß die Gabe Weniger, zu atmen aufhören und friedlich in den Tod gehen zu können. Ein Lächeln auf den Lippen blieb ihr jedoch versagt.
Zum Begräbnis erschienen nicht viele Menschen, nur ihr Sohn, die Frau, mit der er seit ein paar Wochen zusammenlebte, ohne sie zu lieben, Ed Greenberg von Rothschild und Söhne, seine Nichte Ann Francis, die bei der Einwanderungsbehörde arbeitete und auch ein Auge auf Max-David geworfen hatte, die Nachbarin, die manchmal auf einen Schwatz vorbeigekommen war, ohne zum Kaffee zu bleiben, der Rabbiner der liberalen Gemeinde, der Chasan, der Vorbeter, und die Mitglieder der Chevre kedische, der Heiligen Gesellschaft, die sich um die Waschung und Kleidung der Toten gekümmert hatten. Max-David sprach das Kaddischgebet, der Chasan sang El male Rachamim – Gott voller Erbarmen - und der Rabbiner hielt eine Rede, in der er das Leben der außergewöhnlichen Frau würdigte, die keiner richtig gekannt hatte, wie er sagte. Dann wurde der einfache Holzsarg, in dem sie wie alle Juden, ob reich oder arm, bestattet wurde, in die Grube gelassen. Die Trauernden und die, die nur so taten, schütteten Erde auf ihn und legte Steine auf den Rand des Grabs. Anders als Blumen sind sie beständig, verblühen und vergehen nicht. Ein Essen gab nach es jüdischer Sitte nach dem Begräbnis nicht.
Der Grabstein wurde auf den Tag genau ein Jahr später errichtet. Darauf hatte ihr Sohn folgende Inschrift in deutscher Sprache meisseln lassen:
«Hier ruht meine Mutter Else Friedländer, geborene Levi, eine wahre Gerechte, auf dass Gott, der Richter in Ewigkeit, sie in Gnade aufnehme, und sie im Olam haba, in der glücklichen jenseitigen Welt, neben den Engeln und Seraphim sitze, um ihre Güte und Weisheit über die Welt leuchten zu lassen.»
Die Diskrepanz zwischen diesem Satz, Max-Davids Sehnsucht nach dem Glück seiner Kindheit und Jugend und der Art, wie er lebte, hätte größer nicht sein können. Die Abenteuer mit Frauen, die Ausfahrten und Feste, die Wochenenden auf Long Island und in den Kasinos und die Alkoholexzesse gingen weiter wie bisher. Eine Prügelei vor einem Restaurant endete in der Ausnüchterungszelle. Verschwendungssucht und Eitelkeit kennzeichneten sein Leben. Es hatte jeden Sinn verloren.
Am 7. Dezember 1941 fand es ein jähes Ende. Es war der Tag des japanischen Angriffs auf den US-Flottenstützpunkt Pearl Harbour im Pazifik. Wie ein riesiger Schwarm Giftwespen stürzten sich japanische Kampfflieger in aller Früh auf die amerikanischen Schiffe, die ungeschützt unter ihnen lagen. Sie stachen zu, bevor sie sich wehren konnten. Offiziere und Mannschaften schliefen noch oder genossen den sonnigen Morgen am Strand und am Golfplatz. Sie kamen viel zu spät. 19 US-Schlachtschiffe wurden zerstört und versenkt. 2.400 Menschen verloren ihr Leben. Den Japanern war die totale Überraschung gelungen.
Niemand hatte damit gerechnet, dass das Kaiserreich Japan die USA angreifen würde, noch dazu auf einer ihrer größten Flottenbasen, deren Anblick allein schon Respekt zu erheischen schien. Nur wenige Stunden zuvor hatte die japanische Führung sich verhandlungsbereit gezeigt, eine Noten ans State Departement gesandt, in der sie Friedensabsichten bekundete. Es war ein Täuschungsmanöver, sollte die Amerikaner in Sicherheit zu wiegen. In Wirklichkeit war der Angriff längst beschlossene Sache.
Am nächsten Tag bezeichnete der amerikanische Präsident Theodor Roosevelt den japanischen Angriff in einer Rede vor dem Kongress, die landesweit im Radio übertragen wurde und mit 81 Prozent die höchste je in den USA registrierte Einschaltquote verzeichnete, als a date which will live in infamy - ein Datum, das in Verruchtheit fortleben wird, und erklärte Japan den Krieg. Am 11. Dezember gab er auch Kriegserklärungen an Deutschland und Italien ab. Zu lange hatten deutsche U-Boote amerikanischen Geleitzüge im Atlantik angegriffen, zu viele Schiffe hatten sie versenkt, zu viele Menschen hatten sie getötet.
Eine Welle der Euphorie überrollte die USA, dieselbe, die im ab April 1917 Europa überflutet hatte. Sie spülte auch Max-David in den Kampf. Eben erst hatte er die amerikanische Staatsbürgerschaft erhalten. Wie Hunderttausende meldete er sich freiwillig. Auch diesmal, wie schon 1914 in Wien, fanden sich an der Sammelstelle in New York überdurchschnittlich viele Juden ein. Die Befreiung ihrer Glaubensgenossen vom Nazijoch war ihnen zusätzlicher Ansporn, wenn es eines solchen überhaupt noch bedurft hätte. Amerika, das Land der Freiheit, ihr Land, war in Gefahr, wurde von Mächten dunkler Gewalt bedroht. Das war Grund genug, zu den Waffen zu greifen.
Die Ausbildung, die er vor zwölf Jahren beim Wehrdienst in Österreich genossen hatte, kam Max-David nur in geringem Maße zugute. Die Waffen und die Ausrüstung in Amerika waren 1941 andere als sie es 1929 in Österreich gewesen waren, und der Drill und die Ausbildung bei den Marines, der Marine-Infanterie der US Army, waren ganz anderer Natur als sie es in der österreichischen Heimwehr, einer kleinen Landtruppe, gewesen waren. Es ging diesmal nicht um die staatliche Selbstbehauptung gegen ein Nachbarland, das von vielen als großen Bruder betrachtete wurde, sondern um die Abwehr einer Bedrohung durch die stärksten und bestgerüsteten Armeen der Welt, diejenigen Deutschlands und Japans. In ihren vorangegangenen Eroberungsfeldzügen in Asien und Europa hatten sie ihre Macht und ihren Zerstörungswillen deutlich unter Beweis gestellt.
Europa befand sich im Würgegriff Deutschlands und seiner Verbündeten. Vom Atlantik bis zur Ostsee und von der Arktis bis Nordafrika hatten sie fast alle Länder erobert und besetzt, wüteten wie nie zuvor. Nazideutschland war zum größten Staat des Kontinents geworden. Seine Armeen stiessen immer tiefer nach Russland hinein. Sie hatten Leningrad eingekesselt, bedrohten Moskau und näherten sich Stalingrad. Nichts konnte ihren Massakern an der Zivilbevölkerung, an Juden und Kriegsgefangenen Einhalt gebieten. Die Genfer Konvention und die Menschenrechte verhöhnten sie, Humanität war ihnen abhandengekommen. Rommels Afrikakorps und der Mufti von Jerusalem Mohammed Amin al-Husseini, der eine Moslem-SS befehligte, planten, die Heilige Stadt einzunehmen und die Juden auch in ihrem Stammland zu ermorden. Italien hatte Griechenland und große Teile des Balkans besetzt. Ungarn, Rumänien und Finnland standen zu Deutschland, ebenso Spanien und Portugal, auch wenn sie sich an den Kämpfen nicht beteiligten. Die Schweiz und Schweden waren neutral, dienten den Achsenmächten jedoch als Handelsplätze für Devisen, Gold und die geraubten Vermögen und Kunstschätze. Im Westen war es allein Großbritannien, das noch Widerstand leistete und im Osten störte nur der russische Winter den deutschen Vormarsch. Die Vorsehung hatte ihn in diesem Jahr besonders hart ausfallen lassen.
Japan hatte nach dem Sieg in Pearl Harbour die Gunst der Stunde genutzt und in Abwesenheit der amerikanischen Flotte ganz Südostasien besetzt. Hongkong, die Philippinen, Burma, Thailand, Laos, Vietnam, Indonesien, Malaysia, ganz niederländisch Indien und die meisten Inselgruppen im Pazifik wurden japanisch. Weite Teile Chinas waren schon seit längerem besetzt. In der Mandschurei und in Korea war der Marionettenstaat Mandschuko errichtet worden. Nie war das Kaiserreich Japan mächtiger gewesen, nie zuvor hatte es die eroberten Länder derart grausam unterjocht. Zehntausende koreanische Frauen wurden zur Prostitution gezwungen. Zwangsarbeit und Versklavung der unterworfenen Völker waren die Regel.
Von Deutschland und Japan war nun auch die USA bedroht. Sie befanden sich mit ihnen im Krieg, den sie lange zu vermeiden gesucht hatten. Zu lange, wie viele meinten, nicht nur Juden, Briten, Slawen und die noch lebenden Insassen der Konzentrationslager.
Määäx, wie er in der Army gerufen wurde, durchlief das harte Training der Marines. Nach ersten Sprüngen mit dem Fallschirm aus großer Höhe kam die Bewährungsprobe. Es galt, in einem Hagelsturm aus nur dreihundert Metern Höhe über einem Wald abzuspringen, in dem es nur eine Lichtung gab. Die Sicht war schlecht, der Wind böig. Max-David landete in einer Baumkrone, blieb hängen. Sein rechter Arm war in einer Astgabel eingeklemmt. Die Leinen des Fallschirms wickelten sich um Hals und Brust. Er rutschte ab. Immer mehr zogen sich die Leinen zu, drohten ihn zu ersticken. Die Lage war lebensbedrohlich. Er spürte den rechten Arm nicht mehr, wäre in den nächsten Minuten von den Leinen stranguliert, wenn keine Hilfe kam. Niemand war zu sehen. Die Kameraden waren zu weit weg, hörten ihn nicht, wie er auch schrie und röchelte. Er bekam keine Luft mehr. Der rechte Arm war taub. Die Situation schien aussichtslos. Schon begann sich alles um ihn herum zu drehen. Mit allerletzter Kraftaufbäumung schaffte er es, das am Gürtel befestigte Messer mit der freien Hand aus der Scheide zu ziehen, die Leinen zu kappen, mit den Beinen einen beiden Äste wegzubrechen, zwischen denen sein rechter Arm festsaß, ihn trotz fürchterlicher Schmerzen herauszuziehen und sich fallen zu lassen. Beim Sturz durch den Baum brach sich zwei Rippen. Die Rinde, an der entlangschrammte, riss sein Gesicht und seine Hände auf. Beim Aufschlagen am Boden verstauchte er sich den Fuss. Er schwoll an. Max-David blutete überall, bekam kaum noch Luft. Jeder Körperteil schmerzte ihn. Aber er war am Leben.
Der Ausbildner, ein Sergeant mittleren Alters mit Stoppelhaaren, war erst zur Stelle, als er am sich Boden krümmte. Per Funk rief er die Sanitäter herbei. Sie kamen mit einer Bahre angerannt, legten Max-David darauf und trugen ihn aus dem Wald. Der Sergeant schritt nebenher, klopfte ihm auf die Schulter und meinte zu ihm:
«Well done, soldier.»
Nur die kamen durch die Ausbildung und durften sich Marines nennen, die die gefürchteten Übungen schafften. Eine davon galt als eine Art Reifeprüfung für den Kampfeinsatz. Mit voller Ausrüstung, über dreißig Kilo, mussten sich die Soldaten in einem nur fünfzig Zentimeter hohen, aber über dreihundert Meter langen Gittergestell durch Schlamm, Wasser und Dickicht robben, Stacheldraht durchschneiden und Minen entschärfen, wurden dabei mit roter Platzmunition beschossen. Die Minen waren Attrappen, aber sie detonierten, wenn man unvorsichtig hantierte und erzeugten beim Hochgehen ein Explosionsgeräusch. Die sie nicht richtig entschärften, wussten, dass sie im Ernstfall getötet oder schwer verwundet worden wären. Wer mit weniger als fünf Treffern aus dem Gitterkäfig kam, mindestens drei von vier Minen entschärft hatte und nach dem Hinauskriechen noch laufen konnte, wurde gleich darauf vom Ausbildner über eine nochmals dreihundert Meter lange Leidensstrecke mit bis zu vier Meter hohen Hindernissen gehetzt. Mit der Stoppuhr in der Hand und der Trillerpfeife im Mund beobachtete er jeden, der über den Parcours rannte. Nichts entging seinen Argusaugen. Bemerkte er das kleinste Anzeichen von Erschöpfung oder Müdigkeit, so trat die Pfeife in Aktion. Das ständige Trillern der Pfeife, das Knallen der Schüsse und das Detonieren der Minen erzeugten einen Höllenlärm. Er war schrill und atonal, ein Teufelskonzert. Doch der Sergeant war trotz seiner Strenge und Unnachgiebigkeit kein Teufel, sondern ein Lebensretter. Er ließ nur die den Ausbildungskurs bestehen, denen er Überlebenschancen im Gelände und im Kampf Mann gegen Mann einräumte. Die anderen wurde ausgesondert und mussten die Marines verlassen. Sie kamen zu einer Truppe, bei der sie mehr Chancen hatten, am Leben zu bleiben.
Im Januar 1942, nach erfolgreicher Beendigung der Ausbildung, wurde Max-David mit seiner Einheit nach Amerikanisch-Samoa im Pazifik verschifft. Doch zum Kampfeinsatz kam es nicht. Das Flugzeug, eine abgespeckte, zum Truppentransporter umfunktionierte DC-3 mit Wellblechverkleidung und nur den nötigsten Instrumenten an Bord, das sie nach der Ankunft im Hafen von Pago Pago zu den Marshall-Inseln fliegen und mit Fallschirmen auf einem Zerstörer absetzen sollte, erlitt kurz nach dem Start einen Totalausfall beider Propellertriebwerke und stürzte ins Meer. Von dreißig Mann, die im Wasser noch atmeten, überlebten nur zwei.
Max-David plagten Bauchschmerzen. Er ahnte nicht, dass sie von inneren Verletzungen herrührten und sein Leben an einem dünnen Faden hing, der jederzeit reissen konnte. Er klammerte sich an eine Holzplanke, die nur einem Mann Platz zum Liegen auf ihr bot. Er hatte den Platz einem Kameraden überlassen, der völlig erschöpft war und unterzugehen drohte. Es war Jonathan Ryan, ein Buchhändler aus Queens. Nicht nur die beiden schlotterten vor Angst, als sie die Haie kommen sahen. Panik brach aus. Die Männer schrien, schwammen einzeln oder in Gruppen herum, wussten nicht, was zu tun war, wie oder wohin sie sich retten konnten. Die Haie waren sich ihrer Beute sicher, wussten, dass niemand ihnen entkommen konnte. Die Rückenflosse aus dem Wasser ragend, nur wenig Gischt aufwerfend, umrundeten sie die entsetzten Marines. Dann begann das große Fressen. Jeder nahm den nächstbesten Mann zwischen die dolchartigen Zähne. Blutrot färbte sich das Meer. Es begann zu schäumen. Einer nach dem anderen wurde unter Wasser gezogen, verschwand kreischend, mit hochgereckten Armen und weit aufgerissenen Augen im Maul des Hais, das nackte Grauen im Gesicht. Je mehr einer strampelte, je mehr er aufs Wasser schlug, je lauter er schrie und je wilder er um sich schoss, desto schneller war er an der Reihe. Die Kugeln trafen die Haie nicht einmal. Das Wasser bremste sie ab, nahm ihn die Wucht und die Durchschlagskraft. Sobald sie eintauchten, verloren sie ihre Energie und sanken wie kleine Steine langsam in die Tiefe. Immer größer wurde die Blutlache auf der Wasseroberfläche. Mit der Gewalt von Betonbrechern bissen die Tiere zu, zerhackten und zerstückelten die Menschen. Sie waren im Fressrausch. Es gab keine Rettung. Die Menschen im Wasser waren wie von Sinnen, erwarteten den Biss in der nächsten Sekunde und wollten es doch nicht wahrhaben. Max-David hatte alle Kraft verloren, war von der Planke geglitten. Jeder Augenblick konnte sein letzter sein. Er schwamm in einem Meer von Blut und abgetrennten Körperteilen, war wie gelähmt vor Todesangst. Doch das verhinderte, dass er wie die anderen mit den Beinen strampelte und die Haie auf ihn aufmerksam wurden. Einer aber kam näher, ein Riese von über fünf Metern. Max-David gelang es, die Pistole zu ziehen und ihm über Wasser in die Schnauze zu schießen. Er war einer der Einzige, der wusste, dass ihm die Kugeln unter Wasser nichts anhaben konnte. Der verletzte Fisch tauchte ab, wurde sofort von den anderen angefallen und in Stücke gerissen, was Max-David Luft verschaffte. Andere machte es ihm nach, schossen den Haien über Wasser ins Maul oder in den Leib, was ihre Lebenszeit aber nur wenig verlängerte, denn immer mehr der grauen Räuber erschienen und bedienten sich am reich gedeckten Menschentisch. Max-David erschoss noch zwei weitere Haie, dann war sein Magazin leer. Wehrlos war er den Bestien ausgeliefert. Etwas abseits bemerkte er die Planke, von der er geglitten war. Jonathan Ryan lag immer noch auf ihr, bewegte sich nicht mehr. Er hatte das Bewusstsein verloren, war aber einer der Letzten, die noch lebten. Max-David drehte sich auf den Rücken, versuchte Beine und Arme stillzuhalten und nur mit Händen rudernd zur Planke zu gelangen. Sollte ihn jetzt einer der Haie anfallen, wäre sein Kopf zuerst dran, aber er musste versuchen hinzugelangen und dabei so ruhig wie möglich zu bleiben, keine Wellen zu erzeugen, um Himmels willen nicht zu strampeln. Noch bevor er die Planke erreichte, hörte er den Motor des Rettungsbootes. Es kam direkt auf ihn zu. Ryan und er wurden an Bord gezogen. Noch im Boot verlor Max-David das Bewusstsein.
Erst drei Monate später erwachte er aus dem künstlichen Koma, in das er nach mehreren komplizierten Operationen in verschiedenen Spitälern und Spezialkliniken versetzt worden war.
Er hätte zwei Mal unwahrscheinliches Glück gehabt, erklärte ihm, kurz nachdem er erwacht war, einer der Ärzte im Militärhospital der großen Navy- und Air Force-Basis am Mississippi unweit des Golfs von Mexiko. Dorthin war er aus Pago Pago zur letzten Operation gebracht worden. Sein erstes Glück wäre gewesen, führte der Arzt aus, nicht von einem Hai gefressen worden. Die Chancen dafür hätten bei höchstens eins zu hundert gelegen. Er verdanke es wahrscheinlich der Tatsache, dass er keine blutenden Wunden gehabt hätte. Haie riechen Blut im Wasser auf riesige Entfernungen und suchen sich ihre Mahlzeiten danach aus. Sie sind nicht so grausam, wie man glaubt, erklärte er Max-David, ersparen verletzten Tieren damit einen langsamen und qualvollen Tod, lassen die gesunden unbehelligt. Das zweite, noch viel größere Glück hätte das medizinische Wunder dargestellt, dass er an den inneren Blutungen im Meer nicht gestorben sei und die operativen Eingriffe im Gehirn am offenen Schädel besser verlaufen seien, als es seine Kollegen erwartet hätten. Sie hatten ihn schon aufgegeben, aber er hätte außerordentlichen Überlebenswillen gezeigt. Irgendetwas Wichtiges müsse er im Leben noch vorhaben, meinte er scherzend. Damit hatte er nicht so Unrecht, wie er annahm.
Nach seiner Entlassung aus dem Hospital wurde Max-David eine Tapferkeitsmedaille verliehen, nicht irgendeine, das Navy Cross. Er fand, dass er sie nicht verdient hatte. Ja, er hatte Joe Ryan auf die Planke geholfen, sich selbst dann nur noch an sie klammern können, hatte irgendwann den Halt verloren und war von ihr hinuntergeglitten. Mit den Beinen im Wasser bot er den Haien ein lockendes Ziel, wäre oben auf der Planke liegend sicherer vor ihnen gewesen. Aber war das etwas Besonderes? War es nicht selbstverständlich, einem erschöpften Kameraden hinaufzuhelfen, der sonst untergegangen und ertrunken wäre, während er sich noch halten konnte? Der Major, der ihm die Auszeichnung vor versammelter Mannschaft ansteckte, sprach von außergewöhnlichem Mut und von Hilfsbereitschaft ohne Rücksicht auf das eigene Leben, davon, dass er einem Kameraden in den haiverseuchten Fluten das Leben gerettet hätte, ohne an sich zu denken. Er hätte das des Kameraden über seines gestellt, erklärte er, sei ein Vorbild für alle. Erst jetzt, als er darüber nachdachte, kam Max-David zu Bewusstsein, wie riskant sein Handeln gewesen war. Gedankenversunken stand er neben dem Offizier, nahm die in Reih und Glied angetretenen Marines nur verschwommen war, versuchte darüber nachzusinnen, was er damals im Wasser getan hatte und was ihn dazu getrieben hatte. Plötzlich erschien ihm die Sache nicht mehr so selbstverständlich. Warum war er nicht selbst auf das rettende Holzstück geklettert, das nur einem Menschen Platz bot? Warum hatte er einem anderen hinaufgeholfen? Er wusste es nicht. Es hatte für ihn in diesem Moment einfach keine andere Möglichkeit gegeben. Joe hatte seine Hilfe benötigt und er hatte sie ihm gegeben, ohne darüber nachzudenken, auch nur eine Sekunde zu zögern. Das war alles. Im Nachhinein kam es ihm total verrückt vor. Damals aber, im blutdurchtränkten Meer, in dem die Haie seine Kameraden wie ihnen vor die Mäuler gestreutes Fischfutter frassen, ging ihm nichts anderes durch den Kopf, als einem Kameraden zu helfen. Der Gedanke an sein eigenes Leben war ihm überhaupt nicht gekommen. Wahrer Mut zeigt sich in der Not, sagte der Offizier am Schluss der Zeremonie. Die Kapelle fiel zu spielen an, die Marines scharten sich um ihn, klopften ihm auf die Schultern. Keiner von ihnen ahnte, dass Max-David nicht anders gehandelt hatte als sein Vater vor achtundzwanzig Jahren an der österreichisch-russischen Front, bevor ihm beide Beine abgerissen wurden. Auch Max-David wusste es nicht.
Zum First Lieutenant avanciert, zierte die Medaille seine Parade-Uniform. Stolz trug er sie, die dunkelblaue Jacke mit den weißen Epauletten, den goldenen Knöpfen und dem breiten weißen Ledergürtel und die hellblaue Hose mit den roten Streifen, die Längsfalte messerscharf gebügelt. Wie ein Magnet zog sie das weibliche Geschlecht an, wenn es Gelegenheit zum abendlichen Ausgang gab.
Im Lauf des Krieges gesellten sich noch weitere vier Auszeichnungen zur ersten auf die Uniform. Einer wurde ihm nach der Eroberung der Insel Guam im Sommer 1944 verliehen, die Tausenden das Leben kostete. Drei behielten es dank ihrem Zugführer Max-David Friedländer. Der Amtrac, der kettenbetriebene Schwimmpanzer, der ihn und seine Leute über das Riff, zwischen die Felsen hindurch und über die Brandung zum Strand bringen sollte, hatte Maschinenschaden. Antriebslos trieb er vor der Küste im Meer, bot den Japanern ein leichtes Ziel. Die Männer sprangen heraus, wurden jedoch vom Sog in tiefe Gewässer hinausgezogen. Die guten Schwimmer unter ihnen konnten sich auf andere Landungsboote retten oder schwammen durch Gischt und Maschinengewehrfeuer zum bereits eroberten Strandabschnitt. Aber auch dort, im Geschoss- und Granathagel und auf der Erde, die unter ihren Stiefeln explodierte, verloren viele noch ihr Leben.
Drei Männer trieben hilflos auf dem Meer, schluckten große Mengen Salzwasser, wurden immer weiter hinausgezogen und drohten unterzugehen, wenn sie nicht vorher eine feindliche Kugel traf. Als Max-David es realisierte, sprang er vom Strand, den er schon erreicht hatte, wieder in die Fluten zurück, zerteilte die Wellen mit kräftigen Schlägen, kümmerte sich nicht um die Einschläge, die das Wasser um ihn herum aufpeitschten und zog alle drei im Schlepptau durch das tobende Meer an Land, eine fast unvorstellbare Leistung. Seine Rettungsaktion machte Furore. Die Kriegsberichterstatter und Wochenschaureporter stellten die Szene im seichten Wasser. In allen Kinos Amerikas wurde die Heldentat bejubelt. Nach dem Krieg versuchte die Navy, sie unter den Bedingungen, die an jenem Tag geherrscht hatten, an derselben Stelle von dreissig der besten Kampfschwimmer wiederholen zu lassen. Sie verletzten sich an den Felsen, wurden von der Platzmunition außer Gefecht gesetzt, schafften es nicht über das Riff oder kamen gegen die Strömung nicht an. Keinem gelang es, auch nur eine der auf den Wellen treibenden Dummys zu retten.
Nach dem Dienst im Pazifik, bei dem er noch drei Mal verwundet wurde und zwei Finger einer Hand verlor, wurde Max-David im Frühjahr 1945 nach Europa versetzt. Er war fünfunddreißig, zum Captain aufgestiegen und fungierte als Adjutant eines Brigadegenerals in der amerikanischen Besatzungszone Deutschland. Der General hatte Max-David ausgesucht, weil er perfekt Deutsch sprach - den wienerischen Akzent hörten nur wenige Amerikaner heraus – und genügend Intelligenz besass, um sich von den gefangengenommenen Deutschen nicht täuschen zu lassen. Bei den Verhören behaupteten alle, keine Nazis gewesen zu, keine Verbrechen begangen und keine Juden behelligt zu haben. Jeder wollte Juden geholfen haben und von Anfang an gegen die Nazis gewesen sein. Sie hätten aber die Gesetze beachten und den Befehlen gehorchen müssen, sonst wären sie selbst des Todes gewesen. Wenn man ihnen Glauben schenkte, so hatte es in Deutschland außer Hitler und seinen engsten Gefolgsleuten keine Nazis gegeben.
Einer der Inhaftierten, der beim Vergraben seiner SS-Gruppenführer-Uniform sowie Kistenvoller Goldbarren, Diamanten und Schmuck im Garten seiner Villa erwischt worden war und bei dem Unmengen falscher Dollarnoten gefunden wurden, verstieg sich zur Behauptung, Juden hätten ihm vor ihrer Abreise nach Palästina das Gold und die Wertsachen zur Aufbewahrung übergeben, da sie ihn als vertrauenswürdigen Mann gekannt hätten. Die Villa würde er für die ins Ausland gegangenen jüdischen Besitzer treuhänderisch verwalten, die gefälschten Dollarnoten würden von einem jüdischen Wucherer stammen und die Uniform und Dokumente wären ihm von Nazis untergeschoben worden, um ihn zu diskreditieren.
Angewidert von den Lügen, die der Mann unbefangen und in freundlichem Ton von sich gab, so als sässe er nicht vor amerikanischen Offizieren, sondern erzähle am Stammtisch Münchhausiaden, fragte ihn Max-David, der die Befragung leitete, was er eigentlich von den Juden halten, denen er geholfen haben wollte.
«Nun ja», antwortete der SS-General, der er in Wirklichkeit war, leise, beugte sich dabei zu Max-David hin, als wolle er ihn als Arier, für den er ihn hielt, ins Vertrauen ziehen, «wissen Sie, natürlich waren das alles Halunken, keine richtigen Deutschen, eigentlich gar keine richtigen Menschen. Der Führer hatte schon recht, sie in den Osten zu schicken, damit sie endlich lernten, was ehrliche Arbeit ist. Passt in Amerika nur auf, dass sie euch nicht auch so bestehlen und betrügen, wie sie es mit uns Deutschen gemacht haben. Am besten schließen wir uns zusammen, um den Juden und den Bolschwiken endgültig den Garaus zu machen.»
Er lächelte, war sich nicht bewusst, dass er der große Mann mit den blauen Augen, dem er gegenübersaß, Jude war, und welche Ungeheuerlichkeiten er ihm an den Kopf geworfen hatte. Max-David konnte nicht anders, als ihm mit voller Wucht ins Gesicht zu schlagen.
Der Krieg gegen Nazideutschland befand sich in der Endphase. Obwohl Amerikaner, Briten und Franzosen von Westen und die Russen von Ostern her unaufhaltsam vorrückten, das längst geschlagene 3. Reich in die Zange nahmen, gab Hitler nicht auf. Aus seinem unterirdischen Bunker in Berlin, in dem er sich mit seinem Propagandaminister Josef Goebbels und dessen Familie versteckte, gab er Befehle, die noch Tausenden Deutschen das Leben kosteten, nur um sein eigenes um ein paar Tage zu verlängern. Er schickte Kinder und alte Männer in den sinnlosen Kampf, liess die, die die Waffen niederlegten oder die Weiterführung des Krieges beklagten, aufhängen, ihre Leichen an den Bäumen baumeln und öffentlich zur Schau stellen. Er, der die Welt in den schrecklichsten aller Kriege gestürzt hatte, der 60 Millionen Menschen auf dem Gewissen hatte, der Europa 12 Jahre nackten Grauens aufgezwungen und 6 Millionen Juden ermordet hatte, kostete am Ende dem eigenen Land das halbe Staatsgebiet und verursachte ihm nie dagewesenes Leid. Doch statt zuzugeben, dass seine militärischen Fehlentscheidungen zur Niederlage im Krieg geführt hatten, beschuldigte er jetzt das eigene Volk, nicht genug gekämpft zu haben und seiner nicht würdig zu sein, liess die deutsche Hauptstadt Berlin durch die vorrückenden Russen vollständig zerstören. Der Verantwortung für seine Verbrechen entzog er sich durch Selbstmord. Auch das Ehepaar Goebbels brachte sich um. Martha Goebbels hatte zuvor sechs ihrer sieben Kinder vergiftet.
Bei der Befreiung der Konzentrationslager boten sich den Soldaten Bilder, die an Grauenhaftem nicht zu überbieten und bis dahin für unvorstellbar gehalten worden waren. Bergen-Belsen, Mittelbau, Neuengamme, Nordhausen, Buchenwald, Flossenbürg, Dachau, Ravensbrück, Sachsenhausen und Mauthausen waren Orte, die die Vorstellung der Hölle bei weitem übertrafen. Menschen in viel zu großen Pyjamas, nicht mehr als Mann oder Frau erkennbar, zu Skeletten abgemagert, die Köpfe kahlgeschoren, dem Hungertod und dem Wahnsinn nahe, irrten ziellos zwischen Leichenbergen und den Körpern der noch in letzter Sekunde Erschossenen umher. Wahllos waren sie über den Boden verstreut. Ausgemergelte Kinderleichen und tote Frauenkörper lagen nackt herum als wären sie weggeworfene Haut- und Knochenreste von Tieren. Jede Menschlichkeit war den SS-Schergen, viele von ihnen weiblich, abhandengekommen. Dünner Rauch und der süßliche Geruch verbrannten Menschenfleisches entstieg den Kaminen der Verbrennungsöfen. Bis zuletzt hatten sie auf Hochbetrieb gearbeitet. Wachttürme und Hochspannungszäune umgaben die Lager. An vielen Stellen hingen geschwärzte Kadaver von Lagerinsassen, die sich in sie gestürzt hatten, um ihrem Dasein ein Ende zu bereiten.
Die Befreier machten sich unverzüglich daran, die noch Lebenden mit Decken, Kleidern, Essen und Medikamenten zu versorgen und sie von Sanitätern und Militärärzten behandeln zu lassen. Viele von ihnen starben in ihren Armen oder auf den notdürftig errichteten Operationstischen. Beim Eintritt ins Lager betrachteten manche sie als von Gott gesandt, andere starrten sie nur ungläubig an, verweigerten jede Hilfe, hielten sie für verkleidete Nazis, die sich neue Teufelswerke für sie ausgedacht hatten. Nicht wenigen der Retter wurde beim Anblick des Unfassbaren, dessen, was an diesen Orten geschehen war, schwarz vor Augen. Sie mussten sich übergeben, wähnten sich in einem Menschenschlachthof. Die wenigen SS-Leute, derer sie habhaft werden konnten, mussten bei den Rettungsarbeiten mitmachen, waren sich aber keiner Schuld bewusst. Ihr Gewissen war derart abgestumpft, dass sie das Leben ihrer Hunde für wichtiger hielt als das der Menschen. Die meisten jedoch waren geflohen, hatten sich in Zivilkleidern davongemacht. Wer gefunden wurde, wurde an den Ort seiner Schande zurückgebracht, um die Zeugnisse seiner Scheußlichkeiten nochmals vorgeführt zu bekommen, diesmal im Licht der Wahrheit und nicht der Nazi-Ideologie. Ihre noch lebenden Opfer waren zu schwach, ihnen etwas anzutun, teilten nur hin und wieder Schläge oder Fußtritte aus, hatten kaum noch die Kraft, sie zu bespucken.
Max-David - Cpt. M.D. Friedländer - wurde sich bewusst, welches Glück er als Jude gehabt und wie klug und vorausschauend seine Mutter gehandelt hatte, als sie mit ihm zu Zeiten aus Österreich weggegangen war. Er wollte nach Wien zurück, nach denen suchen, die er 1937 zurückgelassen hatte. Der Gedanke, was aus ihnen geworden war, den nichtjüdischen, besonders aber den jüdischen, raubte ihm den Schlaf, ließ ihn in Spekulationen und Albträume fallen.
Am 7. Mai unterzeichnete Alfred Jodl, ein Mann, der das Abitur nur mit Mühe geschafft, es unter den Nazis aber zum Generaloberst gebracht hatte, vor den kommandierenden Generälen der West-Alliierten im französischen Reims die bedingungslose Kapitulation Deutschlands. Viele Naziverbrecher, Aufraggeber und Ausführer der Massenmorde, tauchten unter oder flohen unter Mitnahme geraubter Millionen und Kunstschätze ins Ausland. Man munkelte von einer weitverzweigten Organisation mit der Abkürzung Odessa, die ihre Flucht organisierte, hauptsächlich nach Argentinien und Ägypten. Sogar der Vatikan sollte involviert sein, doch Genaueres wurde nicht bekannt. Das Mafia-Gesetz der Omerta, des Schweigens, galt auch für die Nazis und ihre Helfer und Helfershelfer. Es gab sie überall, in Deutschland und in den Ländern, in denen sie Gleichgesinnte gefunden hatten.
Am 8. Mai um 23.01 Uhr mitteleuropäischer Zeit war der Zweite Weltkrieg der Kapitulationsurkunde gemäß offiziell beendet. Niemand schenkte der noch zwei Wochen bestehenden deutschen Reichsregierung in Flensburg-Mürwik unter Hitlers Nachfolger, Admiral Karl Dönitz, Beachtung. In London, Paris, New York und anderen Städten fanden überschäumende Siegesfeiern statt. Die sechs Jahre des schlimmsten Kriegs der Geschichte und die zwölf Jahre der Naziherrschaft waren vorbei. Das Tausendjährige Reich, das Hitler den Deutschen versprochen hatte, hatte weniger lange gedauert als jedes andere in Deutschland zuvor, jedoch mehr Schaden und Verwüstung angerichtet als alle zusammen.
Wien war nach heftigen Kämpfen und sinnloser Gegenwehr von Nazifanatikern, die die Stadt zu über siebzig Prozent zerstört hatten, schon am 13. April von General Alexej Blagodatows Verbänden unter die Kontrolle der Roten Armee gebracht worden. Hitler hatte die vollständige Vernichtung der Stadt und die Tötung seiner Bewohner durch Flutung der Stadtbahntunnels, in die sich die Menschen geflüchtet hatten, befohlen, ebenso wie er Paris beim Abzug seiner Truppen dem Erdboden hatte gleichmachen wollen. Beiden Befehlen wurde keine Folge geleistet. Es waren ja keine Juden, die sterben sollten.
Wie von den Siegermächten während des Kriegs vereinbart, wurde der von Hitler am 15. März 1938 am Ballhausplatz verkündete Anschluss Österreichs an Deutschland, der von 250.000 Wienern frenetisch bejubelt worden war, rückgängig gemacht und der Staat Österreich in den Grenzen vom 14. März 1938 wiederhergestellt.
Am 27. April konstituierte sich unter sowjetischen Auguren eine provisorische Staatsregierung unter Dr. Karl Renner, einem Sozialdemokraten, der seit seinem Studientagen den Ideen von Karl Marx anhing. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie hatte er als Staatskanzler und Leiter der österreichischen Delegation bei der Konferenz von St. Germain-en-Laye 1918 die österreichischen Interessen derart schlecht vertreten, dass die Delegation nicht zu den Verhandlungen zugelassen wurde und Österreich nicht nur seiner nicht deutschsprachigen Gebiete im Osten und Süden Europas verlustig ging, sondern sogar die deutschsprachigen in Südtirol, Böhmen, Mähren, Schlesien und Westungarn verlor. 1933 hatte er als Präsident des Nationalrats dessen Selbstauflösung erklärt und damit Engelbert Dollfuß die Errichtung des Austrofaschismus ermöglicht und 1938 auch noch den von Hitler proklamierten Anschluss Österreichs an Deutschland begrüßt. Max-David, dem all das bekannt war, wurde schlecht, als er erfuhr, dass sich nun ausgerechnet dieser Mann an die Spitze der neuen Republik Österreich stellte. Metternich hätte sich im Grab umgedreht, wenn er es gewusst hätte, davon war er überzeugt. Doch ein Gutteil der Österreicher, hin und hergerissen zwischen romantisch-nostalgischer Deutschlandliebe und langsam wieder aufkeimendem österreichischen Nationalbewusstsein, betrachteten Renner als großen Staatsmann, der sie aus diesem Dilemma zu befreien versuchte. Mit bescheidenem Erfolg, wie sich zeigen sollte.
In Wien öffnete im April 1945 das Simpl wieder seine Tore, der Tempel des jüdisch-österreichischen Kabaretts, in dem vor dem Krieg der unvergessene Fritz Grünbaum die Menschen zum Lachen über sich selbst und die Herren in der Regierung gebracht hatte. In Berlin, wo er 1907 im Chat Noir aufgetreten war, schilderte ihn der Besitzer Rudolf Nelson so:
«Wenn er den Mund auftut – ein Feuerwerk des Gehirns. Schiesst pausenlos seine Witzraketen und Bonmots mit überdrehter Logik ins überraschte Parkett.»
1910 ohrfeigte er einen Offizier im Wiener Cabaret Hölle, als dieser antisemitische Sprüche ins Publikum rief und setzte anschließend sein Programm fort als wäre nichts gewesen. Aus dem ersten Weltkrieg kehrte der bezaubernde Jude, wie er genannt wurde, als Oberleutnant zurück, wurde Pazifist und gab im Simpl mit Karl Farkas, der sein Nachfolger werden sollte, die legendären Doppelconferencen zum Besten. Farkas erklärte sie ihm folgendermaßen:
«Das Wesen der Doppelconference besteht darin, dass man einen äußerst intelligenten, gutaussehenden Mann nehme – das bin ich – und einen zweiten, also den Blöden, dazustellt. Das bist, nach allen Regeln der menschlichen Physiognomie, natürlich du!»
Grünbaums Schlagfertigkeit war ebenso sprichwörtlich. 1933, als bei einem Stromausfall während Grünbaums und Farkas’ höhnender Wochenschau im Simpl die Lichter ausgingen, meinte er:
«Ich sehe nichts, absolut gar nichts, da muss ich mich in die nationalsozialistische Kultur verirrt haben.»
1919 heiratete der kleine, mit keinen körperlichen Vorzügen gesegnete Mann, der die Frauen anzog wie kaum ein anderer, in dritter Ehe Lilly Herzl, die Nichte von Theodor Herzl, des geistigen Vaters des Staates Israel. Auch sie sollte 1942 von den Nazis mit den noch in Wien verbliebenen Juden in den Wald von Maly Trostinec gebracht und dort auf schrecklichste Art ermordet werden. Im März 1938, nach dem Einmarsch der Nazis wurde er ins KZ Buchenwald und von dort ins KZ Dachau gebracht, wo er am 14. Januar 1941 an Entkräftung starb. Noch in der Nacht vor seinem Tod gab er eine Vorstellung vor den Häftlingen, bei der er scherzte:
«Der völlige Mangel und systematisches Hungern sind das beste Mittel gegen die Zuckerkrankheit.»
Zu einem Aufseher, der ihm ein Stück Seife verweigerte, meinte er:
«Wer für Seife kein Geld hat, soll sich kein KZ halten.»
Nach dem Krieg zog das wiedereröffnete Simpl die Wiener jedoch erst in Scharen an, als der aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrte Karl Farkas es 1950 übernahm. Die Zuschauer lagen unterm Tisch, wenn er sich über Renner und seine Minister lustig machte, immer jedoch so, dass die Betroffenen mitlachen konnten. Ernst Waldbrunn, Fritz Muliar, Elfriede Ott, Maxi Böhm, Gerhard Bronner, Hugo Wiener, Cissy Craner, Heinz Conrads, Otto Schenk, Hans Moser, Ernst Stankowski, Kurt Sobotka, Ossy Kolmann, Elly Naschold, Helmut Qualtinger, alle kamen sie auf die Bühne von Karl Farkas. Kaum einer im Publikum machte sich bewusst, dass viele von ihnen noch vor kurzem als jüdische oder halbjüdische Untermenschen gegolten hatten.
Es waren die wenigen Monate nach Kriegsende, in denen Russen und Amerikaner im besetzten Deutschland zusammenarbeiteten, wenn sie sich auch schon gegenseitig zu misstrauen und zu bespitzeln begannen. Doch noch hielten die Russen sich an die Abmachung, Österreich und die Stadt Wien in Besatzungszonen der vier Hauptsiegermächte USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich aufzuteilen. Sie zogen sich aus den Regionen und Stadtteilen zurück, die den Westalliierten zugedacht waren und übergaben sie ihnen am 1. September 1945.
Max-David arbeitete als US-Verbindungsoffizier zu den Sowjets im amerikanischen Hauptquartier in Berlin. Gemeinsam mit anderen deutschsprachigen Offizieren, die meisten aus Deutschland und Österreich geflohene Juden, leitete er die Verhöre mit Deutschen, die Naziverbrechen verdächtigt wurden. Im September, nachdem die Amerikaner ihr österreichisches Hauptquartier in Wien bezogen hatten, ließ er sich mit Zustimmung seines Vorgesetzten, des schon erwähnten Brigadegenerals, für einen Monat nach Wien versetzen.
Sein erster Weg führte ihn durch die Ruinen des achten und neunten Bezirks, die im amerikanischen Sektor lagen, zur Alserstrasse. Er suchte die Spuren seiner jungen Jahre. Fast alle Gebäude, die Strassen und Plätze, die er gekannt hatte, die Volksschule, in die gegangen war, das jüdische Gemeindezentrum mit den Jugendclubs, dem jiddischen Theater, dem Konzertsaal und den Sportanlagen, alles war zerstört, existierte nicht mehr.
Die Leute schienen ihm ziellos zwischen den Resten ihrer Vergangenheit umherzuirren. Irgendwie erinnerten sie ihn an die lebenden Leichen, die er in den deutschen Konzentrationslagern gesehen hatte, nur dass sie keine Skelette waren, keine viel zu großen, blauweiß gestreiften Pyjamas trugen und nicht dem Wahnsinn nahe waren. Auch ihnen hatte der Krieg fast alles genommen, ihnen aber die meisten ihrer Lieben und die Menschenwürde gelassen. Wenn sie an ihm vorübergingen, Frauen, Männer und Kinder, sahen sie ihn aus bewundernden, aber auch neidvollen Augen an. Ihn, den stolzen amerikanischen Offizier, den Sieger, den Reichen, der alles hatte, was sie nicht mehr besaßen, der eine Zigarette achtlos wegwarf, für die sie das Hemd gegeben hätten, das sie am Leibe trugen.
Er entdeckte das grüne Schild eines Wirtshauses. Es hatte geöffnet. Ein Mann kam heraus, die Bierflasche in der Hand, stolperte über einen Pflasterstein, der aus dem Teil der Strasse ragte, der einmal das Trottoir gewesen war, der Gehsteig, wie man es in Wien nannte. Er fing ihn auf, bewahrte ihn vor dem Hinfallen.
«Danke, der Herr», sagte der Mann, ohne aufzuschauen. Dann tat er es doch, erkannte den amerikanischen Besatzungsoffizier an der Uniform und den darauf befindlichen Streifen.
«Oh, entschuldigen Sie bitte, ich wollte Ihnen keine Umstände machen, Herr Offizier», beeilte er sich anzufügen.
«Scho in Ordnung, Sie brauchen Erna net zu entschuldigen», erwiderte Max-David extra in breitestem Wienerisch.
Der Mann sah ihn erstaunt an.
«San Sie am End gor a Wearna?», fragte er ihn.
«A holber», erwiderte Max-David immer im selben Jargon.
«Na sowas, wie kommen’s dann in die Uniform?», wollte der Mann wissen.
«Des is a lange G’schicht», gab Max-David zurück.
«De interessiert mi», meinte der Mann. «Kommen’s, i lad Sie auf a Bier ein. So a G’schicht hert ma ja net jeden Tog!»
«Warum eigentlich net, einverstanden», ließ sich Max-David auf die Sache ein, «aber zahlen tu I», ergänzte er, immer noch das Proletendeutsch verwendend, an das er sich mit Freuden erinnerte. «Sie schau’n ma net aus, als wann’s viel Göld hätt’n».
Gemeinsam betraten sie das Lokal. Zwei Männer um die Fünfzig und eine etwas ältere Frau saßen an einem einfachen Holztisch, halbgeleerte Bierkrügel vor sich. Der Wirt stand hinter der Theke, spülte Teller.
«Schaut’s her», sagte der Mann zu ihnen, «a Wearna in aner Ami-Uniform, was sagt’s dazu?»
«Des gibt’s ja net, stimmt des?», wollte die ältere Frau wissen.
«Klar stimmt des», antworte er, «glaubt’s, i erzähl Eich an Schmonzes oder an Tinef?»
Es gab sie also immer noch, die jiddischen Ausdrücke im Wienerischen, bemerkte Max-David mit sichtlichem Vergnügen.
«Setzst Eich zu uns, darauf trink ma wos», forderte sie die Frau auf.
Sie setzten sich zu den dreien. Ohne zu fragen, stellte der Wirt ein großes Krügel frisch gezapftes Bier vor Max-David auf den Tisch. Sie stießen an, tranken und der Ankömmling wurde sofort mit Fragen überhäuft. Max-David zögerte, zu viel von seiner Vergangenheit preiszugeben, sagte nur, dass er vor dem Krieg als junger Mann mit seiner Mutter nach Amerika ausgewandert wäre und in der US Army gedient hätte, was sie ohnehin an seiner Aufmachung sahen. Sie ließen aber nicht locker, wollten unbedingt wissen, wie er hieß, wo er in Wien gewohnt hätte, wer seine Mutter gewesen wäre und warum sie aus Wien weggezogen wären. Er konnte nicht mehr anders, als es ihnen mitzuteilen. Irgendwie waren ihm die Leute sympathisch, wenn er auch vorsichtig blieb. Er wusste ja nicht, ob sie sich im Krieg etwas zuschulden hatten kommen lassen und wenn, was es gewesen war.
«Mein Name ist Max-David Friedländer, meine Mutter war Schneiderin. Sie hatte eine kleine Näherei ein paar Häuser weiter», rückte er mit der Sprache heraus, verfiel dabei in ein etwas weniger breites Wienerisch.
«Na sowas, I werd’ verrückt», rief die Frau ungläubig, «der Maxi Friedländer, der gescheite Judenbub, den ma allerweil so gern g’habt ham, der Sohn von der Elsi, die was die beste Frau im ganz’n Bezirk g’wes’n is! I schuld’ ihr no zwanzig Schilling, die hot’s nie hab’n woll’n, die Elsi. Kommen’s, lassen’s Erna umarmen. Dos i des no erleb’, nach alldem, wos passiert is, i glaub’s net.»
Sie drückte Max-David so fest an sich, dass ihm fast die Luft wegblieb. Der Wirt setzte sich zu ihnen, andere Leute kamen dazu. Alle wollten die unglaubliche Geschichte hören, die der Sohn von Else Friedländer zu erzählen hatte, der Frau, die alle gemocht hatten, der besten im ganzen Bezirk, wie die Alte gemeint hatte.
Schnell machte die Sache die Runde. Immer weiter füllte sich das Lokal. Die Leute waren nicht nur froh, einen der ihren wiederzusehen, sie waren stolz darauf, ihn in der Uniform eines amerikanischen Offiziers vor sich zu haben, mit ihm an einem Tisch zu sitzen. Egal, wie sie noch vor kurzem über die Juden gedacht hatten, wie indoktriniert sie von den nationalsozialistischen Wahnideen gewesen waren, heute war er als US-Captain mitten unter ihnen, stand in ihrer Achtung höher noch als es ein österreichischer Hauptmann in den Zeiten der Monarchie gewesen war, die in ihnen fortlebte. Er erschien ihnen wie Moses, der sie aus der ägyptischen Versklavung führte, in der sie sieben Jahre lang, seit 1938, gewesen waren, und sie mit seinem Bericht, dem sie ehrfurchtsvoll lauschten, ins Gelobte Land Amerika brachte. Dass er Jude war, einer von denen, die vor kurzer Zeit noch Untermenschen genannt hatten, änderte daran nichts, ja es machte sie sogar glücklich, nach Jahren wieder einen unter sich zu haben und schließlich und endlich war Moses ja auch Jude gewesen. Einer meinte sogar, «unser Heiland ist ja auch a Jud g’wesen, des ham de Deppen vergessen!“
Ein Reporter der erst vor wenigen Wochen von den Amerikanern gegründeten Tageszeitung Wiener Kurier, dem ab dem ersten Tag meistverkauften Boulevardblatt, erschien im Lokal. Wie er so schnell von der Sache Wind bekommen hatte, blieb sein Geheimnis. Er brachte einen Fotographen mit, der Aufnahmen des jüdischen US-Captains inmitten der ihm fasziniert zuhörenden Wiener schoss. Eines davon erschien am nächsten Tag auf Seite 3 der Zeitung, direkt neben dem einer leichtbekleideten Blondine. Der Titel des Artikels lautete Die Heimkehr des verlorenen Sohnes.
Als Max-David mit seinem Bericht innehielt, selbst Fragen nach dem stellte, was in Wien in den Jahren seiner Abwesenheit geschehen sei, fragte ihn einer der Anwesenden, ob er nicht der sei, der vor dem Krieg mit einer gewissen Hertha Kollek befreundet gewesen sei. Max-David war wie vom Blitz getroffen. Es war das erste, was er über eine Person in Wien hörte, die er persönlich gekannt hatte, nicht über irgendeine, sondern über die, mit der er die erste intime Beziehung seines Lebens geführt, mit der er zum ersten Mal die Wonnen der Liebe erlebt hatte.
«Ja, der bin ich», gab er zur Antwort. «Was ist mit ihr? Kennen Sie sie? Wissen Sie, wo sie ist? Ist sie in Wien?»
Jetzt war es, dessen Neugier geweckt war.
«Das ist eine schlimme Geschichte», antworte der Mann. Er räusperte sich, bevor er fortfuhr. Man sah ihm an, dass es ihm nicht leichtfiel, mit der Sprache herauszurücken.
«Sie hat ihre ganze Familie verloren. Alle wurden 1942 von der Gestapo abgeholt, obwohl ihr Vater einen Sonderstatus als letzter jüdischer Rechtsanwalt in Wien hatte. Angeblich wurden sie alle in den Osten zum Arbeitseinsatz geschickt. Genaueres weiß niemand, aber zurückgekommen ist niemand von ihnen.»
«Und Hertha?» fragte Max-David ungeduldig. «Wurde sie auch deportiert?»
«Nein», erwiderte der Mann, «als die Gestapo kam, um die Familie abzuholen, war sie auf dem Heimweg, sah von der gegenüberliegenden Strassenseite aus, was passierte. Sie konnte sich in einen Hauseingang drücken und unerkannt verschwinden, floh zu einer christlichen Freundin der Familie, Sonja Brandstetter, der Burgschauspielerin. Sie hat sie aufgenommen und in ihrer Wohnung versteckt, was unter Todesstrafe stand. Doch das kümmerte sie nicht. Ihr waren die Judengesetze von Anfang an ein Unding gewesen. Fast drei Jahre lang ging die Sache gut. Niemand bemerkte etwas. Niemand verdächtigte sie, eine Jüdin zu verstecken, sie dem Zugriff der Gestapo zu entziehen. Doch ganz am Schluss der Naziherrschaft in Wien, nur zwei Tage, bevor sie die Waffen streckten, am 11. April, vor nicht einmal fünf Monaten, als die Russen schon den Großteil Wiens eingenommen hatten, der Geschützdonner überall zu hören war, die Häuser reihenweise einstürzten, wurde sie von einem Nachbarn, einem Parteimitglied und eingefleischten Judenhasser, den niemand im Haus leiden konnte, verraten. Die Gestapo hat sie noch am selben Tag am Kastanienbaum vor dem Haus aufgehängt, mit dem Kopf nach unten, ihr ein Schild mit der Aufschrift ‘Judenfreundin’ umgehängt. Sie starb eines elendiglichen Todes. Zwei Gestapomänner standen neben ihr, passten auf, dass niemand ihr zu Hilfe kam, bevor sie starb oder sie danach zu rasch abhängte.»
«Ja und Hertha, konnte sie der Gestapo entkommen? Hat sie überlebt?»
Max-David zappelte vor Ungeduld und Nervosität auf dem Stuhl herum.
«Das weiß niemand», fuhr der Mann mit seinem Bericht fort. Sie war verschwunden. Niemand hat sie mehr gesehen. Die Wohnung der Brandstetter befand sich in der Wiedner Hauptstrasse, im 4. Bezirk, im russischen Sektor. Dort kommt keiner ohne Spezialbewilligung hin. Vielleicht können Sie ja als amerikanischer Offizier zu einer Bewilligung kommen. Aber wer weiß, ob Hertha Kollek überhaupt noch dort ist. Wenn Sie sie finden sollten, geben Sie uns bitte Bescheid.»
«Das mache ich, darauf können Sie sich verlassen, und vielen Dank für die Information», sagte Max-David, erhob sich und verließ so schnell es ging das Lokal, um sie suchen zu gehen, jedoch nicht ohne sich vorher von den Menschen herzlich zu verabschieden, die ihm die Rückkehr nach Wien zu einem unerwarteten Fest gemacht hatten.
Er fuhr mit dem Taxi ins US-Hauptquartier, kam in wenigen Minuten zur erforderlichen Bewilligung und stand kurz darauf am sowjetischen Check-Point. Die russischen Wachtposten ließen den amerikanischen Offizier nach kurzer Kontrolle der Papiere passieren. Die Adresse in der Wiedner Hauptstrasse, die er bekommen hatte, war nur wenige Gehminuten entfernt. Er raste förmlich hin. Die Leute drehten sich nach ihm um, vermuteten, er sei auf der Flucht vor den Sowjets, doch, doch kein russischer Soldat folgte ihm. Drei Treppenstufen mit seinen langen Beinen auf einmal nehmend, hechtete er in den dritten Stock hinauf. Tatsächlich, an der Klingel neben der Wohnungstür stand noch der Name S. Brandstetter. Mit zittrigen Fingern läutete er. Nichts tat sich. Kein Geräusch war aus der Wohnung zu hören. Er läutete nochmals, diesmal länger. Wieder tat sich nichts. Er läutete zum dritten Mal. Endlich hörte er leise Schritte näherkommen, so als wolle jemand vermeiden, gehört zu werden.
«Keine Angst, ich bin es, Max-David Friedländer, Maxi», sagte er, den Mund fest an die Tür gepresst.
Er sah, wie der in die Tür eingelassen Spion von innen geöffnet wurde. Ein helles Licht blitzte kurz auf, dann wurde die Tür langsam geöffnet.
Sie stand vor ihm, Hertha, seine erste Liebe, die er so schändlich verlassen hatte. Aber das zählte in diesem Moment nicht, weder für sie noch für ihn. Sie sahen sich an, als wären sie nie voneinander getrennt gewesen. Er erschrak, wie abgemagert sie war, wie bleich und eingefallen ihr Gesicht war, wie tief die Augen in den Höhlen lagen, wie viele Falten ihre Haut durchzogen. Ihre Haare waren total zerzaust, sie war ungeschminkt, hatte weder die Lippen noch die Nägel gefärbt und doch fand er, dass sie wie eine Prinzessin aussah. Nie zuvor hatte er eine schönere Frau gesehen, obwohl sie nichts als ein Häuflein Elend war. Er verstand nicht, wie er sie je hatte verlassen können, obwohl sie ihm damals nichts bedeutet hatte. Die Jahre, die sie getrennt waren, führten sie nun zusammen, auf gänzlich unerklärbare Weise.
Sie begann zu keuchen, hatte offenbar seit Tagen nichts in den Magen bekommen, schwankte, verdrehte die Augen, verlor das Bewusstsein und fiel um. Im letzten Moment konnte er sie auffangen. Auf den Armen trug er sie in die Wohnung, zog die Tür hinter sich mit dem Fuß zu. Sie war leicht wie eine Feder, wog kaum mehr als ein Kind. Er legte sie aufs Sofa, holte ein Glas Wasser aus der Küche, richtete ihren Oberkörper auf und flößte es ihr vorsichtig ein. Das Wasser ließ sie zu sich kommen. Sie öffnete die Augen, trank in kleinen Schlucken. Immer noch hatten sie kein Wort miteinander gewechselt. Wieder sah sie ihn an, blickte ihm ins Gesicht, als wolle sie in ein paar Sekunden alles begreifen, was sie in acht Jahren nicht begriffen hatte. Keine Frage stand in ihren Augen, kein Vorwurf kam über ihre Lippen, kein Wort über all das Schreckliche, was sie in diesen Jahren erlebt hatte. Sie schlang nur die Arme um ihn und küsste ihn, obwohl sie vor Hunger fast starb. Er erwiderte ihren Kuss, hielt sie so fest, als wolle er sie nie mehr loslassen. Nach einer Ewigkeit lösten sich ihre Hände und Lippen voneinander. Das erste, was sie sagte, war:
«Bring mir etwas zu essen, mein Herz, in der Küche gibt es nichts mehr, aber mach schnell, sonst falle ich um. Ich bin zu schwach, um mitzukommen.»
«Ja, Hertha, meine Hertha, ich mache, so schnell ich kann, bin gleich wieder zurück», antwortete er, löste sich von ihr, rannte aus der Wohnung, sprang die Treppen hinunter, lief aus dem Haus und eilte mit Riesenschritten zum Naschmarkt, der ganz in der Nähe lag.
Nur wenige Stände waren geöffnet. Er ging zum ersten, nahm alles, was ihm in die Hände kam, Brot, Wurst, Käse, saure Gurken, Äpfel, ein Glas Marmelade, einen Sack Nüsse, Dörrzwetschgen, Marillen, einen Gugelhupf und anderes. Kaum hatte der Verkäufer es in Zeitungspapier gewickelt, warf er ihm einen Geldschein hin, viel zu viel für das, was er gekauft hatte, wartete nicht aufs Rückgeld und rannte zurück. Völlig außer Atem kam er wieder in die Wohnung. Hertha hatte sich etwas zurecht gemacht, ihre Haare gerichtet, Lippenstift aufgetragen, die Trainingshose, die sie getragen hatten, gegen einen Rock getauscht. Er aber bemerkte es nicht einmal. Schon vorher war sie der schönste Engel für ihn gewesen. Er küsste sie nur kurz, stellte alles Mitgebrachte auf den Tisch, den sie schon gedeckt hatte. Sie begann gleich zu essen, schlang die Sachen in sich hinein, Gurke, Brot, Wurst und Käse, alles durcheinander.
Wie viele Tage mochte sie wohl nichts mehr gegessen haben, ging es ihm durch den Kopf, was musste sie alles in den letzten Monaten mitgemacht haben, allein, versteckt und voller Angst vor allem und jedem.
Sie verschluckte sich, bekam Schnackserl und begann plötzlich aus vollem Hals zu lachen. Tränen schossen ihr in die Augen. Er wusste nicht, ob es Tränen der Freude über ihr Wiedersehen oder der Trauer über die Lieben waren, die sie für immer verloren hatte. Es war beides, das sie zum Weinen brachte, während sie lachte. Alles brach aus ihr heraus, die ganze Verzweiflung über das Gewesene und die ganze Hoffnung auf die Zukunft. Erst jetzt bemerkte sie die Uniform an ihm. Sie streichelte über die goldenen Knöpfe seiner Jacke, doch immer noch fragte sie nichts. Ohne zu fragen, verstand sie alles, kannte die Antworten.
Nie hatte Max-David solche Liebe verspürt. Wie dumm war er gewesen, sie zu verlassen! Warum hatte er sie nicht nach Amerika mitgenommen oder sie nachgeholt? Was hatte er nicht alles verpasst. In Wirklichkeit aber hatte er nichts verpasst, denn erst durch die Trennung hatten sie wieder zueinandergefunden und diesmal waren sie so fest verbunden, dass nichts mehr sie würde auseinanderbringen können. Das wussten beide, ohne es auszusprechen.
Doch Max-David sprach etwas anderes aus. Er nahm ihre Hände in die seinen, sah sie an, wie keine der vielen Frauen je angesehen hatte, mit denen er zusammen gewesen war, und fragte sie:
«Willst du meine Frau werden, Hertha?»
«Was für eine Frage, mein Herz, mein Alles, mein Leben?», antwortete sie. «Weißt du nicht, dass ich immer schon Deine Frau war, mit oder ohne Ehering? Natürlich will ich dich heiraten. Keinen anderen Mann habe ich je gewollt, war dir alle die Jahre treu, in denen du nicht bei mir warst. Doch das stimmt nicht. Du warst immer bei mir. Jede Sekunde meines Lebens warst du in meinem Herzen und in meinem Kopf. Acht Jahre habe ich nur an dich gedacht. Ich wusste, dass du eines Tages zurückkommen würdest, habe auf dich gewartet, die Stunden gezählt, bis es soweit war. Glaubst du wirklich, dass ich dich ein zweites Mal gehen lasse? Nicht, solange ich lebe.»
Zwei Wochen später heirateten sie, gaben sich das Jawort vor einem US-Richter im Hauptquartier der amerikanischen Truppen in Wien. Max-David quittierte den Dienst, ging mit Hertha nach New York zurück und nahm eine Stelle als Ingenieur bei einer Maschinenfabrik an. Ein Jahr später kam ihr erstes Kind auf die Welt, ein Mädchen. Sie nannten es Else, nach seiner Großmutter.
Ach ja, und das Testament. Ich hätte es fast vergessen.
Max-David war erst sechsunddreißig Jahre alt, also noch lange nicht fünfzig. Das Erbe seiner Mutter, die große Wohnung am Central-Park, die vielen Millionen Dollar, die Firmenbeteiligungen, Aktien und alles Übrige hätte er mit Fug und Recht behalten können. Doch er vermachte alles den Organisationen der Armen, die seine Mutter ausgewählt hatte, behielt nichts davon, denn das Glück, das ihm beschieden war, Hertha wiederzufinden und die größte Liebe zu erleben, die es auf dieser Welt geben konnte, hatte er damit nicht kaufen können. Das war ihm unendlich viel mehr wert als das Erbe. Das Testament aber, mit dem seine Mutter ihm zu diesem Glück verholfen hatte, das, das ich fast vergessen hätte, noch einmal zu erwähnen, ließ er einrahmen und hängte es im Wohnzimmer der neuen, einfachen Wohnung in Brooklyn auf, in der er mit Hertha und den vier Kindern, die sie bekamen, ein langes und erfülltes Leben führte. Es heißt, es hinge immer noch dort, obwohl Maxi und Hertha längst gestorben sind.
Das Jahr 1910 war am Ende ein überaus glückliches für Arthur und Else Friedländer. Seit ihrer Heirat waren zwanzig Sommer und zwanzig Winter ins Land gegangen, in denen all ihre Versuche, ein Kind zu bekommen, ohne Erfolg geblieben waren. Die Hoffnung auf Nachwuchs hatten sie seit langem fahren lassen, waren gewiss, vom Schöpfer der Welt mit Unfruchtbarkeit gestraft worden zu sein. Zumindest Arthur wusste nicht, wofür er ihnen diese harte Strafe auferlegt hatte. Sie machte ihr Leben tagtäglich zur Qual. Ihr Seelenschmerz steigerte sich noch, wenn sie Freunde und Bekannte trafen oder auch völlig Unbekannte, die im Stadtpark, im Prater, bei Spaziergängen entlang des Donaukanals oder am Kahlenberg, bei Festen oder Einladungen oder wo auch immer sie mit ihren Kindern spielten und herumtollten, von den Fortschritten erzählten, die sie machten, stolz auf sie waren, in Familienwonne schwelgten. Das alles würde Else und Arthur für immer versagt bleiben, so dachten sie.
Else, eine zierliche Frau, der die Schönheit ihrer Jugend immer noch anzusehen war, meinte den Grund der Strafe zu kennen, hatte ihn aber stets für sich behalten. Weder ihren lange verstorbenen Eltern, noch Arthur hatte sie je erzählt, dass sie als Kind auf ihren kleinen Bruder eifersüchtig gewesen war und ihn deswegen oft schlecht behandelt hatte. Einmal hatte sie es dabei zu weit getrieben. In den großen Ferien im August, die sie immer in derselben Pension am Semmering verbrachten - weiter oder in eine andere Sommerfrische waren sie nie gekommen - hatte sie ihn bei einem Sturz vom Kirschbaum im Garten absichtlich nicht aufgefangen, obwohl sie die Aufsicht über ihn hatte und es ohne Weiteres gekonnt hätte. Insgeheim hatte sie gehofft, er würde sich ein Bein brechen oder es würde ihm noch Schlimmeres zustossen. Sigi, mit vollem Namen hieß er Siegmund, zog sich zwar nur einen verstauchten Knöchel zu, der mehrere Tage geschwollen blieb und ihm am Laufen hinderte, doch zwei Jahre danach starb er an den Folgen eines Unfalls mit dem Jugendfahrrad, das er zum elften Geburtstag bekommen hatte. Trotz des ausdrücklichen Verbots der Eltern war er damit unbeaufsichtigt auf die Strasse gefahren und übermütig in die Pedale getreten, um möglichst schnell zu werden. Vor einer abschüssigen Kurve hatte er nicht mehr rechtzeitig bremsen können und war einen steilen Abhang hinunter zu Tode gestürzt. Elses Mutter überwand den Verlust eines ihrer beiden Kinder nie. Sie begann zu trinken, ging kaum mehr unter die Leute, kapselte sich von der Welt ab und vernachlässigte ihre Familie. Ein paar Jahre später starb auch sie. Offiziell hieß es, an Leberzirrhose, bedingt durch übermäßigen Alkoholkonsum, doch war zweifellos auch der Seelengram an ihrem frühen Tod nicht unwesentlich beteiligt. Sie wollte einfach nicht mehr leben, war doch der kleine Sigi ihr Ein und Alles gewesen, weil sie sich immer einen Sohn gewünscht hatte. Else hatte gespürt, dass sie als Mädchen nur den zweiten Platz bei ihrer Mutter eingenommen hatte, fühlte sich aber deswegen nicht weniger schuld an ihrem Tod, wie auch an dem ihres kleinen Bruders. Hätte sie ihn damals beim Sturz vom Kirschbaum aufgefangen, wie es ihre Pflicht gewesen wäre, so hätte er sich die Knöchelverletzung nicht zuzogen und wäre später auf dem Fahrrad kräftig genug gewesen, um es aus der hohen Geschwindigkeit vor der Kurve und dem Abhang anzuhalten. In ihrem Innersten war Else davon überzeugt, dass dies der eigentliche Grund für ihre Kinderlosigkeit war, denn Gott sieht alles und lässt keine Missetat ungesühnt.
Auch die fast weiße Blässe ihrer Haut schrieb sie der göttlichen Strafe zu. Doch Arthur, ihrem späteren Ehemann, hatte gerade das an ihr gefallen, ebenso wie ihre schüchterne Zurückhaltung, die sie besonders ihm gegenüber an den Tag legte. Sie hatte sich nie erklären können, wieso dieser große, attraktive und charmante Mann, von dem jede ihrer Freundinnen träumte, der jede hätte haben können, die er wollte, sich ausgerechnet in sie verliebt hatte. Egal, durch welche Tür er trat, sofort richteten sich alle Augen auf ihn, derart imposant und einnehmend war allein schon seine äußere Erscheinung. Sobald er dann noch mit seiner tiefen Bassstimme zu reden begann, leise und langsam, jedes Wort mit Bedacht wählend, nie sich verhaspelnd oder unsicher werdend, verstummten alle anderen im Raum. Auch das, was er zu sagen hatte, faszinierte die Zuhörer, war nie zweitrangig oder nebensächlich, immer von Wichtigkeit, fundiert und wohlbegründet. Nie hatte sie dumme oder überflüssige Dinge aus seinem Mund gehört, nie erlebt, dass jemand seinen Argumenten nicht gefolgt wäre, ihm gar vor den anderen zu widersprechen gewagt hätte. Er hätte sich dabei nur lächerlich gemacht oder ins Abseits gestellt. Aber nicht nur seine angeborene Führernatur, die natürliche Autorität, die er ausstrahlte, die Art, wie er auftrat und wie er bei den Menschen ankam, nicht nur, was sie von ihm sah und hörte und wie alle, Männer und Frauen vor ihm Achtung und Respekt hatten, ihn bewunderten und stets versuchten, sein Ohr und sein Gefallen zu finden, ihm nacheiferten, wenn er nicht zugegen war, um so zu sein wie er, Erfolg in allem zu haben, Aufmerksamkeit und Anerkennung zu finden wie er, nahm sie von ihm ein und ließen ihre Knie ins Zittern kommen, wenn er in ihrer Nähe war, eines der untrüglichen Anzeichen einer Frau, dass ihre Gefühle für den Betreffenden mehr als nur die der Bewunderung waren. Und schließlich waren es die Güte in seinem Herzen und die die Zuneigung zu ihr, die sie spürte, die ihre Gefühle für ihn zu echter Liebe wachsen ließen,
Doch eingedenk ihrer schändlichen Unterlassung, die zwei ihrer Liebsten das Leben gekostet hatte, wie sie irrtümlich annahm, hatte sie diesen Mann, das kostbarste Geschenk, das die Vorsehung ihr je darzubringen bereit war, in ihren Augen nicht verdient. Das hatte sie sich aus Schuldgefühlen und Angst eingeredet und darum lange gezögert, seinen Heiratsantrag anzunehmen. Arthur hatte ihre Bedenken falsch gedeutet, gedacht, sie würde nicht genug für ihn empfinden und war darum umso glücklicher gewesen, als sie ihm nach Wochen eingestanden hatte, dass er die Liebe ihres Lebens sei, dass sie nur ihn wolle und dass er der Vater ihrer Kinder werden sollte. Doch auf die Heirat war die mit den Jahren, die dahingingen, immer stärker werdende Verzweiflung darüber gefolgt, dass sie keine Kinder bekommen konnten.
Aber jetzt, nach zwanzig Jahren, nach den Seelenqualen ungezählter durchweinter Tage und Nächte, nach der langen kinderlosen Zeit, war Else doch noch schwanger geworden, jetzt, wo sie schon vierundvierzig war, und das ohne jedes Zutun der Ärzte. Hatte Gott ihr verziehen, die Strafe beendet, die er über sie verhängt hatte?
Die Freude Elses und Arthur war so groß wie die Aussicht auf das bevorstehende Familienglück. Auch die Mitglieder der weitverzweigten jüdischen Gemeinde Wiens, vor allem aber derer, die an ihrer Seite im Stadttempel in der Seitenstettengasse beteten, unter denen sich die ungewöhnliche Sache rasch herumgesprochen hatte, waren in freudiger Erwartung auf das bevorstehende Ereignis, auf die Geburt des Kinder einer Frau, die als unfruchtbar gegolten hatte. Es geschah zwar nur an den hohen Feiertagen Rosch Haschana und Jom Kippur, dem Neujahrs- und dem Versöhnungstag, dass die Synagoge voll besetzt war, denn zu den übrigen Gottesdiensten, auch am Schabbat, kamen immer weniger Leute in das im 1. Bezirk gelegenen Bethaus des Allmächtigen, der einst den Bund am Sinai mit ihnen geschlossen hatte. Aber das Gerüchte- und Nachrichtentelefon funktionierte gut, auch ohne die neumodischen Apparate an der Wand. Zudem fühlten sich nicht nur die, die zu diesen seltenen Gelegenheiten andächtig in den Bankreihen des Gotteshauses sassen, mit ihren Glaubens- und Schicksalsbrüdern verbunden, so unterschiedlich sie auch waren, vom Taglöhner bis zum Professor. Es war das unsichtbare Band von zweitausend Jahren gemeinsam erlebten Leids im Exil und der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die ihnen die Propheten und das heilige Buch der Thora gaben, von und aus denen sie als Kinder gelernt hatten, das sie zusammenhielt, wie weit sie auch voneinander entfernt waren, in welchen Ländern des Erdballs sie auch lebten, verstreut über die Völker.
Alle, auch die, die die religiösen Gesetze nicht mehr oder nur noch in Teilen befolgten, waren dem Gott ihrer Vorväter nahe, waren mit ihm vereint, besonders dann, wenn sie das ewige Licht sahen, das vor dem Aron Hakodesch in den Synagogen brannte, dem Schrein, in dem sich die heiligen Rollen der Thora befanden, die der Allmächtige ihnen gegeben hatte, bedeckt vom rot- oder blausamtenen Vorhang, auf dem die Löwen Judas, der siebenarmige Leuchter und der Stern Davids zu ihrem Schutz prangten. Auch dann standen sie im Angesicht des Ewigen, wenn sie dem Ton des Schofars lauschten, des Widderhorns, das sie zur Ein- und Umkehr aufforderte, darauf, den Irrweg des Mannas und der Sünde zu verlassen, den richtigen zu erkennen, den Menschen zum Vorbild zu dienen, ihn zu gehen, den Weg der 613 göttlichen Gebote und Verbote, denn nur er führt zum wahren Sinn des Lebens und öffnet die Tore zum Olam haba, der herrlichen Welt danach. Sie fühlten sie sich einander zugehörig wie es bei keinem anderen Volk der Fall war, das kein eigenes Land mehr besass. Der Bund mit Gott, die heiligen Schriften und die nicht endenden Verfolgungen, die sie seit ihrer Vertreibung aus der Heimat im Galut hatten erdulden müssen, hatten sie zusammengeschweißt wie nichts anderes es vermocht hätte, ihre Gedanken und ihr Streben auf einzigartige Weise verbunden, wo immer sie sich befanden und so unterschiedlich in Geist, Gestalt und Fähigkeiten sie waren.
Anderseits hatte die Haskala, wie die Juden den Eintritt ins Zeitalter der Aufklärung in deutschen und anderen westlichen Landen nannten, in das der Ideen und Vorstellungen Goethes, Schillers, Kants, Descartes und Leibniz’, ihr Werk ebenso gründlich wie die althergebrachte Religion und die Verfolgungen getan. Viele hatte die Haskala vom Glauben der Väter so weit entfernt, dass sie sich überlegten, sich taufen lassen oder waren den unumkehrbaren Schritt gar schon gegangen, hatten den Austritt aus dem Volk Gottes bereits vollzogen. Dabei nahmen sie in Kauf, sich selbst zu verleugnen, sich zu denen zu gesellen, die ihre Brüder und Schwestern immer noch böswillig verfemten oder der schlechtesten Eigenschaften und schlimmsten Untaten beschuldigten. Bei der Sonntagspredigt in der Kirche bekamen sie vom Pfarrer zu hören, die immer noch dem Judentum Anhängenden wären der ewigen Verdamnis verfallene Nachfahren von Gottesmördern und starrsinnige Leugner des wahren Glaubens, weil sie nur das Alte, nicht jedoch das Neue Testament anerkannten und Jesus den Status eines Gottessohnes nicht zubilligen wollten. Niemand von denen, die dies predigten, es donnernd von den Kanzeln in die Reihen der Christusgläubigen und der bei ihm Trost suchenden riefen, die die die bösen Worte sprachen, mit denen sie sie gegen ihre jüdischen Mitbürger aufhetzten, dachte daran, dass die Juden zuvor auch keinen anderen Menschen als Gott verehrt hatten, vor ihren Statuen nicht niedergekniet waren, ihre Standbilder und ihre als heilig angesehenen, in Holz, Stein, gebrannten Lehm oder Papyrus geritzten und gezeichneten Symbole nicht angebetet hatten. Weder die Könige Babylons und Assyriens, noch die Pharaonen Ägyptens waren für sie göttlich gewesen. Sie alle waren von ihren Priestern als Gottessöhne bezeichnet worden und in Wahrheit doch nichts als Götzen gewesen, Auswüchse menschlicher Anmassung. Sie verhöhnten Gott statt ihn zu preisen.
Jesus selbst, Rabbi Jehoschua ben Jossef aus Beth Lechem, dem Dorf der Brotbäcker, hatte sich nie als Gott gefühlt, hatte zu ihm, dem Vater gebetet, wie es die Juden aller Epochen taten, denn Gott ist der Vater aller Menschen. Sein Bestreben war es, das Judentum zu reformieren, den Fragen und Forderungen seiner Zeit anzupassen. Nie fühlte er sich als etwas anderes denn als Jude, nie hätte er es gutgeheißen, dass ein anderer, Scha’ul, wie er richtig hieß, Saulos für die Griechen und Saulus für die Römer, ihn viele Jahre nach seinem Tod zum Gottessohn erklärte, zu einem derer, den er und die Seinen, die man später Jünger nannte, stets abgelehnt und als Api Kores, als Ungläubige, gar als Gotteslästerer bezeichnet hatten. Seine Ermahnungen, den Nächsten zu lieben und die Feinde zu ehren, waren keine neuen Erkenntnisse, wie die meinten, die in den Kirchen dazu aufriefen, im Leben aber das pure Gegenteil davon praktizierten, sondern Wiederholungen dessen, was in den heiligen Schriften der Juden an hundert Stellen geschrieben stand.
Der Übertritt zur Religion des Saulus, dem Christentum, das seit Konstantins Zeiten von Rom ausgehend die ganze westliche Welt erobert hatte, weil es die Mission erfunden hatte, eine seiner wenigen echten Neuerungen - im Judentum ist sie streng verboten -, schien den aus ihm Ausgetretenen die volle Gleichberechtigung zu bringen, die Beseitigung und Aufhebung gesellschaftlicher Schranken und das Ende der abwertenden und spöttelnden Witze über sie, die sie täglich hören mussten, sogar von den Nichtjuden, die behaupteten, ihnen wohlgesonnen zu sein.
Die Freude der Friedländers und der Wiener Juden, die nicht ins Christentum gewechselt waren, war doppelt, denn das Kind, ein Sohn, wurde am 10. März geboren, rosafarben, wohlriechend, pausbäckig, beim Austritt aus der Geborgenheit des Mutterleibs laut kreischend, seine Lungen entfaltend, das erste Mal die Luft einatmend, die ihm das Dasein auf Erden ermöglichte, genauso, wie es sich für ein gesundes Baby gehörte. Es war, und das war das Zeichenhafte daran, kein Tag wie jeder andere, nein, es war justament der Todestag Dr. Karl Luegers, eines üblen Antisemiten. In der langen Zeit, in der er als Bürgermeister der Stadt geamtet hatte, hatte er den Juden immer wieder neue Schikanen, Nachteile und anderes Ungemach bereitet, sie öffentlich mit den ärgsten Schimpf- und Schmachwörtern belegt, ihnen die Verantwortung und Schuld für alles Schlechte auf Erden zugeschoben, von Hungersnöten über Kriege und soziale Ungerechtigkeiten bis hin zu Grippe- und Pestepidemien, wie man sie ihnen Mittelalter zugeschrieben hatte. Bis zum letzten Tag seines Lebens hatte er nicht aufgehört, die christliche Bevölkerung Wiens in demagogischer Weise gegen sie aufzubringen. Verständlich, dass sein Ableben, das völlig unerwartet kam, von den Geschmähten und Verunglimpften mit Befriedigung begrüßt wurde. Dass es auf den Tag genau mit dem Wunder der Geburt des ersten Kindes einer fast fünfundvierzigjährigen jüdischen Frau zusammenfiel, die von den Ärzten seit vielen Jahren als unfruchtbar diagnostiziert worden war, wurde nicht nur von den Betenden im Stadttempel, sondern auch den in den meisten anderen Wiener Synagogen und Bethäusern – es gab fast zweihundert - als gütiges Walten Gottes betrachtet. Der Allmächtige hatte seine Kinder, zumindest die, die ihm treu geblieben waren, auch im Exil nicht vergessen, sie von ihrem größten Feind befreit und ihnen am selben Tag in Gestalt eines entgegen aller Wahrscheinlichkeit geborenen Kindes Vorfreuden auf eine bessere Zukunft geschenkt.
In der Leopoldstadt, der Brigittenau und dem Alsergrund, wo die Masse der einfachen Juden und der Mittelstand wohnten und ihrem Tagwerk nachgingen, um ihren Familien ein halbwegs gesichertes Auskommen zu bieten, aber auch in den vornehmen Villen der Reichen in Hietzing und Döbling, wo abends und an Feiertagen und Wochenenden den Annehmlichkeiten des Lebens ausgiebig gefrönt wurde, wurde lange darüber diskutiert und auf das Wohl des neuen Erdenbürgers Lechajim getrunken.
Sogar in den beiden als jüdisch geltenden Fußballclubs der Stadt, Rapid, dem der Arbeiter, und Vienna, den Nathaniel Meyer Freiherr von Rothschild, Grandseigneur, Naturliebhaber, Reiseschriftsteller, Fotograph und bedeutendster Mäzen Österreich-Ungarns, als ersten Wiens gestiftet hatte und den er präsidierte, wurde das freudige Ereignis, das sich wie ein Lauffeuer bis in die hintersten jüdischen Winkeln der Weltstadt herumgesprochen hatte, gebührend gefeiert.
Fritz Grünbaum und die anderen jüdischen Kabarettisten unterließen es nicht, die ungewöhnliche Sache auf ihre Weise zu kommentieren, die Besucher mit ihr zum Lachen zu bringen, ohne die Tränen zu unterdrücken, sowohl die der Belustigung wie auch die der Ironie und der Zukunftsangst. Letztere war mehr als angebracht, ohne dass die Juden es gewusst hätten. Keiner von ihnen ahnte auch nur im Entferntesten, was ihnen in wenigen Jahrzehnten bevorstand. Im Gegenteil, die rund zweihunderttausend, die es in Wien gab, nach den Katholiken die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe der Stadt, viel mehr als Protestanten und Moslems zusammengenommen, hatten ihre Kultur und ihren Wohlstand in erheblichem Maß mitgestaltet, waren Bürger der von vielen Völkern bewohnten Metropole der weitverzweigten und in die Moderne strebenden Habsburger Monarchie, in der Aufklärung und Toleranz herrschten. Zumindest dachten sie das. Jeden Gedanken an das Unfassbare, das die Zukunft für sie bereithielt, hätten sie als Unkenrufe Ewiggestriger, die die Zeichen der Zeit nicht erkannt hatten, weit von sich gewiesen.
Mit Ausnahme des Visionärs Theodor Herzl, der den ersten Zionistenkongress nach Basel einberufen und einen neuen Judenstaat vorgeschlagen hatte, und der aus den östlichen Provinzen des Reichs zugezogenen Kaftanträger, die schläfengelockt und schwarzgewandet den Unmut nicht nur vieler Christen, sondern auch der eingesessenen, modern gekleideten und liberal denkenden Juden erregten, waren die meisten überzeugt davon, dass die Zeiten der Exzesse des Judenhasses zumindest in deutschen und österreichischen Landen endgültig vorbei waren. Der Geist der deutschen Dichter und Denker, aber auch die Weisheiten Moses Mendelssohns schienen alles verändert zu haben. Die Exzesse des Antisemitismus unter Lueger betrachteten sie nur noch als das letzte Aufflammen eines im Erlöschen begriffenen Feuers, waren davon überzeugt, dass die Lösung der sogenannten Judenfrage in der Assimilation in die Wirtsvölker, nicht in der von Herzl und den Zionisten geforderten Auswanderung nach Palästina und der Gründung eines eigenen Staates für sie bestand.
Auf jeden Fall waren die Juden aus Wien nicht wegzudenken, welcher der vielen Strömungen sie auch angehörten. Sigmund Freud erdachte die Psychoanalyse und heilte Kranke, denen niemand sonst Hilfe bringen konnte. Medizin und Juristerei waren fest in jüdischer Hand. Arthur Schnitzler begeisterte Juden wie Nichtjuden mit seinen Liebesstücken im Vorstadt- und Offiziersmilieu. Alexander und Marie Roda Rodas Komödien erzielten Zuschauerrekorde. Der schon genannte Fritz Grünbaum wurde zum Vorbild aller Kabarettisten. Die berühmte Wiener Operette war als jüdisch verschrien. Hermann Bahr stand am Beginn der Wiener Moderne in der Literatur. Zum Gipfelkreuz der deutschsprachigen Schriftstellerei, genauer gesagt zu ihrem Gipfelstern, dem Himmel noch näher als Berlin, wie viele meinten, machten Wien die ebenfalls jüdischen Autoren Richard Beer-Hofmann, Felix Salten, Hugo von Hofmannsthal, Alfred Polgar, Peter Altenberg, Egon Friedell, Leo Perutz, Franz Kafka, Franz Werfel, Joseph Roth, Else Lasker-Schüler und Stefan Zweig.
Der Jude Karl Kraus erhob Wien zum Weltzentrum des Sarkasmus. Als ein Antisemit einmal zu ihm meinte, die Juden seien an allem Unglück der Welt schuld, antworte er:
«Nein, die Radfahrer.»
Verwundert fragte ihn der Antisemit:
«Warum die Radfahrer?»
Karl Kraus darauf: «Warum die Juden?».
Der Schachkönig aus dem Prager Ghetto Wilhelm Steinitz herrschte unbestritten auf den vierundsechzig Feldern, bis ihm Emanuel Lasker, ein anderer Jude, vom Thron stiess. Johann Strauss, der ebenfalls von Juden abstammte, war der absolute Liebling aller Wiener und Wienerinnen. Seine Klänge im Dreiviertel-Takt berauschten die Menschen, seine Walzer machten Abendgesellschaften und Bälle zu Ereignissen, die mit dem Pariser Can-Can Jacques Offenbachs, des gefeierten französischen Juden, im friedlichen Wettstreit um die Krone der Beschwingtheit und Ausgelassenheit lagen.
Die überglücklichen Eltern Else und Arthur Friedländer gaben ihrem Sohn den weltlichen Namen Max und den jüdischen David, nannten ihn aber später nur noch Maxi. Zur Bris Mile, der Beschneidung des unter solch besonderen Umständen geborenen Knaben am dritten Tag nach der Geburt, die auch bei wenig religiösen Juden aus dem Leben nicht wegzudenken ist, und zur anschließenden Feier kamen so viele Leute in den Tempel in der Seitenstettengasse, dass bei weitem nicht alle hineinpassten. Es bildete sich eine riesige Menschentraube, die über den Judenplatz hinaus bis zum Platz am Hof reichte.
Sogar der Neuen Freien Presse, der nicht nur in Österreich-Ungarn führenden deutschsprachigen Tageszeitung, war der Auflauf und der Anlass, der zu ihm geführte hatte, eine Meldung wert. Ihr Chefredaktor und spätere Korrespondent in Paris war bis vor wenigen Jahren der ebenfalls schon genannte, früh verstorbene Theodor Herzl gewesen. Er war es, der über den Prozess gegen Alfred Dreyfus und seine Begleiterscheinungen berichtet hatte. Ein jüdischer Hauptmann, der einzige Jude im französischen Generalstab, war des Hochverrats beschuldigt, entgegen seinen stets wiederholten Unschuldsbeteuerungen aufgrund fadenscheiniger Indizien zur Verbannung auf die Teufelsinsel verurteilt worden. Unter dem johlenden Beifall des judenfeindlichen Mobs wurde er im eigens dafür der Öffentlichkeit geöffneten Kasernenhof degradiert und aus der Armee ausgestoßen. Was Herzl dabei sah, den Hass der Menge auf die Juden in einem der hochzivilisierten Länder Europas, nach Ansicht vieler sogar dem zivilisiertesten von allen, zumindest aber dem, das gemeinsam mit Deutschland und Österreich an der Spitze der westlichen Zivilisation stand, brachte ihn, den weltlichen, der Religion fast gänzlich abgekehrten Juden dazu, dem Gedanken der Assimilation seiner Glaubensbrüder in die europäischen Mehrheitsgesellschaften, dessen oberster Verfechter er gewesen war, ein für alle Mal abzuschwören.
Er forderte nun ihre Heimkehr die alte, zwischen dem Mittelmer und dem Jordanfluss gelegene Heimat. Nach wechselnden Besetzungen gewalttätiger Eroberer und jahrhundertelanger Abholzung war sie zu einer steinigen, unfruchtbaren und dünn besiedelten Provinz des türkischen Sultans verkommen, in der Sümpfe und Malaria Landwirtschaft unmöglich machten. Ihn und seine Effendis, die im weit entfernten Istanbul in feudalem Luxus residierten, interessierte der karge Landstrich nur noch, um den wenigen arabischen Schafhirten, die es in ihr neben den frommen, dem Gebet und Thorastudium zugewendeten Juden in Safet und Jerusalem noch gab, die letzten Dinare als Pacht und Steuern aus den Taschen zu ziehen. Außer wasserlosen Wüsten und sengender Hitze gab es dort nichts mehr.
Doch genau dort, als das Land noch grün und waldbestanden war, hatten während Tausenden von Jahren die Juden gelebt, dem Ewigen den Tempel erbaut, das vielleicht grösste Bauwerk der Antike. Saul, David, Salomon und ihre zahlreichen Nachfolger hatten dort die Königreiche Israel und Juda errichtet, die Propheten dort die Welt zur Besserung ermahnt. Alexander war dort vor dem Hohepriester auf die Knie gesunken, die Makkabäer hatten dort die Seleukiden besiegt. Nun gebot ihnen Herzl, genau dorthin, in die alte Heimat zurückzukehren, die auch die neue werden sollte, Städte zu errichten und das Land wieder fruchtbar zu machen. Erste Pioniere waren schon ausgezogen, hatten Siedlungen gegründet, in denen sie im Schweiße ihres Angesichts den Boden wieder Leben einzuhauchen begannen. Nur genau dort, im eigenen Staat, dem neu zu gründenden Israel, würden die Juden als freie und gleichberechtigte Bürger leben können, ohne antisemitische Übergriffe wie in Europa befürchten zu müssen, prophezeite ihnen Herzl.
Doch sein Buch Altneuland, mit dem er die Idee propagierte, wurde von den meisten Wiener Juden nur belächelt. 1897, zum von ihm einberufenen Kongress der Zionisten, kamen hauptsächlich Vertreter des russischen Judentums, das unter den vom Zar begünstigten und von den Kosaken begangenen Pogromen enorm geblutet hatte. Diejenigen, die nicht nach Amerika auswandern wollten, sahen ihr Heil im Land der Väter, das Herzl ihnen versprach, dem Land, aus dem sie einst von den Römern vertrieben worden waren. Von den Juden der anderen europäischen Länder aber, obwohl auch sie seit fast zweitausend Jahren von der Rückkehr geträumt hatten, an jedem Pessachfest beteuert hatten Jerusalem, wenn ich deiner vergesse, verdorre meine Rechte, waren nur Wenige bereit, dem Aufruf Herzls zu folgen. In Wien waren es in erster Linie die Idealisten der Jugendbünde Haschomer Hatza’ir, Betar und Bne Akiwa, die alles stehen und liegen ließen und das gewohnte und bequeme Leben in der Weltstadt gegen das unbekannte und harte Dasein in der Wüste tauschten. Jugendlicher Eifer und Idealismus waren ihre Triebfedern. Aber mit der Zeit gesellten sich immer mehr zu ihnen, nicht nur junge Hitzköpfe. Es war der keineswegs besiegte Antisemitismus, der sie aus Österreich und anderen Ländern vertrieb. Entgegen den Erwartungen nahm er nicht ab, sondern ganz erheblich zu, wurde immer aggressiver und virulenter.
Aber noch war es nicht soweit, noch schrieb man das Jahr 1910, an dem die Welt der Wiener Juden noch in Ordnung schien, besonders nach dem Tod Dr. Karl Luegers.
Wenig mehr als vier Jahre nach der Geburt Max-David Friedländers brach der Krieg aus, den man später den Ersten Weltkrieg nennen sollte. Niemand ahnte bei seinem Ausbruch, dass er zwanzig Millionen Menschen das Leben kosten würde. Niemand hätte sich vorstellen können, dass er nach vier schrecklichen Jahren das Gesicht Europas von Grund auf verändern, seine Landkarte vollkommen umgestalten und seine Völker auf eine Art neu ordnen sollte, die zu Beginn des Krieges undenkbar war. Davon und vom Leid, das Völkerringen in bisher nie gekanntem Ausmass verursachte, war anfangs nichts zu spüren. Im Gegenteil, Wien, wie alle anderen Städte in den Reichen der Kaiser Franz Joseph und Wilhelm II, war von Begeisterung und Euphorie für die angebliche Strafaktion gegen die Auftraggeber des Mordes am österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand ergriffen. Bei einem Besuch in der österreichischen Provinzhauptstadt Sarajewo war er mitsamt seiner Gattin, der kommenden Kaiserin, einem Attentat serbischer Nationalisten zum Opfer gefallen. Wenige nur wussten, dass die Bestrafung Serbiens nur ein Vorwand Franz-Josephs und Wilhelms zum Einmarsch in Serbien und zur Niederschlagung des serbischen Nationalismus war. Ein absichtlich unannehmbar verfasstes Ultimatum Österreich-Ungarns zur Aufspürung und Anklage der Hintermänner hatte Serbien erwartungsgemäß abgelehnt, sodass Franz-Joseph, wie von langer Hand geplant, Serbien den Krieg erklärte.
Aufgrund teilweise geheimer Beistandsverpflichtungen kamen Russland, Frankreich und Großbritannien Serbien zu Hilfe und erklärten ihrerseits Österreich-Ungarn den Krieg, das von Deutschland unterstützt wurde. Damit war der Weltenbrand entfacht.
Als treue Untertanen ihrer Kaiser und stolze Bürger ihrer Staaten meldeten sich die Juden in Scharen zu den Waffen. Für viele war es die Gelegenheit, ihre Zugehörigkeit zum deutschen und deutsch-österreichischen Volk, auf der Gegenseite aber auch zum französischen, englischen und russischen unmissverständlich unter Beweis zu stellen und damit, so glaubten sie, dem Antisemitismus in ihren Ländern endlich die Basis zu entziehen.
In allen Teilen Deutschlands und Österreich-Ungarns, den Mittelmächten – ihnen sollten sich noch Bulgarien, die Türkei und Italien anschließen, Italien allerdings nur für kurze Zeit - sprachen die Juden Deutsch. Von Lüneburg und Königsberg an Nord- und Ostsee bis nach Montenegro an der südlichen Adria und vom Elsass im Westen bis nach Czernowitz im äußersten Osten fühlten sie sich als Deutsche, egal ob sie unter Ungarn, Tschechen, Slowaken, Polen, Italienern, Ruthenen, Slowenen, Bosniern, Dalmatinern, Galizianern, Bukowinern, Rumänen oder einer anderen der zweiunddreißig Nationen lebten, die Franz Joseph als ihr Oberhaupt anerkannten. Unter Wilhelm gab es sowieso nur Deutsche. Das behauptete er wenigstens.
Auch Arthur Friedländer gehörte zu denen, die sich freiwillig meldeten und mit absoluter Siegesgewissheit im Sommer 1914 einrückten. Wie alle war auch er davon überzeugt, noch vom dem Chanukkafest, für die christlichen Waffenbrüder war es das Weihnachtfest, wieder zu Hause zu sein. Mit den Serben und ihren Helfern würde man kurzen Prozess machen, hatte ihnen der Kaiser versichert und des Kaisers Wort kam dem Gottes gleich.
Doch der Krieg entwickelte sich ganz anders als geplant. Im Westen erstarrte die Front auf französischem und belgischen Boden. Für Geländegewinne von wenigen Hundert Metern, die kurz drauf wieder verloren gingen, wurden ganze Divisionen geopfert. Hunderttausende starben einen sinnlosen Tod. Im Osten leisteten die Russen speziell den schlecht ausgebildeten österreichischen Truppen erbitterten Widerstand, hielten ihren Vormarsch nicht nur auf, sondern gingen zum Gegenangriff über, entrissen ihnen gar die urösterreichische Stadt Czernowitz, das Wien des Ostens, wie sie genannt wurde.
Die deutschen und ungarischen Soldaten, die christlichen wie die jüdischen, die mohammedanischen nicht zu vergessen, standen fest zum Kaiser. Viele der slawischen, rumänischen, polnischen, ruthenischen und anderen aber sahen sich in einem Gewissenskonflikt, wollten nicht gegen ihre Brüder kämpfen, die auf russischer Seite unter Waffen standen. Nicht wenige desertierten oder weigerten sich, zu schießen, was die Heeresführung gewissentlich verschwieg, um weiterem Defaitismus keinen Vorschub zu leisten.
Else Friedländer in Wien, dem des Westens, erhielt Anfang November 1914, kaum vier Monate nach Kriegsbeginn, den Besuch eines Offiziers des Generalstabs in voller Montur. Er stellte sich als Hauptmann von Hoyersberg vor, erschien in Begleitung seines Adjutanten, bat um Einlass und meinte, er hätte eine wichtige Mitteilung, wäre eigens vom Stab mit dem Auftrag betraut worden, sie aufzusuchen und sie ihr persönlich zu überbringen. Sie solle sich keine Sorgen machten, ergänzte er noch vor dem Eintritt in die, im zweiten Stock eines Mietshauses in der Alserstrasse im 9. Bezirk gelegenen Wohnung, ihr Gatte sei am Leben und hätte ganz Außerordentliches geleistet. Auch deswegen wären er und Unterleutnant Andlinger hier, sein Adjutant. Mit ungutem Gefühl bat Elsa die beiden Offiziere herein. Dass Gefühl sollte sie nicht trügen. Nachdem die Herren sich gesetzt hatten, Else musste sich eingestehen, dass sie schneidig aussahen, genauso wie es sich für k. und k. Offiziere gehörte, und höflich am Cognac genippt hatten, den sie ihnen servierte, erklärte ihr Hauptmann von Hoyersberg, ihr Mann sei ein wahrer Held, wäre mit der Goldenen Tapferkeitsmedaille geehrt worden. Es handle sich um eine der höchsten militärischen Auszeichnungen, die die österreichisch-ungarische Armee an Nichtadelige zu vergeben hätte, erklärte er bedeutungsvoll. Nur ganz wenige Soldaten würden sie erhalten. Zudem sei er für die Führungsqualitäten, die er klar unter Beweis gestellt hätte, ohne Absolvierung der normalerweise dafür erforderlichen Schulen und Kurse zum Leutnant befördert worden. Zusätzlich zum lebenslangen Ehrensold für die Tapferkeitsmedaille in Gold hätte der Kaiser persönlich, nachdem er von der Heldentat ihres Mannes erfahren hatte, der Familie eine Kriegspension ausgesetzt, die sie aller materielleren Sorgen entledigen würde. Die ganze Kompanie, nein die ganze Armee sei stolz auf Leutnant Friedländer.
Else, die immer noch nicht wusste, wie es ihrem Mann ging, sich schon mehrmals vergeblich nach seinem Befinden erkundigt hatte, wurde immer nervöser. Hauptsache, er sei am Leben, hatte von Hoyersberg bisher nur auf ihre immer wiederkehrenden Fragen geantwortet. Sie solle sich ein ganz klein wenig gedulden, ihn zuerst von seiner Heldentat berichten lassen, hatte er stets wiederholt, was sie in einen Zwiespalt der Gefühle stürzte. Arthur war ein Held, also warum sagte ihr der Hauptmann nicht, wie es ihm ging? Irgendetwas Schlimmes musste ihm zugestoßen sein, befürchtete sie, sonst wäre er schon längst mit der Sprache herausgerückt. Und was sollte der Hinweis auf Kriegspension? Eine solche bekamen doch nur Schwerstversehrte oder die Hinterbliebenen von Gefallenen. Wenn er noch am Leben war, so kam nur die erste Möglichkeit in Betracht. Um Himmels willen, was nur war ihm nur zugestoßen?
Sie hörte kaum zu, was der Hauptmann ihr über seine Heldentat berichtete, wartete ungeduldig darauf, bis er endlich auf seinen Gesundheitszustand zu sprechen kam. Wie undeutliches Rauschen drang die Erzählung an ihr Ohr, dass ihr geliebter Arthur, der Vater ihres vierjährigen Sohnes, der friedlich und nichtsahnend im Kinderzimmer nebenan schlief, die ganze Kompanie vor dem sicher scheinenden Untergang gerettet, alle Mann vor dem Tod bewahrt hatte. Ohne Rücksicht aufs eigene Leben, so berichtete von Hoyersberg mit unverhohlener Bewunderung, sei er im Kugelhagel und im Geschützfeuer, durch das noch kein Mensch lebend gekommen wäre, mitten durchs Minenfeld über die Front zu den russischen Stellungen gerannt, hätte sich in den Bunker gestürzt, von dem aus seine Kameraden wie die Fliegen niedergemäht worden waren und hätte die beiden MG-Schützen mit dem Bajonett erledigt. Damit nicht genug, sei er danach brüllend und wild um sich schießend herausgekommen, was die anderen Russen in derartige Panik versetzte, dass sie unter Zurücklassung all ihrer Waffen geflohen wären. Er hätte ganz alleine einen ganzen Zug Russen besiegt, zudem nicht irgendeinen, nein, einen, der die Operationen der österreichisch-ungarischen Truppen an einer strategisch wichtigen Stelle, wo dürfe er aus Geheimhaltungsgründen nicht sagen, in Gefahr hätte bringen können. Ihr Mann, darauf könne sie mit Fug und Recht stolz sein, fügte er ein und hielt mehrere Sekunden lang mit seinem Bericht inne, um die Bedeutung seiner Worte hervorzuheben, hätte der Armee große Verluste erspart, den Kriegsverlauf dadurch vielleicht sogar entscheidend zu des Vaterlands Gunsten beeinflusst. Nicht viele Heldentaten in der k. und k. Armee wären mit seiner vergleichbar.
Der Hauptmann, ein schlaksiger, temperamentvoller Mittdreißiger mit schmalem, elegant geschnittenem Oberlittenbart und tadellos gescheiteltem, blauschwarz schimmernden Haar, war von seinem, mit leuchtenden Augen vorgetragenen und von heftigen Gesten begleiteten Bericht selbst derart begeistert, dass er ganz vergass, auf das zu sprechen zu kommen, was Else am meisten interessierte und worauf sie die ganze Zeit wartete, den Gesundheitszustand ihres Mannes. Er hielt in seinem Bericht nochmals inne und ließ seine Worte erneut wirken. Am meisten beeindruckte und faszinierte er damit jedoch sich selbst und seinen Adjutanten. Der hatte die ganze Zeit schweigend neben ihm gesessen und während der Erzählung seines Vorgesetzten immer nur zustimmend genickt.
Endlich wurde von Hoyersberg sich bewusst, dass er der Frau des Helden auch noch über die negative Seite der Tat berichten musste. Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich.
«Ja», räusperte er sich, «als alles schon vorüber war, als unsere Leute die von ihrem Mann eroberte Stellung schon besetzt hatten und mit dem Entschärfen der Minen beschäftigt waren, explodierte eine von ihnen ausgerechnet unter den Füßen ihres Mannes. Das Schicksal ist manchmal undankbar und skrupellos, nimmt keine Rücksicht auf das Große, was der von ihm hart Gestrafte noch kurz zuvor geleistet hat.
«Was ist mit ihm?» schrie Else in äußerster Angst und Verzweiflung, war am ganzen Leib ins Zittern gekommen, «sagen Sie mir es endlich!»
«Es fällt mir schwer», antwortete der Hauptmann leise, «es ihnen mitzuteilen. Ein Mann wie er, von dem wir in der ganzen Armee keinen Zweiten haben, hat beide Beine verloren, aber wie gesagt, er lebt, er lebt, er lebt! Das ist doch die Hauptsache, liebe Frau Friedländer. Danken wir Gott dafür, dem Ihren wie dem christlichen, der in Wahrheit doch ein und derselbe ist!»
Else wurde schwarz vor Augen. Sie begann zu hecheln, verfiel in einen Weinkrampf. Der Hauptmann versuchte sie zu trösten, fasste die völlig Verzweifelte vorsichtig an den Schultern.
«Sie sind die Ehefrau des größten Helden, den unser Land hat. Verzagen Sie nicht. Wie gesagt, er ist am Leben, wird bald zu Ihnen und Ihrem Sohn nach Hause zurückkehren. Den Krieg hat er hinter sich und eine glänzende Zukunft vor sich, auch ohne Beine. Wer würde nicht stolz auf ihn sein, ihm für seine Tat danken, wer ihm nicht eine Stellung geben, die seiner würdig ist? Unser Land hat viele Patrioten, die es sich leisten können und es auch tun werden, davon bin ich überzeugt!»
Er erging sich noch in langen Ausführungen über die jüdisch-christliche Waffenbrüderschaft. Nie hätte er gedacht, so meinte er, dass ein Jude zu einer solchen Tat, zum Beweis solchen Mutes und solcher Aufopferungsbereitschaft fähig wäre. Doch er sei eines Besseren belehrt worden, müsse das in aller Offenheit zugeben. Nach dem Krieg, der bald gewonnen wäre, wie er anfügte, wäre es für alle Zeiten aus mit dem leidigen Antisemitismus in Österreich-Ungarn, dafür würden er und seine Kameraden im Offizierschor schon sorgen, wenn es überhaupt noch nötig wäre. Schließlich hätte alle Welt gesehen, wozu Juden imstande wären, nicht nur ihr Mann. Auch andere hätten sich in der Armee hervorgetan, Hervorragendes geleistet, alles fürs Vaterland gegeben. Ob Jude oder Christ, das sei nun einerlei, der Herrgott und die Apostel seien schließlich auch Juden gewesen, das hätte so mancher vergessen.
Keine drei Wochen später kam Arthur nach Hause, besser gesagt, er wurde von einer Ordonnanz im Rollstuhl ins Haus gefahren und dann die Treppen hinauf bis zur Wohnungstür getragen. Ohne Beine, den Rumpf und die Arme abgemagert durch den Kriegsdienst und die Zeit im Lazarett, wog er nicht mehr viel. Es bereitete dem Soldaten keine Mühe, den dürr gewordenen Mann mit dem schmerzverzerrten Gesicht über die Schwelle zu hieven. Nichts mehr an ihm erinnerte an die Größe und Kraft, die er noch vor wenigen Monaten besessen und ausgestrahlt hatte. Die Uniformjacke schlotterte an seinem hageren Oberkörper, stand weit ab, hing an ihm herunter wie ein viel zu großer Mantel.
Else, die über sein Kommen benachrichtigt worden war und den ganzen Tag ruhelos in der Wohnung auf seine Ankunft gewartet hatte, nicht in der Lage gewesen war, in ihr Näh- und Schneideratelier zu gehen, das sich mit einem kleinen Schaufenster strassenseitig im Parterre des Hauses befand, um wie üblich Kunden zu bedienen und ihrer gewohnten Arbeit nachzugehen, fiel ihm schluchzend um den Hals. Sie hatte versucht, sich auf seinen Anblick vorzubereiten, sich vorzustellen, wie er jetzt wohl aussehen würde, doch was sie zu sehen bekam, übertraf ihre schlimmsten Befürchtungen. Der Schrecken stand ihr mit Großbuchstaben im Gesicht geschrieben. Es gelang ihr nicht, ihn vor Arthur zu verbergen. Obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, tapfer zu bleiben, ihm Stärke zu zeigen und Stärke zu vermitteln, ihm Mut für die Zukunft zu machen, schaffte sie es nicht, ihre Tränen vor ihm zu verbergen.
Aber es war nicht ihre Angst und Sorge um ihn, nicht das Entsetzen über seinen Zustand, den er in ihrem Gesicht sah, die ihn mit seinem Schicksal hadern ließen. Es waren die unablässigen Gedanken daran, dass er unwiderruflich und für alle Zeiten zum Krüppel geworden war, nicht mehr in seinem Beruf als Gartenbaumeister der Stadt würde arbeiten, nicht mehr mit den Senioren der Vienna würde Fußball spielen können, zu einem nutzlosen Mitglied der Gesellschaft geworden war, seiner eigenen Familie nur noch zur Last fallen und ein unnützer Mitesser sein würde, den man bemitleidete, ihm vielleicht sogar den baldigen Gnadentod wünschen würde, die ihn in die tiefsten Niederungen seiner Existenz drückten. Ihn, der noch vor wenigen Wochen so stark und zuversichtlich gewesen war. Von der Selbstsicherheit und Überlegenheit, die er ausgestrahlt hatte, mit der er alle Menschen in seinem Umfeld in den Bann gezogen, sie fasziniert hatte wie kein Zweiter, ihnen den Tag zum Fest gemacht hatte, war nichts, aber auch gar nichts geblieben.
Elses Küsse erwiderte er nur zögerlich, tätschelte geistesabwesend und ihn kaum ansehend den kleinen Maxi, der unbeholfen und verängstigt über den Anblick und die weltfremde und unbekannte Niedergeschlagenheit und Traurigkeit seines Vaters neben seiner Mutter stand. Zutiefst bedauerte er es, bei der Explosion der Mine nur die Beine und nicht das Leben verloren zu haben. Ein schnelles Ende wäre ihm tausendmal lieber gewesen als das lange Warten auf den Tod.
Fortan war nichts mehr wie früher. Nicht etwa, weil Arthur keine Beine mehr hatte, im Rollstuhl saß, nicht mehr arbeiten, Fußball spielen oder seiner Familie nützlich sein konnte, sondern weil der Unfall sein Wesen zur Gänze verändert hatte. Hatte er zuvor auch nach einem langen und anstrengenden Arbeitstag immer noch Zeit gefunden, mit seinem Sohn zu spielen, ihn auf dem Arm zu nehmen und ihm Märchen oder spontan erfundene Geschichten zu erzählen, die seinen Sohn an den Lippen des Vaters hingen ließen, war er Else ein aufmerksamer und liebender Ehegatte gewesen, der ihr zuhörte, all ihre Sorgen verstand, eine Lösung für jedes Problem und einen Ausweg aus jeder Sackgasse wusste, in der sie sich wähnte, hatte er seine Freunde und Sportkollegen mit seinem Witz, seinen Bonmots und seiner Lebenslust begeistert, ja regelrecht mitgerissen, so war all das und noch viel mehr, was ihn früher ausgezeichnet hatte, vollständig aus ihm gewichen. Nichts mehr war von seinem Charme, seinen geistreichen Bemerkungen, seiner ansteckenden Fröhlichkeit, seiner strotzenden Lebensfreude, seinen Ideen, seiner Zuversicht und seiner Anteilnahme an dem, was andere beschäftigte, geblieben. Er sprach kaum noch, saß von früh bis abends nur noch am Fenster, sah auf das hinaus, was draußen geschah, in der Welt, die nicht mehr die seine war, für die er sich nicht mehr interessierte, an der er nicht mehr teilhatte.
Die Reporter und Fotografen der Neuen Freien Presse und anderer Zeitungen und Zeitschriften, die ihn um Interviews regelrecht bestürmten, empfing er erst nach mehreren Absagen, nur um endlich Ruhe vor ihnen zu haben. In ihrer Anwesenheit, die ihm unangenehm und lästig war, war er mürrisch und wortkarg, beantwortete ihre Fragen knapp und widerwillig. Sie mussten ihn drängen, doch endlich etwas von dem zu erzählen, was er an der Front an Schrecklichem und Todbringenden erlebt hatte, was er fürs Vaterland geleistet hatte. Doch seine, von allem bewunderte und gerühmte Heldentat genau und in allen Einzelheiten zu beschreiben, dauernd zu wiederholen, was sie von ihm hören wollten, wie er jede Gefahr missachtend durchs Minenfeld gerannt war und die russische Stellung ganz allein genommen hatte, ein Mann gegen zehn, widerstrebte ihm zutiefst. Er berichtete nur das Nötigste, um die Quälgeister so rasch wie möglich loszuwerden, die mit ihren Fragen nicht aufhörten. Trotzdem waren die Blätter voll der Anerkennung und des Lobes für ihn und seine Tat. Sie berichteten ausführlich darüber, beschrieben ihn als einen der mutigsten Soldaten Österreich-Ungarns, wenn nicht gar den mutigsten von allen, der sich ungeachtet dessen einen bescheidenen Charakter bewahrt hätte, nicht mit seiner Tat prahlen würde, ein einfacher und anständiger deutsch-österreichischer Familienvater geblieben wäre. Nicht nur in Wien war er zu einer Berühmtheit geworden. Davon, dass er Jude war, stand für einmal nirgends etwas.
Sobald die Presseleute gegangen waren, starrte er wieder ins Leere, in die Leere, die ihn umgab, weil er alles aus seinem Kopf entfernt hatte, das sie hätte ausfüllen können. Das Unerträglichste für Else und Maxi aber war, dass er auch sie nicht mehr richtig wahrnahm, sich kaum noch mit ihnen beschäftigte, nicht mehr hörte, was sie ihm zu sagen hatten, ihnen nicht mehr antwortete, nicht mehr für sie da war, obwohl er ständig um sie herum war. Else drang nicht mehr zu ihm durch und für Maxi war er ein Fremder geworden, kam ihm wie ein störender, unbeweglicher Fels vor, um den er einen Bogen machen musste, wenn er in sein Zimmer zum Spielen oder Lernen wollte. Arthur sah keine Zukunft mehr, fand sein Dasein nutz- und sinnlos, wusste nicht, was er mit seinen Tagen anfangen sollte und war es leid, nichts als ein Störenfried zu sein, sich selbst und denen, die er einmal geliebt hatte, nur noch zur Last zu fallen. Seine Gedanken drehten sich im Kreis, verschwammen in seinem Hirn zu einem Brei, in dem er elendiglich versank. Der Krieg deckte die Probleme der Juden in Wien nur mit einem dünnen Mantel zu. Das irdische Dasein Arthur Friedländers aber hatte er zerstört. Auch wenn er ihn nicht getötet hatte, so war sein Leben zu Ende, noch bevor er den Offiziersrevolver nahm und sich am 10. März 1915 erschoss, auf den Tag genau fünf Jahre nach dem Tod Karl Luegers, den der Krieg aus den Köpfen der Wiener nur zeitweise verdrängt hatte.
Als Else am Nachmittag vom Schneiderladen in die Wohnung hinaufkam, um rasch das vergessene Ballkleid einer Kundin zu holen, das sie letzte Nacht noch erweitert hatte, weil seine Besitzerin, die im letzten Jahr stark zugenommen hatte, es schon heute Abend unbedingt tragen wollte, fand sie ihren Mann unbeweglich im Rollstuhl sitzen. Sie dachte, er würde schlafen, bis sie das eingetrocknete Blut an seinen Haaren entdeckte. Sie erschrak, rüttelte ihn, doch er rührte sich nicht mehr. Sie sah seinen weit geöffneten Augen, die erstarrten Pupillen, erblickte den Revolver, der neben ihm am Boden lag und schrie auf. Sie war davon überzeugt gewesen, dass Arthurs Traurigkeit und Abwesenheit nur eine, auf den Verlust seiner Beine zurückzuführende Depression wäre, die über kurz oder lang vorübergehen würde. Jetzt aber erkannte sie, dass es viel mehr als das gewesen war. Sie warf sich auf den Boden, hämmerte mit den Fäusten aufs Parkett, bis sie rot anschwollen und die Haut an den Fingerknöcheln aufriss. Sie fühlte die Schmerzen nicht, sah nichts mehr um sie herum, fiel in ein noch tieferes Loch als das, in dem Arthur in den letzten Tagen seines Lebens gewesen war. Einem Sturzbach gleich brachen die Tränen aus ihr heraus, strömten über ihre Wangen, salzten ihren Mund. Sie wollte laut schreien, aber nichts als heiseres Zittern der Stimmbänder und gurgelndes Röcheln der Luftröhre kamen aus ihrer Kehle. Sie hatte ihren über alles geliebten Mann, den Vater ihres Sohnes – wenigstens war er in diesem schrecklichen Moment bei einer Nachbarin und musste ihn nicht miterleben - endgültig verloren. Er war tot, für immer von ihr gegangen. Nichts konnte ihn mehr zu ihr zurückbringen. Doch nicht sein Tod war es, der ihre Seele verschüttete, sie so weit unter sich begrub, dass sie nie mehr Liebe für einen Mann empfinden konnte, es war das Ende der Hoffnung, das Aus für den innigsten Wunsch, den sie je gehegt hatte, den, der ihre Hoffnung bis zuletzt aufrecht erhalten und genährt hatte, die Hoffnung darauf, dass Arthur die Depression eines Tages überwinden und wieder ganz der Alte werden würde, der, der er vor dem Krieg gewesen war, auch ohne seine Beine, die ihr viel weniger wichtig als ihm gewesen waren. Es waren nicht seine Beine, auch kein anderer Körperteil von ihm, die sie geliebt hatte, er selbst war es gewesen, das, was ihn wirklich ausmachte, das, was liebende Menschen auch dann noch zusammenhält, wenn die Schönheit der Jugend vergangen und der Reiz des Körperlichen vergangen ist. Das hatte er nicht verstanden. Es war keineswegs verwunderlich, denn in den Zeiten des Krieges, den Franz Josef und Wilhelm entfesselt hatten, galten der Gesellschaft nur unversehrte Männer an der Front und im Heim als vollwertig.
Kaum waren die sieben ersten Tage der Trauer vorbei, in denen sie mit eingerissenen Kleidern neben den nächsten Angehörigen Arthurs, seinen Eltern und seinen beiden Schwestern auf einfachen niedrigen und ungepolsterten Schemeln Schiwe gesessen und die Kondolenzbesuche von Freunden und der Honoratioren der jüdischen Gemeinde empfangen hatte, ohne ihnen die Hand zu geben und mit ihnen über anderes als die heiligen Schriften zu reden, wie es die Religion des Einen Gottes für diese Zeit vorschreibt, die es im Leben jedes Menschen gibt, wie klug, mächtig oder reich er auch sein mag, stürzte sich Else in die Arbeit, um zu vergessen und den Schmerz des Verlustes nicht mehr zu spüren, aber auch um keine Trostworte mehr hören zu müssen, die ihre Pein nur vergrößerten, statt sie zu lindern.
Zwar war Wien Tausende von Kilometern weit weg vom Kampfgeschehen, es gab keine Kriegshandlungen in der Stadt, und doch war das Leben für die meisten seiner Bewohner in den Jahren des Weltkriegs fast noch schwerer als das der Soldaten an der Front. Die Zeit waren gekennzeichnet von Mangel an Brot und Kohle, von zehn Grad minus im Winter in ungeheizten Wohnungen, von astronomischen Preissteigerungen, weitverbreiteter Arbeitslosigkeit, Hunger, Armut und Krankheiten, Plünderungen, Raubüberfällen und Strassenschlachten mit der Polizei um einen Sack Zucker oder Mehl. Keine Hauptstadt einer Kriegspartei litt in dieser Zeit mehr als Wien. Nur Wenige mussten nicht darben. Zu ihnen gehörten Else Friedländer und ihr Sohn Max-David. Obwohl Else alles andere als eine Kriegsprofiteurin war, schaffte sie es dank der nicht unbeträchtlichen monatlichen Pension, die sie als Witwe eines Offiziers und Kriegshelden erhielt, dank unermüdlicher Arbeit in ihrem Schneideratelier, vor allem aber dank ihrer klugen Art, das Geld zu verwalten, weder Hunger leiden zu müssen, noch in Not zu geraten oder sich in einer ungeheizten Wohnung die Gliedmaßen abzufrieren.
Sie erkannte bald, dass sie mit Tauschgeschäften der galoppierenden Inflation der Landeswährung entgehen konnte, ließ sich ihre Arbeit mit Fleisch, Butter und Milch bezahlen und wechselte alle Kronen und Heller, sofort nachdem sie sie von Kunden oder der Militärbehörde bekommen hatte, auf der Bank gegen Schweizer Franken ein, die einzige ausländische Währung von steigendem Wert, die erhältlich war. Vor allem aber kaufte sie damit, als die Häuserpreise in Wien ins Bodenlose gefallen, ihre Schweizerfranken aber ins Unermessliche gegenüber der österreichischen Krone gestiegen waren, alles an Häusern, Wohnungen, Läden und sonstigen Immobilien zusammen, was ihr angeboten wurde und das war nicht gerade wenig. Um den Neid der Nachbarn zu vermeiden - Tüchtigkeit, Erfolg und Cleverness bieten immer Anlass dazu, besonders Antisemiten, wenn es sich bei den Tüchtigen um Juden handelt, gründete sie für jeden Kauf eine Aktiengesellschaft. Einzig der Notar, die Bank und die Steuerbehörden wussten, dass sie die alleinige Inhaberin der Aktien war.
Nach dem Ende des Krieges, als Österreich-Ungarn vom größten Kontinentalstaat Europas und einem der mächtigsten zu einem unbedeutenden Kleinstaat geworden war, der keinen Machtfaktor mehr darstellte, kleiner als etliche seiner vormaligen Provinzen, wurde die Lage für die Wiener und Wienerinnen, die nicht Elses goldenes Händchen besaßen, noch schlimmer. Die Inflation stieg in nie gekannte, bis dahin absolut unvorstellbar gewesene Höhen, frass alles auf, was die Menschen besaßen, die über keine Devisen verfügten. Es ging so weit, dass eine Semmel am Morgen eine Million, am Nachmittag aber zehn Millionen kostete. Die Notenpressen liefen auf Hochtouren, um den immer größer werdenden Bedarf an Geldscheinen decken zu können, die kaum ausgegeben, das Papier nicht mehr wert waren, auf das sie gedruckt waren. Die Leute warteten keine Sekunde, gaben die Scheine aus, sobald sie sie bekommen hatten, um überhaupt noch etwas dafür zu bekommen, hauptsächlich Esswaren und Heizmaterial. Sie fuhren sie in prall gefüllten Schubkarren zu den Läden und Märkten. Fielen Scheine herunter, so bückten sie sich nicht einmal, um sie zu suchen, ihnen nachzulaufen und aufzuheben. Der dadurch entstehende Zeitverlust kostete sie mehr als die heruntergefallenen oder herumfliegenden Scheine wert waren. Für zwanzig Deka Krakauer oder drei Paar Debrecziner mussten sie manchmal drei oder vier Fuhren mit dem Schubkarren unternehmen. Häuser aber waren um den Preis von ein paar Mittagessen an einem Stand am Naschmarkt zu bekommen. Im Unterscheid zu Krakauern oder Debreczinern konnte man Häuser aber nicht essen. Die Mägen der Kinder halbwegs voll zu bekommen, war wichtiger als Gebäude zu besitzen, deren Mieteinnahmen infolge der Inflation nicht einmal mehr die anfallenden Reparaturen und Renovationen deckten. Nur Else dachte anders.
Anfang 1925, als eine Währungsreform die Verhältnisse wieder ins Lot gebracht hatte, als der neu eingeführte Schilling die hyperinflationäre Krone abgelöst und so stabil wurde, dass man ihn bald als Alpendollar bezeichnete, nannte Else Friedländer mehr als hundert große Zinshäuser an allerbesten Lagen Wiens ihr eigen, dazu unzählige Läden aller Art im ersten, zweiten, dritten, vierten und neunten Bezirk und sogar mehrere Fabriken, eine Brauerei und ein ausgedehntes landwirtschaftliches Gut in Niederösterreich, auf dem sie neben vielem anderen Wein anbaute und Rennpferde züchtete, die zu besten in der Krieau gehörten, auch auf den Bahnen von Paris und London liefen und ihr Millionen an Siegprämien einbrachten. Die Betriebe, die sie übernommen hatte, ließ sie von den schuldlos bankrottgegangenen Vorbesitzern weiterführen. Sie dankten es dem großzügigen neuen Eigentümer, den sie nicht kannten und betrogen ihn nur selten.
Alle ihre Aktiengesellschaften hatte sie in einer Holding zusammengefasst, die von Hans-Ulrich Kohn, einem der Direktoren der Wiener Niederlassung der Bank Rothschild & Söhne für sie verwaltet wurde. Nur zu ihm und zu seiner Bank hatte sie Vertrauen. Ihr Instinkt trog sie auch hier nicht. Während die pikfeinen, vornehm gekleideten Direktoren anderer Bankinstitute ihre Kunden in aller Regel übervorteilten, wo und wie es nur ging, das Kapital und die Gewinne der von ihnen nach außen hin präsidierten Firmen, zu denen sie Null Komma Josef beigetragen hatten, wie die Wiener sagten, in die eigenen Taschen wirtschafteten und solange wie die Maden im Speck von ihnen lebten, bis sie auch ihr letztes Gramm Fett aufgezehrt hatten und die Firma Konkurs anmelden musste, befolgte Hans-Ulrich Kohn die strengen Prinzipen von Treu und Glauben der Rothschilds, die sie groß und zu den Bankiers von Fürsten, Kaisern und Königen ganz Europas und neuerdings sogar anderer Teile des Erdballs gemacht hatten.
Trotzdem stand Else weiterhin jeden Tag in ihrem bescheidenen Atelierladen in der Alserstrasse und arbeitete als einfache Schneiderin acht Stunden und mehr am Tag für ihre Kunden. Ein sinnloses Leben im Überfluss, das in der Hauptsache auf Vergnügungen, Ausschweifungen und Luxusreisen auf Überseedampfern, an den Genfersee oder nach St. Moritz ausgerichtet war, wie es Waffenfabrikanten und andere Industrielle führten, die vom Leiden der Soldaten und Zivilisten im Krieg profitiert, den Tod zu ihrem Geschäft gemacht hatten und sich dann keinen Deut um die Armut und die existentiellen Probleme eines Großteils des Volkes scherten, die in Zeiten allgemeiner Bitternis rauschende Feste in ihren Villen in Baden und Bad Vöslau feierten, ohne sich im Geringsten um ihre darbenden Mitmenschen zu scheren, war ihr zutiefst zuwider.
Elses Preise waren die niedrigsten des ganzen Bezirks, Schulden trieb sie nie ein und nähte und reparierte oft kostenlos, besonders für die, die sonst nichts mehr zum Anziehen hatten und Kleider für die Kleinen brauchten, um sie in die Schule schicken zu können. Keiner von ihnen ahnte, dass ihre Wohltäterin, die so modest und unprätentiös lebte und sich stets die Zeit nahm, sich ihre Sorgen und Nöte anzuhören, eine der reichsten Frauen des Landes war, wenn nicht gar die reichste von allen. Es fiel nur auf, dass jeweils kurz nachdem sie der netten Frau Friedländer, der Elsi, wie sie allgemein genannt wurde, ihr Leid geklagt hatten, Geld von einem Gönner, der à tout prix unbekannt bleiben wollte, auf ihr Konto überwiesen wurde, das sie vor Schmach, Hunger und Elend bewahrte. Keinem wäre es in den Sinn gekommen, bei dem anonymen Wohltäter könne es sich ausgerechnet um Elsi handeln, die kleine, billig gekleidete und stets ungeschminkte Schneiderin in der Alserstrasse, die sich selbst nie etwas gönnte. Auch mit anonymen Spenden an wohltätige Organisationen, die sich um Kriegswaisen und -witwen kümmerte, aber auch begabten jungen Menschen aus mittellosen Familien ein Studium an der Universität ermöglichte, geizte sie nicht.
Ihr Ein und Alles, die Sonne ihrer Tage und das Licht ihrer Nächte war Maxi, ihr Sohn, die Frucht ihrer Liebe zu Arthur, das Einzige, was ihr von ihm geblieben war. Je älter er wurde, desto mehr glich er ihm. Mit fünfzehn überragte er alle Mitschüler um mindestens einen Kopf, seine blauen Augen und schwarzen Haare waren die seines Vaters, sogar die Sprüche und den Charme hatte er von ihm geerbt, ohne je viel Kontakt mit ihm gehabt zu haben. Geld und Güter interessierten Else nicht, sie dienten ihr nur dazu, Maxi und sich selbst die Existenz zu sichern und die, die es am Nötigsten hatten, vor dem zu bewahren, was ihr Mann sich angetan hatte.
Max-David war ein guter Schüler im Gymnasium in der Stubenbastei, wie sein Vater von den Mädchen umschwärmt, aber auch bei den Freunden und den Mitspielern der Nachwuchsmannschaft von Austria Wien sehr beliebt, dem österreichischen Fußballmeister, dem er wie etliche seiner Mitschüler angehörte, vor allem die jüdischen. Mit ihrem legendären Kapitän und Trainer Hugo Meisl, dessen ungezügelte, südamerikanisch anmutenden Goooooooool-Schreie aus vollem Hals ihn später zum Star der österreichischen Fußballreporter machen sollten, aber auch mit abtrünnigen Spielern der Vienna und anderen jüdischen und nichtjüdischen Cracks hatten die Violetten, wie sie der Farbe ihrer Leibchen nach hießen, in ihrem Stadion in Ober St. Veit und auswärts Mannschaften besiegt, die zu den stärksten des Kontinents gehörten. Juventus Turin, der AC Torino, Etoile La Chaux de Fonds, MTK Budapest und nicht zuletzt Rapid Wien, der WAC - der Wiener Athletik-Club - und die selbst die Vienna hatten sich der Austria beugen und ihre Überlegenheit anerkennen müssen.
Else hielt ihren Reichtum auch und ganz besonders vor ihrem Sohn verborgen, um ihm eine Kindheit und Jugend mit allen Freuden und Enttäuschungen zu ermöglichen, ihm den Wert der Dinge schätzen zu lehren und ihn nicht in Bequemlichkeit, Überheblichkeit und sorgloses Nichtstun fallen zu lassen. Nur hin und wieder brachte sie es nicht übers Herz, ihm einiges von dem zu kaufen, auf das sie selbst in seinem Alter hatte verzichten müssen, weil ihre Eltern es sich nicht hatten leisten können. Doch stellte sie es immer so dar, als handle es sich um Präsente begüterter und besonders zufriedener Kunden oder um Gewinne von Preisausschreiben, Lotterien oder Wettbewerben, an denen sie angeblich teilgenommen hatte.
Seine erste Liebe erlebte Maxi, so nannten ihn alle, die ihn mochten, im Alter von siebzehn Jahren, was damals sehr früh dafür war. Es war die zu Hertha Kollek, der hübschen, hochaufgeschossenen Tochter eines Rechtsanwalts, der eine Kanzlei in der Herrengasse im ersten Bezirk unweit der Hofburg führte, aus der der Kaiser erst vor wenigen Jahren ausgezogen war, also an allerbester Lage. Aber nicht nur deswegen, sondern vor allem wegen seiner Scharfzüngigkeit, Eloquenz und Brillanz bei der Führung von Prozessen, von denen er die allermeisten gewann, konnte er sich über mangelnden Zustrom zahlungskräftiger Klienten nicht beklagen. Die Bibliothek in seinem Haus war größer als jede, die Maxi zuvor gesehen hatte. Doch nur wenige jüdische Bücher standen darin. Er wusste von seinem Judentum noch weniger als die Friedländers. Hertha, die zwei Monate älter als Maxi war, hatte sich schon seit langem in ihn verliebt, den schlaksigen, immer fröhlichen und gutgelaunten Burschen, der stets im Mittelpunkt aller stand, das Wort bei jeder Zusammenkunft führte, am Pausenhof, am Sportplatz, im Café oder in der Stadt, von dem alles, was er sagte, aus einem klugen und witzigen Buch zu stammen schien und der zu den Wenigen gehörte, die noch größer als sie waren. Sogar ihr Vater war von ihm beeindruckt und das wollte etwas heißen.
Hertha himmelte ihn förmlich an, doch hatte sie sich nie getraut, ihn anzusprechen oder es ihm gar zu sagen. Es schickte sich damals nicht für eine wohlerzogene Vertreterin des weiblichen Geschlechts, so etwas zu tun. Er selbst hatte es ebenfalls nicht getan, obwohl er ihren Vater kannte - er kam öfters ins den Laden seiner Mutter, um eine Hose oder eine Jacke reparieren zu lassen -, Hertha ihm aufgefallen war und er mehrmals Gelegenheit gehabt hätte, sie anzusprechen, bei Schulfeiern mit den Klassen des Mädchengymnasiums oder bei Geburtstagsfesten, zu denen sie beide eingeladen waren. Er merkte nicht, dass sie geradezu sehnsüchtig darauf wartete. Seinetwegen war sie sogar samstags zu Fußballspielen nach Hütteldorf oder Ober-St. Veit gefahren, wo er im Einsatz stand, ohne sich vorher in irgendeiner Weise für diesen Sport interessiert zu haben. Auch waren die Begegnungen im Stadtpark, in der Kärntnerstrasse oder in der Alserstrasse nicht so zufällig, wie Maxi annahm. Trotz seiner siebzehn Jahre und seiner körperlichen Reife war sein erotisches Verlangen noch nicht so weit gediehen wie das von Hertha. Während sie sich in Gedanken nach ihm verzehrte, nur an ihn dachte, wenn sie nachts im Bett lag und von verbotenen Dingen träumte, war sie für ihn nur eine von vielen hübschen Mädchen, die um ihn und seine Freunde herumschwirrten. Lieber trank er ein Krügel Bier mit den Freunden im Prater, als sich mit ihnen abzugeben.
Doch mit der Zeit gefiel ihm Hertha, auf die er aus einem ihm unbekannten Grund stets traf, immer besser. Besonders ihr verschämtes Lächeln, die Art, wie sie die Augen niederschlug, wenn sich ihre Blicke trafen, reizten ihn, ließen ihn sich stark fühlen und zogen ihn unwiderstehlich zu ihr hin. Sie gab ihm das Gefühl, ein richtiger Mann zu sein, was er in der Wirklichkeit der Strasse und der Kaffeehäuser noch längst nicht war. Dort galt er keineswegs als Erwachsener, sondern als unreifer Schüler und nicht ernst zu nehmender Fußballer einer Juniorenmannschaft.
Maxi und Hertha ahnten nicht, dass sie sich genauso verhielten wie es seinerzeit Maxis Eltern getan hatten, bevor sie zueinander gefunden hatten. Dass es in diesen Zeiten einen entscheidenden Unterschied zwischen ihrer sich anbahnenden Beziehung und der gab, die Maxis Eltern verbunden hatte, sollte sich jedoch bald zeigen.
Als Herthas scheue Annäherungsversuche keinen Erfolg zeitigten, beschloss sie, forscher vorzugehen. Das altbewährte Fahrrad musste her, würde ihr, so hoffte sie, den gewünschten Dienst leisten. Die tragische Geschichte des Bruders von Maxis Mutter kannte sie nicht, sonst hätte sie ein anderes Mittel für ihre Zwecke gewählt.
Auf dem Weg, den Maxi bei der Heimkehr aus dem Gymnasium nahm, wartete sie nach Schulschluss an einer Hausecke auf sein Kommen, tat dabei so, als sei sie weltversunken in ein Buch vertieft, das Fahrrad unverschlossen an die Mauer des Hauses gelehnt. Als sie seiner endlich gewahr wurde, wie so oft hatte er auch heute noch lange mit seinen Freunden vor der Schule geschwatzt, steckte sie das Buch ein, schwang sich aufs Rad und fuhr ihm genau vor die Füße. Sie mimte die Erschrockene, ließ sich fallen, einen Unfall vortäuschend, und schrie laut auf, als sie mit dem Knie aufs Trottoir aufschlug. Es blutete sogar. Geschickter hätte sie es nicht anstellen können. Maxi kniete sich sofort besorgt neben sie, entschuldigte sich für seine Unachtsamkeit und seine Ungeschicklichkeit, besah sich ihr verletztes Knie, das sie ihm mit hochgeschobenem Rock hinstreckte und fragte sie, ob sie aufstehen könne. Sie verzog den Mund und täuschte Schmerzen vor, tat so, als versuche sie vergeblich, das Bein zu strecken, meinte, es ginge unmöglich. Als Maxi auf die naheliegende Idee kam, Hilfe zu holen, hielt sie ihn jedoch davon ab, sagte, es wäre vielleicht doch besser, dass er ihr zuerst aufzuhelfen versuchte und reichte ihm die Hand. Er ergriff sie und zog sie auf. Wie unabsichtlich fiel sie ihm in die Arme.
Er spürte das Beben in ihrer Brust, roch den Duft ihrer Haut und sah den zärtlichen Blick in ihren Augen. Obwohl er oft Mädchen begegnet war, außer natürlich im Gymnasium, das zu jenen Zeiten strikt nach Geschlechtern getrennt war, ja er fast immer und überall außerhalb der Schule von Mädchen umgeben gewesen war, so war er doch nie einem von ihnen so nahe gewesen. Er empfand Zärtlichkeit für die junge Frau, die unversehens in seinen Armen lag, spürte ungestümes Verlangen nach ihr, hatte nur noch den Wunsch, sie an sich zu drücken, sie zu berühren, in seine Arme zu nehmen, zu küssen und vielleicht gar zu lieben, so wie er es auf verbotenen Bildern gesehen hatte, denn Genaueres wusste er darüber nicht. Das war damals so, auch noch bei Siebzehnjährigen. Ihr ging es gleich, sie fühlte und wünschte sich Dasselbe, doch keiner von beiden, weder sie noch er, trauten sich, es auszusprechen oder gar zu tun. Nicht einmal ihre kaum voneinander entfernten Lippen wagten sie aufeinanderzupressen, auch nicht mit geschlossenem Mund. Die Moral jener Tage hinderte sie daran, ihre Gefühle dem anderen zu schnell zu offenbaren oder gar das zu tun, nach dem sie sich in diesem Augenblick mehr als nach allem anderen sehnten.
Doch aller Moral zum Trotz dauerte es nicht lange, bis sie auf einem sonntäglichen Ausflug in den Wienerwald als Mann und Frau zueinanderfanden. Sie konnten einfach nicht länger warten, umarmten, küssten und lieben sich stundenlang, wollten nicht voneinander lassen, auch als es schon dunkelte und sie befürchten mussten, den Heimweg nicht mehr zu finden.
Für beide war es das erste Mal. Hertha, trotz all ihrer Liebe zu Max-David, den Kosenamen Maxi benutzte sie fast nie, bereitete die verbotene voreheliche Vereinigung anfänglich mehr Schmerzen als Vergnügen, doch das änderte sich rasch. Sobald sie die Lust entdeckt hatte und den Gipfel der Freuden, in den diese sie in kurzen Abständen zu heben vermochte, verlangte sie nach immer mehr. Er hatte schon mit der ersten geschlechtlichen Berührung den Plaisir d’amour entdeckt, die Lust der körperlichen Liebe, von der er in der französischen Literatur so viel gelesen hatte, ohne wirklich zu verstehen, was es eigentlich war. Heute hatte er es entdeckt, hatte am eigenen Leib erfahren, welch nie gekannten Gefühle die Sache ihm zu bereiten in der Lage war. Nichts war mit damit vergleichbar, keine andere Regung des Körpers, schon gar nicht die Sehnsucht nach der Frau, mit der er dieses Gefühl erlebt hatte. Nur das, der Plaisir d’amour interessierte ihn, nur das suchte er von da an. Es war die körperliche Liebe, die ihn reizte, nicht die wahre, die die Herzen und Seelen sich liebender Menschen verbindet. Er wurde geradezu süchtig nach dem Plaisir d’amour, suchte den Akt der Vereinigung sooft und wo es nur ging mit Hertha. Mit anderen Mädchen oder Frauen wagte er den Schritt noch nicht, obwohl er sich bildlich vorstellte, wie es wohl mit Rita, Eva, Karoline oder Erna wäre, während er mit Hertha zusammen war. Ihr blieb nicht verborgen, dass ihr Geliebter während des Aktes oft abwesend war, sich in einer anderen Welt befand, nicht in der ihren, wie sie es sich wünschte. Doch unerfahren wie sie war, schrieb sie es dem Wesen des Mannes zu, statt der Tatsache, dass seine Liebe zu ihr viel weniger stark als die ihre zu ihm war.
Instinktiv suchte sie, seine Liebe zu ihr zu vergrößern, sie richtig zu entfachen, ihre Flammen höher schlagen zu lassen als bisher, tat alles, was er von ihr verlangte, kam überallhin mit ihm mit, vergaß ihre eigenen Bedürfnisse, stand seiner Lust zur Verfügung, wo und wann er sie verspürte. Doch das, was sie bei ihm hervorrufen wollte, gelang ihr nur bei sich selbst. Ihr Verlangen nach ihm und ihre Liebe zu ihm stiegen noch weiter an. Das machte die Sache umso schlimmer. Hatte sie anfänglich nur seine Liebe gesucht, so wurde sie nun ebenso süchtig wie er nach dem Geschlechtsakt. Doch im Unterschied zu ihm reizte sie dieser nur mit Max-David. Für sie waren seelische und körperliche Liebe eins. Nie hätte sie mit einem anderen schlafen können. Es war selbstverständlich für sie, dass dies ihr ganzes Leben lang so sein würde. Keinen anderen sah sie auch nur aus der Ferne an, nach keinem anderen sehnte sie sich, keinen anderen wünschte sie sich, keinen anderen sah sie ihrer Phantasie, wenn sie zusammen waren.
Bei ihm verhielt es sich ganz anders. Gerade weil sie ihm dauernd nachlief, ihm jeden Wunsch von den Lippen ablas, noch bevor er ihn aussprechen konnte, und vor allem, weil er sie nicht wirklich liebte, nur nach dem Sex, wie man die Sache neuerdings nannte, mit ihr geradezu verrückt war, dabei aber ständig an andere dachte, die ihm im Kopf herumschwirrten, wurde er ihrer bald überdrüssig. Hertha nahm es wahr, wollte es sich aber nicht eingestehen, versuchte immer verzweifelter, ihn an sich zu binden, mit Geschenken, mit noch mehr Aufmerksamkeit und noch mehr Unterwürfigkeit, erreichte damit aber nur das Gegenteil von dem, was sie bezweckte.
Else, Max-Davids Mutter, hatte davon keine Ahnung, sah in Hertha schon ihre künftige Schwiegertochter. Eine bessere hätte sie sich nicht vorstellen können. Sie entsprach in jeder Hinsicht all dem, was sie sich für ihre Schwiegertochter wünschte, war intelligent, gebildet, ernsthaft und bescheiden, hatte Tam und Chejn, das, was eine gute jüdische Schwiegertochter vor allen anderen Eigenschaften am allermeisten auszeichnet. Sie würde ihrem Sohn ein Leben lang treu sein und ihm wunderbare Kinder schenken. Dessen war sich Else sicher, als ihr Sohn sie zum ersten Mal mit nach Hause gebracht hatte, schon vor etlichen Wochen, kaum waren sie zusammengekommen, und sie über die wichtigen Dinge eines jüdischen Ehepaars mit ihr gesprochen hatte. Nicht nur von der Größe her passte sie zu ihm. Die beiden waren das ideale Paar, davon war sie überzeugt. Dazu kam Hertha aus gutem Haus. Dr. Jakob Bernauer, ihr Vater, war ein hochangesehener Mann, ihre Mutter, Frieda Bernauer, leitete ein jüdisch-christliches Waisenhaus der Kinder gefallener Kriegsteilnehmer und stand der Kindergartenkommission der jüdischen Gemeinde vor. Hertha vereinte Judentum und Deutschtum in vorzüglicher Weise.
Nur eines störte Else an ihr, aber das würde sie schon ändern, dessen war sie gewiss, nämlich dass sie Maxi nie widersprach, still neben ihm saß, wenn er den größten Blödsinn erzählte, wie sie fand, ihn bewunderte und anhimmelte, als wäre er ein Halbgott. Sie würde ihrer Schwiegertochter schon beibringen, dass man einem Mann auch einmal die Stirn bieten musste, ihm nicht alles durchgehen lassen durfte, besonders Maxi nicht, dem schon in den Kopf gestiegen war, dass ihm alle Mädchen nachliefen. Aber zuerst einmal sollten die beiden heiraten, am besten gleich nach der Matura im nächsten Jahr. Alles andere würde sich finden. Die Kosten für sein Studium würde sie übernehmen, ebenso wie für die Verlobungsfeier, die Hochzeit, die Wohnung und die Ausstattung für die beiden, falls das für Herthas Eltern zu viel wäre. Auch die Höhe des Nadens, der Mitgift, die für die meisten Väter und Mütter gefragter jüdischer Bräutigame der ausschlaggebende Faktor für ihre Zustimmung zur Ehe war, war ihr vollkommen egal. Geld war für sie, wie schon erwähnt, nur dazu da, um die Existenz zu sichern. Dem Glück des Lebens war es weder dienlich noch förderlich, stand ihm gar im Weg. Um das zu erreichen, brauchte es Anderes, unendlich viel Wertvolleres, etwas, was man für Geld nicht kaufen konnte. Dazu gehörte auch und nicht zuletzt eine gute Frau. Die würde Hertha ihrem Sohn sein. Daran zweifelte sie nicht.
Doch mit der Zeit brachte Maxi Hertha immer seltener mit nach Hause. Als seine Mutter ihn nach dem Grund fragte, antwortete er lapidar, die Sache mit Hertha wäre nichts Ernstes, es gäbe noch tausend andere Mädchen auf der Welt. Else konnte es nicht glauben, hatte Hertha nicht nur längst in ihre Pläne, sondern auch in ihr Herz geschlossen. Sie versuchte alles, ihrem Sohn klarzumachen, dass er im Begriff war, einen großen Fehler zu begehen, dass er Hertha um Himmels willen nicht einer vorübergehenden Laune wegen aufgeben solle, dass er eine Frau wie sie so schnell nicht wiederfinden würde, dass die meisten anderen nur an kurzzeitigen Flirts und Liebeleien interessiert wären, nicht aber an einer ernsthaften Beziehung, dass Hertha die beste Mutter für seine Kinder werden würde.
Bei dieser Bemerkung lachte Maxi laut auf.
«Kinder», rief er, «was soll ich jetzt schon mit Kindern? Ich will zuerst das Leben genießen. Kinder kann ich auch noch in zwanzig Jahren bekommen!»
«Bist du dir darüber im Klaren, wie alt Deine Mutter ist?», warf Else ein. «Ich bin einundsechzig. Willst du mich erst mit über achtzig zur Großmutter machen, wenn ich überhaupt so alt werden sollte? Soll ich erst mit ein- oder zweiundachtzig meinen ersten Enkel auf dem Schoß wiegen?»
«Es gibt Wichtigeres als Enkelkinder, liebe Mutter», versuchte Maxi sie zu besänftigen. «Trete doch im Laden etwas kürzer, arbeite weniger und genieße endlich auch einmal dein Leben anstatt dauernd nur für andere da zu sein».
Else geriet in Rage über diese Antwort.
«Was glaubst du eigentlich», erwiderte sie, «was Leben bedeutet, was seinen Sinn ausmacht? Ich dachte, ich hätte es dich gelehrt, aber offenbar habe ich mich geirrt, konnte es dir nicht beibringen. du hast nichts verstanden, Maxi. Glaubst du wirklich, es sind die Vergnügungen, die glücklich machen? Was soll ich deiner Meinung nach genießen? Das Faulenzen und Nichtstun? Soll ich in der Sonne liegen, irgendwo am Strand in Italien oder in Kaffeehäusern herumlungern, Canasta spielen wie die unterbeschäftigten Frauen reicher Männer, die nur Langeweile kennen, ihre Zeit in Modegeschäften, bei Cocktail-Partys und auf allen möglichen Festen verbringen, die sich wie die Hühner gebärden, in kurzen Charleston-Röcken herumlaufen, jungen Männern nachrennen und ihre Ehemänner betrügen? Mein Leben ist ausgefüllt, ich genieße es von frühmorgens bis spätabends. Meine Arbeit und du, mein Sohn, ihr seid das, was mich glücklich macht. Nur eines wünsche ich mir noch: ein Enkelkind. Eine bessere Mutter als Hertha findest du für dein Kind nicht, das habe ich dir schon gesagt und das weißt du selbst! Eine treusorgende jüdische Ehefrau wird sie dir sein, am Freitag Challes für Schabbes backen, wunderbare Sederabende an Pessach ausrichten, Eure Kinder jüdisch erziehen. Wirf sie nicht weg. Du ahnst nicht, was du an ihr verlierst!»
Maxi rutschte auf seinem Stuhl herum. Er fühlte sich schlecht. Die Standpauke seiner Mutter hatte er wohl gehört, allein sie drang nicht in seine Seele. Er wollte alles andere als eine treusorgende Ehefrau und eine Mutter für seine Kinder, fühlte sich viel zu jung dafür. Er wollte das Leben in vollen Zügen auskosten, genau das tun, was seiner Mutter ein Gräuel war, am Strand in Italien liegen, sich in Kaffeehäusern und auf Cocktail-Partys vergnügen, Feste feiern, Charleston tanzen und vor allem das immer wieder aufs Neue erleben, was sie nicht ausgesprochen hatte, den Plaisir d’amour, die Lust der Liebe, nicht nur mit einer, nein mit möglichst vielen der Frauen, die ihm zu Füßen lagen. Doch er wollte auch seine Mutter nicht verletzen, antworte darum ausweichend:
«Du warst mir immer die beste Mutter, die es geben kann, hast dich für mich aufgeopfert. Das werde ich dir nie vergessen. Eines Tages wirst du deinen Enkel bekommen, das verspreche ich dir!»
«Warte nur nicht zu lange damit, Maxi, wer weiß, wie lange ich noch lebe», erwiderte sie und fügte nochmals an: «Und vergiss vor allem Hertha nicht. So eine Frau wie sie findest du nicht so schnell wieder».
Maxi aber tat genau das Gegenteil. Noch am selben Abend begleitete er die kleine blonde Rita, die er auf einer Klassenfete kennengelernt hatte, zu einem Tanzfest in den Prater und landete mit ihr im Gebüsch.
Am nächsten Tag sagte er Hertha, dass es aus sei zwischen ihnen. Eine Welt ging für sie unter. Sie wollte es nicht wahrhaben, versuchte ihn umzustimmen, klammerte sich weinend an ihn, erklärte ihm, dass er die Liebe ihres Lebens sei, beschwor ihn, bei ihr zu bleiben. Er aber riss sich von ihr los und ging ohne ein weiteres Wort. Sie blieb aufgelöst und verzweifelt zurück, dachte gar daran, sich etwas anzutun. Nichts ist schlimmer als der Kummer einer erwachenden Frau, die vom Mann, der sie erweckt hat, verlassen wird. Hertha brauchte lange, viele Monate, um über den Verlust auch nur einigermaßen hinwegzukommen. Ganz gelang es ihr nie. Ihr Schmerz wollte nicht vergehen.
Bei Rita blieb es nicht. Die Frauen wechselten sich bei Max-David ab, Jüdinnen und Nichtjüdinnen, es war ihm egal, Hauptsache, sie verschafften ihm den Plaisir d’amour. Nur daran war er interessiert, nur ihn suchte er.
So gingen die Jahre dahin, ohne dass Else zu ihrem Enkelkind gekommen wäre, ohne dass sich ihr sehnlichster Wunsch erfüllt hätte. Max-David schaffte trotz seiner amourösen Ablenkungen die Matura, leistete den Wehrdienst, begann das Studium für Ingenieurwissenschaften an der Technischen Universität Wien, schloss es erfolgreich ab und fand eine Anstellung als Qualitätskontrolleur bei der Wiener Niederlassung einer tschechischen Automobilfabrik, die zu den führenden Europas gehörten.
Man schrieb das Jahr 1933. Die Nazis spielten in Österreich zwar eine lautstarke, aber bescheidene Rolle, wurden nach mehreren blutigen Zwischenfällen gar verboten. Engelbert Dollfuß, ein Bewunderer Mussolinis, grub ihnen das Wasser ab. Kleinwüchsig, aber wortgewaltig, errichtete er als Kanzler in Wien einen Faschismus österreichischer Prägung, den italienischen immer im Auge behaltend. Sogar die Juden hatten darin ihren Platz, wenn auch hauptsächlich in den Kabaretts, im Theater, in den Arztpraxen und als Rechtsanwälte vor Gericht. Doch sie blieben mit wenigen Ausnahmen unbehelligt, ganz im Gegensatz zu dem, was sie in benachbarten Deutschland erleiden mussten, nachdem Adolf Hitler im März an die Macht gekommen war, das Parlament entmachtet hatte und eine Diktatur zu errichten begann, die die Juden immer mehr zu Parias stempelte, ihnen nach und nach aller Rechte beraubte. Viele wurden in neu errichtete Konzentrationslager deportiert, aus denen keiner zurückkam. Doch trotz allem zögerten die meisten auszuwandern. Nur wenige gingen in die USA oder nach Paris oder träumten von einem eigenen Staat und schifften sich nach Palästina ein. Zu sehr fühlten sie sich als Deutsche, zu sehr waren sie davon überzeugt, das neu auflodernde Feuer des Antisemitismus würde sehr bald erlöschen, es hätte den Nazis nur als Vehikel gedient, um die Macht zu übernehmen. Es würde alles nicht so schlimm werden, wie es sich anließ, dachten und sagten viele. Schließlich lebte man im Land der Dichter und Denker, einem Hort der Kultur und Humanität.
Die Olympischen Spiele von 1936 in Berlin schienen ihnen Recht zu geben. Die Aufschriften Nur für Arier verschwanden von den Parkbänken, die Judensterne und Parolen Kauft nicht bei Juden wurden von SS-Männern eigenhändig von den Schaufenstern jüdischer Geschäfte gekratzt, sie zeigten sich gar mit Juden auf den Terrassen der Berliner Kaffeehäuser. Der Stürmer, das berüchtigte Organ der Nazis, verzichtete auf Judenhetze, Juden wurde fast überall wieder der Zutritt gewährt, vor allem dann, wenn amerikanische oder englische Journalisten und Fotographen zugegen waren. Sie berichteten nach Hause, in Deutschland stünde alles zum Besten, die Erzählungen über staatlich verordnete Judenverfolgungen wären Schauermärchen von Feinden des modernen Deutschland. Else aber war eine der Wenigen, die sich nicht täuschen ließen.
Wieder, wie schon im Weltkrieg, hatte sie den richtigen Riecher, wie die Wiener sagten. Statt die groß angepriesenen österreichischen Staatsanleihen zu kaufen und darauf zu hoffen, dass Österreich seine Unabhängigkeit von Nazideutschland bewahren würde, dass sich auch in Deutschland die Situation normalisieren würde und die Juden nicht weiter drangsaliert würden, beauftragte sie ihren Bankier, es war immer noch derselbe, Hans Ulrich Kohn von Rothschild und Söhne, alles, was sich von ihren Anlagen und Besitztümern zu Geld machen ließ, zu verkaufen, wenn nötig mit Verlust, den Erlös in US-Dollar zu wechseln und auf ein Konto zu überweisen, das sie über die Wiener Niederlassung der Bank bei deren New Yorker Zweigstelle eröffnet hatte. Eine Wiederholung des New Yorker Börsenkrachs von 1929, der die viele der größten Vermögen, nicht nur in den USA, sondern auch in Österreich vernichtet hatte, der sie aber nur wenig getroffen hatte, schien ihr weniger wahrscheinlich, als die Katastrophe, die sie durch die Nazis auf Europa zukommen sah. Nicht viele Juden in Europa besaßen diese Weitsicht. Hätte Else vor Jahrtausenden im Land der Juden gelebt, dort, wo heute so wenige hinwollten, wäre sie mit größter Wahrscheinlichkeit Prophetin geworden, hätte drohendes Unheil gekündet wie einst Deborah und das Volk der Israeliten unter der Führung des Heerführers Barak vor der Vernichtung durch den Kanaaniterkönig Jabin und seinen Feldherrn Sisera errettet. Doch im zwanzigsten Jahrhundert nach der Geburt Jesus, des Rabbi Jehoschua bin Jossef aus Beth Lechem, besaßen ihre Nachfahren weder ein eigenes Land noch einen Heerführer oder Waffen, mit denen sie sich gegen ihre hochgerüsteten Feinde hätten verteidigen können, und auch keine Prophetin, denn Else war nichts als eine Schneiderin. Keiner schenkte ihr Glauben, wenn sie von dem sprach, was sie auf Wien und die Juden zukommen sah und ihre Nachbarn zum Gehen aufforderte, sie fast anflehte, es zu tun, solange sie es noch konnten.
Keine zwölf Monate später schloss sie zum Bedauern ihrer Freunde und Kunden das Schneideratelier in der Alserstrasse, nicht ohne alle Waren und das gesamte Inventar zu verschenken und ein großes Abschiedsfest zu veranstalten, zu dem der halbe Bezirk kam. Sie gab die Wohnung auf und entschied, mit Hans David nach Amerika zu übersiedeln. Er zögerte, seine gute Stellung aufzugeben, auf seine Freundinnen und Geliebten zu verzichten und mitzufahren, doch als er von den wahren finanziellen Verhältnissen seiner Mutter erfuhr, es war ihr unmöglich, sie noch länger vor ihm geheim zu halten, sah er die Reise nach Amerika als lockenden und lohnenden Aufbruch in ein neues Land an, in dem es, so wurde jedenfalls erzählt, keinen Antisemitismus gab, aber ebenso gute Stellungen und ebenso schöne Frauen wie in Wien. Das viele Geld der Mutter aber war das ausschlaggebende Argument. Es würde ihm ein sorgloses Leben ermöglichen mit allem, was für ihn dazugehörte, denn die Werte seiner Mutter waren nicht die seinen.
Am 14. Juni 1937, einem wolkenverhangenen Montag, standen sie am Wiener Westbahnhof, nahmen den Nachtzug nach Paris, natürlich ein Liegeabteil zweiter Klasse, denn Else liebte Luxus nicht, stiegen am Gare de Lyon nach Cherbourg um und standen am Abend des nächsten Tages auf der Queen Mary, die aus Southampton auf der gegenüberliegenden Seite des Kanals gekommen war, um zusätzliche Passagiere für die Atlantiküberquerung aufzunehmen. Sie waren bereit zur Reise in eine bessere Welt als die, die sie im Begriffe waren zu verlassen. Else war einundsiebzig Jahre alt, ihr einziger Sohn Max-David siebenundzwanzig.
Schon auf der Überfahrt erregte der schlanke und großgewachsene Wiener mit den stechend blauen Augen und dem entwaffnenden Lächeln die Aufmerksamkeit mitreisender Damen. Eine von ihnen, eine elegant gekleidete Frau um die fünfunddreißig mit hoch aufgestecktem Haar, drückte ihm beim Vorbeigehen auf dem Promenadendeck, ohne ihn anzusehen und ohne dass jemand es bemerkt hätte, einen zusammengefalteten Zettel in die Hand. Bevor der überraschte Max-David ihr eine Frage stellen konnte, war sie weitergegangen und begann in einiger Entfernung eine Unterhaltung mit einem nicht viel weniger hübschen Bordoffizier, sodass die Frage, die er ihr stellen wollte, vorerst unbeantwortet blieb. Doch nachdem er den Zettel entfaltet hatte und las, was sie darauf geschrieben hatte, wurde ihm klar, um was es ging. Auf dem Zettel stand nichts anderes als eine Kabinennummer und die Uhrzeit: 22h00.
Erwartungsvoll klopfte er um diese Zeit an die Kabinentür. Seine Erwartung wurde nicht enttäuscht, zumindest was das Körperliche betraf, um das es ja auch ihm in erster Linie ging. Sie öffnete ihm in einem kurzen, durchsichtigen Seiden-Negligé, zog ihn ohne ein Wort hinein und bereitete ihm ein geschlechtliches Abenteuer, wie sogar er es nie erlebt hatte. Nur von Tam und Chejn wie bei Hertha war bei ihr nichts zu spüren. Außer unablässigem Stöhnen zeigte sie ihm gegenüber nicht die geringste Gefühlswallung. Für einmal war nicht er der Dominante und nur aufs Äußerliche Bedachte. Paradoxerweise oder vielleicht war es gar nicht so paradox, löste eben das Gefühle in ihm für die Frau aus, mit der er schlief. Doch seine wiederholten Versuche, sie während des Aktes zu küssen, wehrte sie mit aller Bestimmtheit ab, drehte jeweils den Kopf mit fest geschlossenen Lippen weg. Zwar verspürte er Lust wie selten zuvor, doch empfand er auch ein seltsames, nie gekanntes Gefühl der Unbefriedigtheit, nicht der physischen, sondern der psychischen, das sich gegen die seelenlose Vereinigung sträubte. Er dachte nicht daran, dass er genau das Hertha angetan hatte.
Als er es sich gegen halb zwölf vollkommen ausgelaugt auf dem Bett bequem machen und sich ausruhen wollte, stieß sie ihn brüsk hinunter, befahl ihm in einem Ton, der keine Widerrede duldete, sich anzuziehen und so rasch wie möglich zu verschwinden. Sie fügte an, ihr Mann würde um Mitternacht vom Kartenspielen aus dem Kasino des Schiffes zurückkommen. Bis dahin müsse sie die Kabine in Ordnung bringen, damit er nichts merke. Er solle morgen um dieselbe Zeit wiederkommen, meinte sie zu Max-David, der schon in der Tür stand und schob ihm einen Geldschein in die Jackentasche. Ehe er es sich versah, schubste sie ihn hinaus und schloss die Tür hinter ihm, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
Nie im Leben hatte sich Max-David so schlecht gefühlt. Tiefer konnte er nicht sinken. Er war zur männlichen Hure geworden. Seine Person zählte nicht mehr, nur noch sein Geschlechtsorgan. Man konnte ihn für zwanzig Dollar kaufen, so viel hatte sie ihm gegeben, und dann bis zum nächsten Gebrauch achtlos in eine Ecke stellen, mit seinen Gefühlen spielen, als wären sie nichts wert. Er hämmerte an die Tür, um ihr seine Meinung zu sagen und vor allem, dass er keine Hure wäre, sich nicht benützen ließe, doch sie öffnete ihm nicht mehr. Erst als ein Steward vorbeikam und sich erkundigte, ob alles in Ordnung wäre, okay sei, wie er fragte, hörte er auf und ging. Den Zwanzig-Dollar-Schein, gegen tausend österreichische Schillinge, wollte er zerreissen und die Schnipsel vor ihre Kabinentür streuen, doch dann überlegte er es sich.
‘Warum eigentlich nicht’, schoss es ihm unvermittelt durch den Kopf, ‘wenn schon, dann soll das elende Weib richtig zahlen, nicht nur zwanzig Dollar!»
Am nächsten Tag stand er Punkt zweiundzwanzig Uhr erneut vor ihrer Tür. Wieder öffnete sie ihm wortlos im halboffenen Seiden-Negligé, zog ihn herein und wollte mit dem Sexspiel beginnen. Doch diesmal hielt er sie auf, meinte im Jargon, den er für den angemessenen hielt:
«Zuerst den Zaster, sonst gibt’s nichts!»
Sie schien nicht im Geringsten verwundert, holte ihr Portemonnaie aus der Handtasche und reichte ihm lächelnd zwanzig Dollar.
«Fünfzig», erwiderte er mit grimmigem Gesichtsausdruck.
Sie ließ sich immer noch nicht beirren oder von ihrem Vorhaben abbringen, sagte nur «von mir aus», holte weitere Scheine aus dem Portemonnaie und gab sie ihm ebenfalls. Nur zu lächeln hatte sie aufgehört.
Diesmal nahm er sie so hart, dass sie laut aufschrie, doch es schien sie nicht zu stören. Sie verlangte gar nach mehr, blieb auch in dieser Situation die Stärkere, die Befehlende.
«Schlag mich, so fest du kannst», forderte sie ihn auf.
Als er ausholte, hielt sie jedoch seine Hand zurück.
«Nicht ins Gesicht! Bist du verrückt? Mein Mann könnte die Striemen sehen und misstrauisch werden».
Max-David reizte und ekelte die Sache zugleich. Einerseits zeigte und gestattete ihm die unbekannte Frau, deren Namen er nicht einmal kannte, Dinge, die er nie zuvor gewagt hatte, anderseits war sie verheiratet, zu alt für ihn und missbrauchte ihn nach ihrem Gutdünken, meinte, für fünfzig Dollar alles kaufen, ihn wie Dreck behandeln zu können oder wie einen Hengst, der nur ihrer geschlechtlichen Befriedigung diente.
Als sie ihn um halb zwölf wieder rüde hinauskomplimentierte, schwor er sich, morgen, in der letzten Nacht der Überfahrt, auf keinen Fall wiederzukommen.
Doch er brach den Schwur und stand abermals vor ihrer Kabine. Diesmal erschien ein Mann. Kaum hatte er die Tür aufgerissen, baute er sich außer sich vor Rage im ärmellosen Unterhemd und kurzen Hosen vor Max-David auf, reckte den Brustkorb heraus und die Nase weit nach oben. Sein schwammiges Gesicht war tiefrot angelaufen. Er war um die fünfundfünfzig, breitschultrig, untersetzt und überaus beleibt, strotzte nur so vor Fettringen um den Bauch. Sie quollen förmlich aus dem Unterhemd heraus. Noch nie hatte Max-David so große und unförmige Männerbrüste gesehen. Er blickte von oben auf den kleinen Mann herab, sah Schweißperlen. Sie glänzten auf der Kopfhaut des Fettwanstes, die hellrosa zwischen schütterem blonden Haar durchschimmerten. Der Berserker, als etwas anders konnte man ihn nicht bezeichnen, hatte die Fäuste geballt, von denen Blut tropfte, während die Fingerknöchel weiß blinkten, öffnete die fest zusammengepressten Lippen, verzog sein Gesicht zu einer hässlichen Fratze und kreischte Max-David mit rotumrandeten Augen an, seine hohe Fistelstimme überschlug sich dabei fast, er solle sich zum Teufel scheren, ja nie wiederkommen, sonst würde er ihm alle Knochen brechen. Nur die Tatsache, dass Max-David ihn um einiges überragte, hinderte ihn daran, es gleich zu tun.
Offenbar war er der Ehemann der Frau und ihr auf die Schliche gekommen. Blutüberströmt und mit völlig aufgelösten Haaren kauerte sie wimmernd hinter ihm auf dem Bett, hielt sich Kopf und Bauch mit den Händen. Er musste wie wild auf sie eingedroschen und eingeboxt und sie an den Haaren durch die Kabine geschleift haben. Herausgerissene Strähnen lagen auf dem Boden herum.
Obwohl Max-David nichts als Abscheu für die Frau empfunden hatte, tat sie ihm jetzt doch leid. Ganz ohne Grund hatte sie das Abenteuer mit ihm nicht gesucht. Doch in jenen Zeiten war häusliche Gewalt, zumindest wenn sie nicht zum Tod oder zur Invalidität dessen führte, dem vom Ehepartner Gewalt angetan wurde, nicht strafbar. Dem Ehemann war es sogar gestattet, den Beischlaf mit seiner Ehefrau zu erzwingen. Er gehörte zu ihren ehelichen Pflichten. Verweigerte sie sie, so durfte er durchaus Gewalt anwenden, ebenso wie es ihm gestattet war, sie körperlich zu züchtigen, wenn sie unfolgsam war und sie nach Gutdünken bestrafen, wenn sie die schändlichste aller Untaten begangen hatte, Ehebruch, wie es hier der Fall war. Beging der Ehemann hingegen dieselbe Verfehlung, so galt sie als Kavaliersdelikt, das seine Frau zwar nicht gutzuheißen, aber doch hinzunehmen hatte. Scheidung kam für die meisten Frauen nicht in Betracht, war sie doch mit gesellschaftlicher Ächtung und in den allermeisten Fällen auch mit finanziellem Ruin und dem Verlust der Kinder verbunden.
Als Max-David besorgt zur arg Misshandelten hinsah, knallte ihm der Mann wütend die Tür vor der Nase zu. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als nachdenklich in seine Kabine zurückzugehen. Der Aufbruch in die neue Welt hatte ungut begonnen.
Am nächsten Morgen kam die Freiheitsstatue in Sicht. Alles drängte sich aufgeregt an die Reling, um sie zu bestaunen, ebenso wie die dichtgedrängten Wolkenkratzer der Halbinsel Manhattan, die sich der Länge nach vor ihnen hinzog. Der neben Max-David stehende Mann, ein bärtiger Grieche, der sich als Costas Sevrapoulos vorstellte, bezeichnete sie als das achte Weltwunder. Eines ragte wie ein zugespitzter Pfeil aus allen anderen heraus, das berühmte, erst vor wenigen Jahren fertiggestellte Empire State Building, das höchste, je von Menschen geschaffene Bauwerk, ganze zweihundert Fuß höher als der Eifelturm in Paris.
Kurz danach legte der große Dampfer in Ellis Island an, einer vor der Südspitze Manhattans im Hudson River zwischen Brooklyn und New Jersey gelegenen Insel. Sie war künstlich vergrößert worden, um die vielen Millionen Menschen abzufertigen, die seit Jahrzehnten aus allen Ländern der Erde ins sagenhafte neue Riesenland Amerika einwandern wollten, das allen Menschen Schutz vor ungerechtfertigter Verfolgung und grenzenlose Freiheiten und Möglichkeiten versprach. Es war das Tor, durch das auch all die mussten, die aus Europa flohen, vor den Nazis, den Sowjets oder wem auch immer.
Wie alle anderen Passagieren stellten sich Else und Max-David in langen Reihen in der Einwanderungshalle an. Als sie endlich vor dem Immigration Officer standen, einem muskulösen, uniformierten Weißen mit der US-Polizeikappe auf dem Kopf, die sie in Westernfilmen im Kino gesehen hatten, war ihnen doch etwas mulmig zumute. Der sechszackige Stern, der übergroß vorne in der Mitte der Kappe prangte, beängstigte und beruhigte sie zugleich. Wären die kleinen goldenen Kügelchen an den Enden der Zacken nicht gewesen, so hätte man ihn ohne Weiteres für den Stern Davids halten können, den Judenstern, wie ihn die Nazis in Deutschland nannten und ihren Opfern aufzwangen. Hier war er kein Stern der Schande, sondern das stolze Emblem eines mächtigen Staates, in dem kein Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden gemacht wurde.
«Jews from Vienna?» fragte er sie, während er ihre Pässe prüfte.
Er sprach das Wort Jew so unbefangen und natürlich aus, als wäre es ebenso normal wie Indian, Russian oder Italian. Dabei sah er ihnen geradewegs in die Augen, schien auf den Grund ihrer Seelen blicken zu wollen.
«Yes», versuchte Max-David ebenso unbefangen zu antworten. Es war eines der wenigen englischen Wörter, die er gelernt hatte.
Der Officer besah sich die Papiere, die Hans Ulrich Kohn ihnen in Wien in die Pässe gelegt hatte. Unter ihnen befand sich die Einladung einer New Yorker Familie namens Goldberg, die sie ebenso wenig kannten wie alles Übrige in der Stadt. Die Gesundheitszeugnisse hingegen interessierten ihn entgegen allen Erwartungen nicht. Er drückte einen ersten Stempel mit den rotblauen Stars and Stripes in ihre Pässe, sagte teilnahmslos, als hätte er nicht eben ein kleines Wunder getan, so kam es den beiden jedenfalls vor, «Okay, go the next desk», gab ihnen Pässe und Papiere zurück und wies sie zum nächsten Schalter.
Die erste Hürde war genommen, doch nun erwartete sie der Health Officer, der Beamte, der bestimmte, ob sie sofort ins Land durften oder - je nach Krankheit - für kürzere oder längere Zeit in Quarantäne mussten, bevor sie das Recht zur definitiven Einreise bekamen. Er begrüsste sie mit einem knappen Hello, besah sich nur kurz die Gesundheitszeugnisse und begann mit seinen Fragen und Untersuchungen. Ein Arzt im weißen Kittel, das Stethoskop um den Hals, stand neben ihm und den anderen Health Officers, die dasselbe mit allen anderen Ankömmlingen der Queen Mary machten. Hinter ihm befand sich ein mehrteiliger, aufklappbarer Paravent, hinter dem sich Passagiere mit verdächtigen Symptomen ganz oder teilweise ausziehen und einer eingehenden Untersuchung unterziehen mussten. Mit der Hilfe eines Wörterbuchs gelang es Max-David und Else, alle Fragen des Beamten zu dessen Zufriedenheit zu beantworten, sodass sie nicht über die berüchtigte Treppe mussten, um ihre Gesundheit unter Beweis zu stellen. Der zweite Officer sagte ebenfalls okay, was das meistverwendete Wort der Amerikaner zu sein schien, drückte ihnen auch seinen Stars and Stripes-Stempel in die Pässe und verwies sie zum letzten Schalter, über dem Customs und Currencies, also Zoll und Devisen stand.
Hier erst mussten die mitgebrachten Koffer geöffnet werden. In erster Linie interessierte den Beamten, es war eine Beamtin, ob sie Esswaren mitbrachten. Das war zum Schutz der einheimischen Landwirtschaft vor dem Einschleppen fremder Keime streng verboten. Auf dem Namensschild der streng dreinblickenden Kontrolleurin stand Ann Francis Greenberg. Eine Unsrige, durchfuhr es Else. Sie erkundigte sich auf Deutsch, woher ihre Eltern kämen. Die Beamtin antwortete kurz angebunden auf Englisch, das ginge sie nichts an. Offenbar hatte sie die auf Deutsch gestellte Frage verstanden. Else hingegen verstand die englischen Worte nicht, begriff aber auch so, vor allem aus dem abweisenden Gesichtsausdruck der Beamtin, den Sinn der Antwort. Was waren das für Juden in diesem Land, fragte sie sich. Zuletzt wollte die uniformierte und bewaffnete junge Frau - an ihren Gürtel hing deutlich sichtbar ein prall gefüllter Pistolenhalfter - wissen, ob sie zu verzollende Waren mitführten und das mitgebrachte Bargeld die Summe von zehntausend Dollar überstieg. Nachdem sie beides verneint hatten und die Zollbeamtin auch in den Koffern nichts Verdächtiges hatte finden können, drückte sie Else und Max-David den dritten und letzten Stars and Stripes-Stempel, jenen mit der Inschrift Customs cleared in die Pässe und wünschte Ihnen ‘Welcome to America’. Dabei hellte sich ihr Gesichtsausdruck merklich auf. Leise meinte sie zu Else, die ihre Großmutter hätte sein können:
« My parents come from Budapest, but keep it for you».
Bevor die überraschte Else etwas sagen konnte, war Ann Francis Greenberg schon mit den nächsten Einwanderern beschäftigt. Also waren die Juden in Amerika doch nicht so anders als die in Europa, dachte Else. Ihre Miene hellte sich merklich auf.
Else sah noch, wie die jüdische Beamtin die nächsten Ankömmlinge in scharfem Ton zurechtwies, als diese ihr Geld zustecken wollten. Sie kannte keine Gnade, ließ sich nicht bestechen und bevorzugte keinen, egal ob es sich um reiche Industrielle aus der Ersten Klasse der Queen Mary oder arme Schlucker aus der dritten Klasse handelte. Für sie und alle anderen Beamten in diesem Saal, wo über die Bewilligung oder Ablehnung der Einwanderung in die Vereinigten Staaten von Amerika entschieden wurde, was für so manchen die Entscheidung über Leben oder Tod bedeutete, waren alle gleich, ob Juden, Christen, Buddhisten oder Hottentotten. Kein noch so hohes Schmiergeld half italienischen Mafiosi oder deutschen Wirtschaftskriminellen ins Land, sofern ihre Taten bekannt waren und ihr Steckbrief aushing. Ohne Gnade wurden sie mit dem nächsten Schiff in die Verließe Mussolinis und Hitlers zurückgeschickt.
Irgendwann im Laufe des Tages fanden sich Else und Max-David mit ihren Koffern außerhalb des Gebäudes wieder. Sie waren in Amerika, atmeten die Luft der Freiheit und Gleichheit mehrmals tief in ihre Lungen ein. Niemand konnte sie mehr zurückschicken in das zerrissene Europa, wo Angst und Schrecken herrschten, Hitler, Mussolini, Franco und Stalin den ganzen Kontinent bedrohten.
Sie nahmen eine Fähre. Sie brachte sie auf die andere Seite von Manhattan, zum East River, der in Wirklichkeit kein Fluss, sondern ein Meeresarm ist, auf dem bisweilen orkanartige Stürme toben. Von dort ging es mit dem Taxi in Richtung Norden weiter. Unterwegs bestaunten sie die gewaltige Brooklyn Bridge, die bei ihrer Eröffnung 1883 die längste Hängebrücke der Welt gewesen war.
Sie hielten vor einem der Wolkenkratzer, in dem die ehrwürdige Bank Rothschild und Söhne ihren Sitz hatte. Ed Greenberg - den Namen hatten sie doch heute schon gelesen -, einer der Manager, empfing sie in einem kleinen Büro. Er hieß sie herzlich willkommen, bot ihnen Coke an. Er trug einen maßgeschneiderten dunkelblauen Anzug, eine graugrün gestreifte Clubkrawatte und auf Hochglanz polierte schwarze Lackschuhe. Ein Ziertuch in den Farben der Krawatte steckte in der Brusttasche seines Sakkos. Mit seinen kurzgeschnittenen blonden Haaren und dem braungebrannten Gesicht sah er gar nicht aus wie ein Jude, glich einem gojischen Minister oder Staatssekretär. Ohne zu fragen, schüttete er so viel Eis in ihre Gläser, dass sie ihn baten, den Großteil davon wieder herauszunehmen. Er entschuldigte sich, meinte, er sei schon lange nicht mehr in Old Europe gewesen, hätte nicht an die Gewohnheiten der Europäer gedacht. Sie sollten ihm das bitte nicht übelnehmen.
Nachdem sie die Formalitäten erledigt hatten, Max-David erschrak dabei fast über die Höhe des Kontostands seiner Mutter, fuhr er sie persönlich zur Wohnung, die die Bank auftragsgemäß für sie erstanden hatte. Sie war nicht weit entfernt, befand dich an bester Lage von Manhattan, auf der Ostseite des Central Parks, unweit des Broadways, des Metropolitan Museum of Art, das ihnen mit seinen mächtigen Säulen wie ein überdimensionaler griechischer Tempel vorkam, und der nicht viel weniger eindrücklichen Synagoge der jüdisch-liberalen Gemeinde. Greenberg beruhigte sie. Sie könnten unbesorgt sein, meinte er, am Shabbat, das Wort Schabbes verstand er nicht, mit dem Auto vorfahren und ohne Hut an ihr vorbeigehen. Die Frommen würden an anderen Orten beten. Max-David fand das vollkommen verrückt. In Wien wäre so etwas auch in den modernsten Gemeinden unmöglich gewesen. Sie waren wirklich in einer neuen Welt angekommen. Sogar die Juden schienen hier anders zu sein als in Europa, in Old Europe, wie der Bankier gesagt hatte.
Else hatte ausdrücklich eine bescheidene Wohnung gewünscht. Doch was sie zu sehen bekam, war alles andere als das. Schon beim Eintritt ins Haus waren sie von Marmor, Säulen und Skulpturen umgeben, nicht den billigsten. Mit seinen nur neun Stöcken glich es einer Villa im Jugendstil neben den hochaufschiessenden Wolkenkratzern, die im Norden und Süden zu sehen waren. Der Portier, ein schwarzer Hüne, der Jack Johnson ähnelte, dem legendären Boxweltmeister aus der Zeit vor dem Weltkrieg, öffnete ihnen. In seiner Phantasieuniform fehlte keine Farbe und kein Orden. Die Uniform eines italienischen Carabinieri-Generals wirkte neben ihr geradezu armselig. Als er die Neuankömmling in Begleitung von Mister Greenberg sah, den er offensichtlich kannte und für ebenso hochgestellt wie den Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten hielt, zog er Augenbrauen und Mundwinkel in die Höhe, fast bis zur Stirn, entblösste zwei Reihen strahlend weißer Pferdezähne und begrüsste die Ankömmlinge überschwänglich, aber auch mit der ihm angemessenen scheinenden Portion Respekt. Er lud die Koffer in den Lift, der so groß war, dass eine halbe Armee hineingepasst hätte und fuhr mit den neuen Wohnungseigentümern und ihrem Begleiter in den obersten Stock hinauf. Die goldenen Griffe und Schlösser an den Wohnungstüren waren unübersehbar. An machen gab es sogar drei und dazu noch Riegel und Türspione. Else schüttelte den Kopf und raunte Max-David leise zu, damit die beiden anderen es nicht hörten:
«Siehst du, was Luxus bringt: Nichts als Angst vor Einbrechern!»
Sie hätte ohne weiteres lauter sprechen können, denn der Bankier verstand nur Englisch und Jiddisch und der Portier nur Englisch und Spanisch.
Die Wohnung war ein Luxusappartement von olympischen Ausmaßen mit allem, was dazugehörte. Allein das ovale Entree war so groß wie ihre Vier-Zimmer-Wohnung in Wien gewesen war. In seiner Mitte sprudelte Wasser aus zwei römischen Springbrunnen. Die Wände waren ringsum mit großflächig verspiegelten Einbauschränken versehen. Die Spiegel reichten vom Boden bis zum Plafond in mehr als drei Metern Höhe. Else kam sich vor wie im Spiegelkabinett im Prater. Davor standen römische Ziersäulen aus rosa und weißem Marmor. Zwischen den Ziersäulen und den Einbauschränken konnte man spazieren gehen wie auf den Seitenstrassen der Prater Hauptallee. Auch der Boden bestand aus Marmor. Keine Fugen waren zu sehen. Max-David fragte sich, wie das möglich war. Sie konnten doch unmöglich eine so große Platte hier hinaufgeschafft und in einem Stück eingebaut haben. Er nahm, sich vor, sich bei Gelegenheit darüber zu erkundigen. Türen zwischen den Säulen führten zur Bibliothek, zum Arbeitszimmer, zum Musikzimmer, in dem ein schwarzer Schleiflack-Flügel der Marke Steinway stand, zur Küche, die einem Wiener Restaurant ähnelte, nur moderner war, zu zwei Bedienstetenzimmern, zum Salon, zum Ess-Saal und zu den sechs Schlaf- und Gästeräumen. Jedes der Gemächer verfügte über Vorzimmer, Badezimmer, Schlafsalon mit Himmelbett, Spiegelkommode, Schreibtisch und Barschrank sowie eine begehbaren Schrankraum. In jedem hätten Elses ganzer Wiener Schneiderladen und der halbe Nachbarladen Platz gefunden. Das Appartement war mit Möbeln und Kunstgegenständen eingerichtet, die jedem Museum zur Ehre gereicht hätten. Nur schon die Teppiche waren ein Vermögen wert, vom den Bildern, Skulpturen, Vasen und Uhren ganz zu schweigen. Else nahm an, dem Bankier ein viel zu hohes Budget für den Wohnungskauf eingeräumt zu haben. Aber woher hätte sie wissen sollen, welches das richtige gewesen wäre? Sie war nie zuvor in Amerika gewesen und New York war so weit von Wien entfernt wie der Mond und so anders als Wien, dass sie sich auf einem anderen Planeten wähnte.
«Was soll das?», ereiferte sie sich, «ich habe doch ausdrücklich eine kleine und einfache Wohnung gewünscht. Die ist viel zu groß und zu teuer für uns zwei!»
Greenberg liess sich nicht beirren. Er lächelte und blieb höflich, antwortete auf Englisch, versuchte dabei, seinen breiten amerikanischen Akzent zu unterdrücken. Wenn Else ein Wort nicht verstand, erklärte er es ihr auf Jiddisch.
«Madam», sagte er, «wir haben die Wohnung für ein Butterbrot aus einem Konkurs für Sie ersteigert und mussten dafür nicht einmal Ihr Kapital angreifen, konnten sie lediglich aus den Zinsen und Benefits bezahlen, die Sie mit Ihren Anlagen in weniger als sechs Monaten verdienen. Die gesamte Einrichtung war erst noch im Preis inbegriffen. Außerdem brauchen Sie eine anständige Bleibe in New York. Sie wissen nicht, wie es hier in billigen Häusern aussieht. Da herrschen Mord und Totschlag. Man kann New York nicht mit einer europäischen Stadt vergleichen. Hier gibt es mehr Gesindel als in Neapel, London und Marseille zusammen. Zudem ist die Wohnung eine hervorragende Kapitalanlage. Sie können Sie jederzeit zu einem viel höheren Preis verkaufen als der, den sie bezahlt haben. Wohnungen in gediegenen Häusern am Central Park gehören zu den gesuchtesten von ganz Manhattan, ja vielleicht sogar von ganz Amerika. In wenigen Jahren wird sie das Doppelte oder Dreifache des heutigen Wertes haben, darauf verwette ich meinen Hut!»
Jetzt war es Max-David, der lachte.
«Ich dachte, man braucht keinen, um an der Synagoge vorbeizugehen. Da können Sie ihn leicht verwetten.»
Ed Greenberg schmunzelte bei dieser Antwort. Er hatte einen Gleichgesinnten gefunden.
«Ich muss mich wohl in mein Schicksal fügen», meinte Else schließlich, «obwohl mir der ganze Luxus hier zuwider ist. Überfluss habe ich nie geschätzt und werde ihn auch nie schätzen. Zumindest der ganze Schnickschnack muss weg. Ich nehme an, dass es Arme in New York gibt, die lange vom dem Verkaufserlös der Gemälde, Statuen und Teppiche leben können, die mich selbst nichts gekostet haben und hier umsonst und nutzlos herumstehen. Das macht mich glücklicher, als in diesem ganzen nutzlosen Zeug zu schwelgen».
Der Bankier hatte solche Äußerungen noch nie von einer begüterten Klientin gehört. Doch, er musste sich korrigieren, einmal, vor Jahren war eine dieser verrückten Rothschilds, der die Bank gehörte, auf eine ähnliche, gar noch krassere Idee gekommen. Sie hatte all ihren Privatbesitz verkauft und verschenkt, auch ihre Aktien der Bank, und war nach Palästina in einen Kibbuz am See Genezareth gezogen, wo es hauptsächlich aus Russland zu Fuß ins Land gekommene Spinner und Idealisten gab, die von der Gründung des Staates Israel faselten und ohne jedes Eigentum und Geld auskamen. Wie er erst kürzlich erfahren hatte, würde sie vormittags im Kuhstall arbeiten, sich nachmittags um den Kindergarten kümmern und nachts, wenn die Männer mit Gewehren Wache standen, um marodierende Araber fernzuhalten, Klavierkonzerte im Gemeinschaftssaal geben, alles ohne einen einzigen Cent dafür zu bekommen. Es gab schon irre Leute auf dieser Welt, dachte er bei sich, sagte jedoch nichts, um Frau Friedländer nicht zu verärgern, die offenbar auch nichts von Luxus hielt. Es war ihm vollkommen unerklärlich.
Max-David war über das Vorhaben seiner Mutter wenig erfreut. Er hatte ganz andere Absichten.
«Nein, das machen wir bestimmt nicht», wandte er ein. «Irgendeinmal muss Schluss sein mit deinem Leben für andere, Mutter. Jetzt bist du an der Reihe, darfst du dir auch einmal etwas gönnen und die Früchte deiner Arbeit genießen.»
Zornesröte stieg ihr ins Gesicht.
«Habe ich dich so erzogen, mein Sohn?», ereiferte sie sich. «Weißt du immer noch nicht, dass Geld nur dann glücklich macht, wenn man anderen damit Gutes tut? Das habe ich dir siebenundzwanzig Jahre lang zu lehren versucht, offenbar vergeblich.»
Sie hielt inne, sammelte sich, wollte vor dem Bankier mit ihrem Sohn nicht streiten.
«Aber wir besprechen das ein andermal, alleine. Herr Greenberg hat sicher noch viel zu tun und wir müssen die Koffer auspacken und versuchen, uns in diesem Palast zu Hause zu fühlen. Mir wird das jedenfalls nicht leichtfallen.»
Das sollte auch zutreffen. Auf Anraten der Bank hatte Else ihrem Sohn Kontovollmacht erteilt. Sie schränkte sie aber kurz danach auf die Verfügungsgewalt über die Zinsen und Erträge ihrer Anlagen ein, nachdem er an einem Tag mehr ausgegeben hatte als sie in ihrem ganzen Leben. Es stand ihm jedoch immer noch mehr als genug Geld zur Verfügung, um sich keine Anstellung als Ingenieur suchen zu müssen - die er ohne Schwierigkeiten hätte finden können - oder sonst einer Arbeit nachzugehen. Er kostete das Luxusleben in New York und den ihm in den Schoß gefallenen Reichtum bis zur Neige aus. Seine Mutter aber ging nur aus dem Haus, um die Synagoge oder ein nahegelegenes Coffee Shop zu besuchen, sich mit den dort kennengelernten Frauen zu treffen, die wie sie Deutsch sprachen und wie sie selbst vor kurzer oder längerer Zeit aus Österreich oder Deutschland einwandert waren. Vor allem wollte sie Erkundigungen darüber einziehen, wie sie das verachtete, sündteure Inventar der neuen Wohnung am besten veräußern konnte, um den Erlös an die zu verteilen, die ihn mehr als sie benötigten. Doch ohne Kenntnisse der örtlichen Gegebenheiten und der englischen Sprache und ohne die Menschen wirklich zu kennen, auf die sie traf, ohne zu wissen, wer es ehrlich meinte und wer nicht, war das keineswegs so einfach wie sie es sich vorgestellt hatte. Jeder und jede, die von ihren ungewöhnlichen Absichten erfuhr, riet ihr zu etwas Anderem. Die meisten wollten so viel wie möglich für sich selbst abzwacken, vor allem die, die in keiner Weise darauf angewiesen waren, sondern selbst genug besaßen. Vordergründig bewunderten und lobten sie die alte Frau für ihr Vorhaben, hinter ihrem Rücken aber tuschelten sie, bezeichneten sie als Verrückte, der man das abnehmen sollte, was sie unbedingt loswerden wollte, um sie danach in ein Irrenhaus zu sperren.
So blieb die nächsten Wochen in der Wohnung alles wie es war, sehr zur Freude von Max-David. Er warf das Geld seiner Mutter mit beiden Händen zum Fenster hinaus, feierte ausschweifende Feste mit neugewonnene Freunden, die in Wirklichkeit keine waren, sondern nur von ihm zu profitieren suchten, und brachte fast täglich Frauen nach Hause. Das Konto war gefüllt genug und die Wohnung groß genug, dass seine Mutter kaum etwas von all dem mitbekam, besonders da sie sich in ihr Zimmer verkroch, die vielen anderen Räume kaum je betrat und abends früh zu Bett ging, während er erst spätnachts mit seiner neuesten Eroberung, nicht selten auch mit zwei oder drei leichten Mädchen ankam. Die Putzfrauen hatten anderntags alle Hände voll zu tun, um die riesige Wohnung auch nur halbwegs aufzuräumen und zu säubern.
Die Reise in die Freiheit nach Amerika wurde für Else immer mehr zu einer in die innere Einsamkeit und Leere. Sie lernte kaum Englisch, wurde von den wenigen Menschen, die sie noch traf, wenn sie sich aus dem Appartement wagte, was immer seltener geschah, als verschrobene Alte betrachteten. Hatte sie das Dasein in der bescheidenen Bleibe und im Schneideratelier in Wien ausgefüllt und befriedigt, so sah sie in New York keinen Sinn mehr im Leben, fand auch kaum noch Zugang zu ihrem Sohn, der sich mit jedem Tag, der nutzlos verging, immer weiter von ihr entfernte.
Man schrieb das Jahr 1941. In New York, wie an der ganzen Ostküste der USA, war es in diesem Herbst besonders sonnig. Leichtbekleidet und gutgelaunt flanierten die Menschen in ihrer Freizeit über die Meerespromenaden von Long Island, durch den Central Park in New York, in den Höhenwegen der Appalachen und über die Boulevards von Charleston, Atlantic City und Jacksonville, so als wäre immer noch Sommer. In Europa hingegen interessierte das Wetter niemand, ausser vielleicht einige deutsche Generale, die einen frühen Wintereinbruch in Russland fürchteten. Dort tobte der schrecklichste aller Kriege, ein noch viel grausamerer, mit tödlicheren Waffen ausgefochtener und noch mehr Opfer fordernder als der, der Else Arthur genommen hatte, die Liebe ihres Lebens. Immer noch war er in ihren Gedanken. Seit seinem Tod hatte sie keinen Mann auch nur angesehen, war mit keinem eine Verbindung eingegangen.
Schon zwei Jahre zuvor, im September 1939, hatte Deutschland Polen überfallen und das Land unter sich und der verbündeten Sowjetunion aufgeteilt. Wieder einmal hatte Polen zu existieren aufgehört. Im Frühsommer des letzten Jahres waren die Deutschen in Frankreich eingefallen, hatten auf ihrem Weg dorthin die die Benelux-Staaten überfallen, ohne sich um deren Neutralität zu scheren. In Siegerpose liess sich Hitler mit seinen Heerführern vor dem Eifelturm ablichten. Das Foto ging um die Welt, malte die schlimmsten Bilder an die Wand. Er liess extra den Eisenbahnwaggon aus dem Depot holen, in dem die deutsche Kapitulation am 11. November 1918 unterzeichnet worden war und erklärte das Dokument von damals am selben Ort, im Wald von Compiègne, für null und nicht nichtig. Viele befürchteten, er würde sich bald in London vor dem Denkmal von Admiral Nelson den Fotografen stellen und auch Großbritannien, den letzten verbliebenen Kriegsgegner Deutschlands, niederwerfen und seine Schreckensherrschaft über ganz Europa ausdehnen. Täglich flogen die deutschen Messerschmitts über den Kanal und griffen London an. England schien vor dem Fall zu stehen. Doch der neue Premierminister Winston Churchill rief seine Landsleute zum Widerstand bis zum Letzten auf, versprach ihnen dabei aber nichts als Blut, Schweiß und Tränen. Es war es die Ehrlichkeit und der Appell an die Selbstbehauptung, die die Briten durchhalten liesss. Chamberlains Appeasement-Politik, seine vielen Zugeständnisse an Hitler in der Hoffnung, ein Diktator würde sein Wort und seine Friedensbeteuerungen einhalten, waren gescheitert. Und doch wiederholen heute viele Politiker denselben Fehler, glauben den Versprechungen eines iranischen Ayatollahs, versuchen, ihn mit Geld und schönen Worten kaufen zu können und sehen nicht, wie viele Gräber sie schaufeln.
Wieviel Hitlers Wort wert war, musste jetzt Stalin, selbst ein massenmordender Despot, erfahren, denn nun hatte Hitler auch noch den Pakt mit ihm gebrochen und war in die Sowjetunion eingefallen. Im Radio kündigte er an, die Bolschewiken zu vernichten und Lebensraum für das deutsche Volk zu schaffen. Er bezeichnete es als ein höherwertiges als alle anderen, sprach von einer Herrenrasse und von Übermenschen. Slawen, Neger und Juden standen für ihn und seine Rassentheoretiker am ganz unten auf der menschlichen Werteskala. Die Juden insbesondere waren Untermenschen. Er verglich sie mit Ratten, die es nicht nur aus dem deutschen Volk zu entfernen, sondern gänzlich auszurotten galt. Offen sprach er von Ende der jüdischen Rasse in Europa.
Die Sowjetunion war auf den Angriff ihres Verbündeten nicht vorbereitet und nicht in der Lage, den deutschen Truppen nennenswerten Widerstand zu leisten. Auf einer Länge von mehr als 1.600 Kilometern stiessen sie tief nach Russland hinein, gelangten in Blitzfeldzügen im Norden bis nach Leningrad und im Süden bis ans Schwarze Meer. Der deutsche Vorstoss ging sogar noch weiter als der von Anfang 1918, als die nach dem Sturz des Zaren die an Macht gekommenen Kommunisten um Lenin und Trotzki den Krieg nicht hatten fortsetzen wollen. Hindenburg und Ludendorff konnte weite Gebiete Russland kampflos besetzen, ihre Truppen mit der Eisenbahn vorrücken lassen, was zum Frieden von Brest Litowks führte. Die am Ende siegreichen West-Alliierten hoben ihn noch im selben Jahr auf.
Damals hielten die Deutschen noch etwas von ritterlicher Kriegsführung, wenn auch Ludendorff bereits vor Hitler Lebensraum für das deutsche Volk forderte. Doch an der Zivilbevölkerung und den Juden, die zu Hunderttausenden in ihren Armeen kämpften, vergingen sie sich nicht.
1941 aber kamen unfassbare Meldungen aus Europa. Berichte kursierten über systematische Massaker der Deutschen in Osteuropa. Es hieß, sie würden überall die Juden zusammentreiben und erschießen oder sie in riesige, eigens für sie errichtete Konzentrationslager deportieren, ihnen den gesamten Besitz abnehmen, sie entrechten, unter unmenschlichen Bedingungen zu schwerster, unbezahlter Zwangsarbeit pressen, Hungers sterben lassen, sie gar vergasen oder verbrennen. Unzählige seien zu Tode gekommen. Die meisten in Amerika, auch die Politiker, konnten nicht glauben, dass ein das Volk von Goethe und Schiller derartige Verbrechen anrichten sollte, hielten die Berichte für Gerüchte. Niemand wusste, was wahr und was Propaganda war. Gesicherte Nachrichten gab es nicht. Wer konnte den Berichten aus Europa schon Glauben schenken? In der langen Menschheitsgeschichte hatten die grausamsten Eroberer nicht das begangen, was man den Deutschen anlastete, nicht die Wikinger, Hunnen und Mongolen auf ihren Raubzügen durch Europa, nicht die Spanier bei ihrem Goldraub und ihrer Zwangsmissionierung in Südamerika.
Die USA blieben offiziell weiterhin neutral, lieferten aber im großen Umfang Waffen an England für seinen Kampf ums Überleben und gegen die Barbarei der Nazis. Immer mehr Gräueltaten sickerten durch, immer unglaubhafter wurde es, dass es sich es nur Gerüchte handelte. Abscheu und Entsetzen riefen sie hervor. Trotzdem sprach die Mehrheit der Amerikaner sich in Meinungsumfragen gegen die Einmischung in den weit entfernten Krieg aus.
Else war fünfundsiebzig geworden. Ihr Leben in der viel zu großen Wohnung in New York war von Tristesse und Einsamkeit geprägt. Der Luxus, der sie gegen ihren Willen umgab, liess ihre Schuldgefühle nur noch anwachsen. Täglich machte sie sich Vorwürfe, dass sie ihren Plan, die nutzlosen Kunstgegenstände in der Wohnung zu verkaufen und den Erlös den Armen zu schenken, nicht hatte verwirklichen können. Ihren Sohn sah sie kaum noch und wenn, so wechselten sie nur wenige Worte miteinander. Die Musik aus dem Radio, die nicht die ihre war, die deutschsprachige Zeitung, in der Dinge standen, die sie nicht begriff, eine Nachbarin, die manchmal vorbeischaute, aber nie auf einen Kaffee blieb, waren die einzigen schwachen Lichtblicke in ihrem Alltag. Aus dem Haus war sie schon lange nicht mehr gekommen. Was sollte sie auch draußen? Sie verstand die Sprache der Menschen und das, was sie bewegte, kaum, lebte in einer anderen, längst vergangenen Zeit und war trotz ihrer physischen Präsenz in Amerika nicht angekommen. Ihren einzigen Traum, den nach einem Enkelkind, hatte sie ausgeträumt und doch wollte sie ihn nicht ganz aufgeben.
Ein allerletztes Mal wollte sie den Versuch unternehmen, ihr Leben und das ihres Sohnes in die Bahnen zurückzulenken, in denen es sich vor ihrer Abreise in die Neue Welt befunden hatte, auch wenn sie ahnte, dass diesem Versuch nicht viel Erfolg beschieden sein würde. Doch ohne ihn zu unternehmen, wollte sie ihr irdisches Dasein nicht beenden.
Sie nahm die wenige Kraft, die ihr verblieben war, zusammen und sagte zu Maxi, als sie an einem seltenen Morgen gemeinsam beim Frühstück saßen, sie würde sich freuen, wenn er am Freitagabend mit ihr noch einmal Schabbes feiern würde, so wie sie es früher in Wien immer getan hatten, zu zweit oder mit Freunden und Gästen, mit denen sie nach dem Essen bis weit in die Nacht hinein zusammengesessen waren, Smires gesungen hatten, fröhliche, gottgefällige Lieder, und über alles diskutiert hatten, was der Ewige geschaffen hatte und die Menschen zu zerstören suchten. Sie würde gemeinsam mit einer der Putzfrauen alles vorbereiten, erklärte sie Maxi. Es würde ihm sicher gefallen. Er solle allein kommen, bat sie ihn, damit sie endlich wieder einmal miteinander reden könnten, ungestört, bei einem einträchtigen Zusammensein und einem Schabbesessen, das sie an frühere Zeiten erinnerte. Maxi konnte seiner Mutter den Wunsch nicht abschlagen und sagte zu, verzichtete für einmal auf seine nächtlichen Vergnügungen.
Schon am Mittwoch begann sie mit den Vorbereitungen. Elvira, die bescheidene Puerto-Ricanerin, die sie in Herz geschlossen hatte, anders als die Brasilianerin Lydia, eine hochnäsige Blondine, die von ihrem Sohn eingestellt worden war, sandte sie auf den Markt und zu Sheiner’s Mechaje, den koscheren Feinkostladen, um alles zu besorgen, was sie brauchte. Sie gab ihr einen langen Einkaufszettel, den sie mit der Hilfe des Wörterbuchs verfasst hatte, damit sie ja nichts Falsches mitbrachte oder etwas vergaß.
Dann stand sie zwei Tage in der Küche und fühlte sich beim Kochen und Backen in die alten Wiener Zeiten zurückversetzt. Golden und glänzend erschienen sie ihr in der Erinnerung, obwohl sie alles andere gewesen waren. Am Freitagnachmittag deckte sie den Tisch, still und besinnlich, wie sie es früher in Wien jede Woche gemacht hatte. Als es eindunkelte, zündete sie die Schabbeskerzen, bedeckte ihre Augen mit den Händen und sprach das uralte Gebet. Die Königin Schabbat zog ins Haus ein und erfüllte es mit ihrem Glanz. Kein anderer gleicht ihm. Sogar das Licht der Sonne verblasst neben ihm.
Max-David kam nach Hause. Er strahlte über das, was er sah. Es ließ ihn auch in Wehmut verfallen, erinnerte ihn an seine Kindheit und Jugend, an die glückliche Zeit, in der er nichts besessen hatte als die Liebe seiner Mutter. Er küsste sie zum ersten Mal seit langem auf die Stirn, wünschte ihr von Herzen Gut Schabbes.
Gehackte Eier mit Zwiebeln standen auf dem Tisch, gefilte Fisch mit frisch geriebenem Kren, eine große Platte mit Scheiben gesulzten Karpfens, in deren Mitte sich die gefilten Fisch befanden, ein dampfender Topf Mazzeknödelsuppe, heißes Tscholent mit großen braunen Bohnen und weichgekochtem Rindfleisch, goldglänzender Gänsebraten, Entenleber, Kartoffelpuffer und Kreplach, Teigtaschen mit allen möglich Füllungen. Alle waren sie fleischig, denn Milch und Butter dürfen fromme Juden nicht mit Fleischspeisen mischen. Vor Max-David lagen die Challes, zwei herrlich duftende Brotzöpfe, bedeckt mit dem weißen Seidentuch, auf das die Löwen Judas und der Davidstern gestickt waren. Er setzte die Kippa auf, nahm die geöffnete Flasche koscheren Rotweins, die vor ihm stand, goss den Silberbecher bis oben voll, wie es üblich ist, erhob sich, schlug das Siddur auf, das kleine Gebetbuch mit dem silbernen Deckel und den leuchtenden Glassteinen darauf, das er zur Bar Mitzwe bekommen hatte, und sprach den Kiddusch, das freitagabendliche Dank- und Segensgebet für Brot und Wein und all die anderen Gaben, mit denen Gott sie so reichlich beschenkt hatte, auf dass sie sie zum Guten und nicht Schlechten verwendeten. Seine Mutter stand mit zitternden Beinen und pochendem Herzen neben ihm, nippte nach ihm am randvollen Schabbesbecher, den er ihr reichte, und aß das Stück Challe, das er für sie abgebrochen und in Salz getunkt hatte, wie es der Brauch war, damit auch sie am Segen Gottes teilhabe. Eine Träne rann ihr übers Gesicht.
Nach dem Essen, das ihnen mundete, wie schon lange keines mehr, sah Else ihren Sohn an und wartete eine Weile, bevor sie zu sprechen begann. Wie erwachsen war er geworden mit seinen zweiunddreißig Jahren und doch noch so unreif, lebte in den Tag hinein ohne wahres Ziel und ohne seinem Dasein Sinn zu geben, suchte Vergnügungen und häufte vergängliche materielle Güter an statt geistige, die allein beständig sind, brachte Mätressen nach Hause statt eine Familie zu gründen mit einer zniesdigen jüdischen Frau, einer, die Anstand und Tam hatte und ihm Kinder schenken, sie zu wertvollen Menschen erziehen würde, die nicht nur für sich selbst lebten, sondern andere mit den Gaben beschenkten, die Gott ihnen gegeben hatte. Nur das machte glücklich. Warum erkannte er das nicht?
Sie nahm seine Hand, blickte ihm in die Augen und sprach leise, damit er umso deutlicher hörte, was sie ihm zu sagen hatte und es in sein Herz drang:
«Mein lieber einziger Sohn», begann sie. «ich bin eine alte Frau und habe nicht mehr lange zu leben, das weißt du.»
Er protestierte.
«Unterbrich mich nicht, sondern hör’ zu, Maxi», sagte sie. «Es ist sehr wichtig, was ich dir sagen will. Du kennst den einzigen Wunsch, den ich noch habe, bevor meine Seele zum Ewigen wandert, ins Ojlem habo, die künftige Welt, wo die Menschen klüger sind als in dieser, sich nicht bekriegen und bekämpfen, nicht dem Geld nachrennen und einander nicht hassen und umbringen, sondern in Eintracht und Liebe miteinander leben, füreinander sorgen und geistige Güter anhäufen, nicht materielle.
«Ja Mutter», unterbrach er sie erneut, «ich weiß, dass du dir ein Enkelkind wünschst».
«Und warum erfüllst du mir dann den Wunsch nicht?», fragte sie.
«Ich würde es ja gerne tun, aber ich habe noch nicht die richtige Frau gefunden», antwortete er. «Lass mir Zeit. Sie wird mir früher oder später über den Weg laufen.»
«Ich habe die Zeit nicht mehr, mein Sohn, aber trotzdem habe ich beschlossen, sie dir zu lassen. Du musst deinen Weg selbst finden und wenn es erst nach meinem Tod sein sollte, dass du eine zniesidge Frau findest, so soll es mir in Gottes Namen auch recht sein.»
Max-David verstand den Sinn ihrer Rede nicht. Hatte sie ihre Meinung geändert und verzichtete plötzlich auf das Enkelkind, das sie sich immer gewünscht hatte?
«Heisst das, dass du keine Enkel mehr willst?», fragte er verwundert.
«Nein, im Gegenteil», erklärte sie. «Es heißt, dass ich dir bis zu deinem fünfzigsten Geburtstag Zeit gebe, zu heiraten und Kinder zu bekommen. Solltest du bis dahin nicht zur Vernunft gekommen und immer noch unverheiratet und kinderlos sein, so verlierst du dein gesamtes Erbe, bis auf den letzten Dollar. Auch die Wohnung und alle meine Bankanlagen, Firmenbeteiligungen und die sonstigen Dinge, die mir nichts, aber dir so viel bedeuten. In diesem Fall, ich hoffe beim Allmächtigen nicht, dass er eintritt, fällt mein Vermögen, alles, was ich besitze, an die Armen und Bedürftigen von New York, der Stadt, die uns aufgenommen hat, in der Materialismus und der Geiz mir aber auch zutiefst zuwider sind. Ich habe am Montag einen Termin bei einem Notar, um all meinen Besitz an eine Treuhandfirma zu übertragen und ein Testament aufzusetzen. Es wird verwahrt, bis du heiratest und dein erstes Kind geboren wird. Dann fällt alles an dich. Bis dahin kannst du in der Wohnung bleiben und bekommst weiter die Zinsen und Erträge meiner Anlagen und Beteiligungen. Das ist mehr als hundert Arbeiter im Jahr zusammen verdienen. Solltest du jedoch an deinem fünfzigsten Geburtstag immer noch unverheiratet und kinderlos sein, so erhältst du ab diesem Tag keinen Cent mehr und die Wohnung und alles Übrige fällt an die Organisationen und Armeneinrichtungen, die ich und der Notar bestimmen werden.
Max-David hatte Schlimmeres erwartet.
«Wenn es nur das ist, liebe Mutter», erwiderte er, «so kann ich dich beruhigen. Bis dahin verbleiben mir noch achtzehn Jahre. Das ist mehr als genug, um eine Mutter für meine künftigen Kinder zu finden.»
«Nimm die Sache nicht so leicht, Maxi», gab sie zu bedenken, «achtzehn Jahre sind schneller um, als du jetzt meinst, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Zögere nicht, wenn du der Richtigen begegnest, einer Frau, die die wahren Werte des Lebens schätzt und nicht Geld und Vergnügungen nachrennt.»
«Jaja Mutter», stimmte er zu, ohne aufgenommen zu haben, was sie ihm gesagt und wozu sie ihm geraten hatte, nicht zu ihrem Glück, sondern zu seinem.
Wenige Monate später starb Else. Der Arzt vermerkte als Todesursache Herzversagen. In Wirklichkeit hatte sie sie einfach nicht mehr leben, nicht mehr mitansehen wollen, wie ihre Welt unterging und ihr Sohn all das verriet, an das sie geglaubt und wofür sie gelebt hatte. Sie sehnte sich nur danach, mit ihrem geliebten Arthur an einem besseren Ort als diesem wiedervereint zu sein. Sie besaß die Gabe Weniger, zu atmen aufhören und friedlich in den Tod gehen zu können. Ein Lächeln auf den Lippen blieb ihr jedoch versagt.
Zum Begräbnis erschienen nicht viele Menschen, nur ihr Sohn, die Frau, mit der er seit ein paar Wochen zusammenlebte, ohne sie zu lieben, Ed Greenberg von Rothschild und Söhne, seine Nichte Ann Francis, die bei der Einwanderungsbehörde arbeitete und auch ein Auge auf Max-David geworfen hatte, die Nachbarin, die manchmal auf einen Schwatz vorbeigekommen war, ohne zum Kaffee zu bleiben, der Rabbiner der liberalen Gemeinde, der Chasan, der Vorbeter, und die Mitglieder der Chevre kedische, der Heiligen Gesellschaft, die sich um die Waschung und Kleidung der Toten gekümmert hatten. Max-David sprach das Kaddischgebet, der Chasan sang El male Rachamim – Gott voller Erbarmen - und der Rabbiner hielt eine Rede, in der er das Leben der außergewöhnlichen Frau würdigte, die keiner richtig gekannt hatte, wie er sagte. Dann wurde der einfache Holzsarg, in dem sie wie alle Juden, ob reich oder arm, bestattet wurde, in die Grube gelassen. Die Trauernden und die, die nur so taten, schütteten Erde auf ihn und legte Steine auf den Rand des Grabs. Anders als Blumen sind sie beständig, verblühen und vergehen nicht. Ein Essen gab nach es jüdischer Sitte nach dem Begräbnis nicht.
Der Grabstein wurde auf den Tag genau ein Jahr später errichtet. Darauf hatte ihr Sohn folgende Inschrift in deutscher Sprache meisseln lassen:
«Hier ruht meine Mutter Else Friedländer, geborene Levi, eine wahre Gerechte, auf dass Gott, der Richter in Ewigkeit, sie in Gnade aufnehme, und sie im Olam haba, in der glücklichen jenseitigen Welt, neben den Engeln und Seraphim sitze, um ihre Güte und Weisheit über die Welt leuchten zu lassen.»
Die Diskrepanz zwischen diesem Satz, Max-Davids Sehnsucht nach dem Glück seiner Kindheit und Jugend und der Art, wie er lebte, hätte größer nicht sein können. Die Abenteuer mit Frauen, die Ausfahrten und Feste, die Wochenenden auf Long Island und in den Kasinos und die Alkoholexzesse gingen weiter wie bisher. Eine Prügelei vor einem Restaurant endete in der Ausnüchterungszelle. Verschwendungssucht und Eitelkeit kennzeichneten sein Leben. Es hatte jeden Sinn verloren.
Am 7. Dezember 1941 fand es ein jähes Ende. Es war der Tag des japanischen Angriffs auf den US-Flottenstützpunkt Pearl Harbour im Pazifik. Wie ein riesiger Schwarm Giftwespen stürzten sich japanische Kampfflieger in aller Früh auf die amerikanischen Schiffe, die ungeschützt unter ihnen lagen. Sie stachen zu, bevor sie sich wehren konnten. Offiziere und Mannschaften schliefen noch oder genossen den sonnigen Morgen am Strand und am Golfplatz. Sie kamen viel zu spät. 19 US-Schlachtschiffe wurden zerstört und versenkt. 2.400 Menschen verloren ihr Leben. Den Japanern war die totale Überraschung gelungen.
Niemand hatte damit gerechnet, dass das Kaiserreich Japan die USA angreifen würde, noch dazu auf einer ihrer größten Flottenbasen, deren Anblick allein schon Respekt zu erheischen schien. Nur wenige Stunden zuvor hatte die japanische Führung sich verhandlungsbereit gezeigt, eine Noten ans State Departement gesandt, in der sie Friedensabsichten bekundete. Es war ein Täuschungsmanöver, sollte die Amerikaner in Sicherheit zu wiegen. In Wirklichkeit war der Angriff längst beschlossene Sache.
Am nächsten Tag bezeichnete der amerikanische Präsident Theodor Roosevelt den japanischen Angriff in einer Rede vor dem Kongress, die landesweit im Radio übertragen wurde und mit 81 Prozent die höchste je in den USA registrierte Einschaltquote verzeichnete, als a date which will live in infamy - ein Datum, das in Verruchtheit fortleben wird, und erklärte Japan den Krieg. Am 11. Dezember gab er auch Kriegserklärungen an Deutschland und Italien ab. Zu lange hatten deutsche U-Boote amerikanischen Geleitzüge im Atlantik angegriffen, zu viele Schiffe hatten sie versenkt, zu viele Menschen hatten sie getötet.
Eine Welle der Euphorie überrollte die USA, dieselbe, die im ab April 1917 Europa überflutet hatte. Sie spülte auch Max-David in den Kampf. Eben erst hatte er die amerikanische Staatsbürgerschaft erhalten. Wie Hunderttausende meldete er sich freiwillig. Auch diesmal, wie schon 1914 in Wien, fanden sich an der Sammelstelle in New York überdurchschnittlich viele Juden ein. Die Befreiung ihrer Glaubensgenossen vom Nazijoch war ihnen zusätzlicher Ansporn, wenn es eines solchen überhaupt noch bedurft hätte. Amerika, das Land der Freiheit, ihr Land, war in Gefahr, wurde von Mächten dunkler Gewalt bedroht. Das war Grund genug, zu den Waffen zu greifen.
Die Ausbildung, die er vor zwölf Jahren beim Wehrdienst in Österreich genossen hatte, kam Max-David nur in geringem Maße zugute. Die Waffen und die Ausrüstung in Amerika waren 1941 andere als sie es 1929 in Österreich gewesen waren, und der Drill und die Ausbildung bei den Marines, der Marine-Infanterie der US Army, waren ganz anderer Natur als sie es in der österreichischen Heimwehr, einer kleinen Landtruppe, gewesen waren. Es ging diesmal nicht um die staatliche Selbstbehauptung gegen ein Nachbarland, das von vielen als großen Bruder betrachtete wurde, sondern um die Abwehr einer Bedrohung durch die stärksten und bestgerüsteten Armeen der Welt, diejenigen Deutschlands und Japans. In ihren vorangegangenen Eroberungsfeldzügen in Asien und Europa hatten sie ihre Macht und ihren Zerstörungswillen deutlich unter Beweis gestellt.
Europa befand sich im Würgegriff Deutschlands und seiner Verbündeten. Vom Atlantik bis zur Ostsee und von der Arktis bis Nordafrika hatten sie fast alle Länder erobert und besetzt, wüteten wie nie zuvor. Nazideutschland war zum größten Staat des Kontinents geworden. Seine Armeen stiessen immer tiefer nach Russland hinein. Sie hatten Leningrad eingekesselt, bedrohten Moskau und näherten sich Stalingrad. Nichts konnte ihren Massakern an der Zivilbevölkerung, an Juden und Kriegsgefangenen Einhalt gebieten. Die Genfer Konvention und die Menschenrechte verhöhnten sie, Humanität war ihnen abhandengekommen. Rommels Afrikakorps und der Mufti von Jerusalem Mohammed Amin al-Husseini, der eine Moslem-SS befehligte, planten, die Heilige Stadt einzunehmen und die Juden auch in ihrem Stammland zu ermorden. Italien hatte Griechenland und große Teile des Balkans besetzt. Ungarn, Rumänien und Finnland standen zu Deutschland, ebenso Spanien und Portugal, auch wenn sie sich an den Kämpfen nicht beteiligten. Die Schweiz und Schweden waren neutral, dienten den Achsenmächten jedoch als Handelsplätze für Devisen, Gold und die geraubten Vermögen und Kunstschätze. Im Westen war es allein Großbritannien, das noch Widerstand leistete und im Osten störte nur der russische Winter den deutschen Vormarsch. Die Vorsehung hatte ihn in diesem Jahr besonders hart ausfallen lassen.
Japan hatte nach dem Sieg in Pearl Harbour die Gunst der Stunde genutzt und in Abwesenheit der amerikanischen Flotte ganz Südostasien besetzt. Hongkong, die Philippinen, Burma, Thailand, Laos, Vietnam, Indonesien, Malaysia, ganz niederländisch Indien und die meisten Inselgruppen im Pazifik wurden japanisch. Weite Teile Chinas waren schon seit längerem besetzt. In der Mandschurei und in Korea war der Marionettenstaat Mandschuko errichtet worden. Nie war das Kaiserreich Japan mächtiger gewesen, nie zuvor hatte es die eroberten Länder derart grausam unterjocht. Zehntausende koreanische Frauen wurden zur Prostitution gezwungen. Zwangsarbeit und Versklavung der unterworfenen Völker waren die Regel.
Von Deutschland und Japan war nun auch die USA bedroht. Sie befanden sich mit ihnen im Krieg, den sie lange zu vermeiden gesucht hatten. Zu lange, wie viele meinten, nicht nur Juden, Briten, Slawen und die noch lebenden Insassen der Konzentrationslager.
Määäx, wie er in der Army gerufen wurde, durchlief das harte Training der Marines. Nach ersten Sprüngen mit dem Fallschirm aus großer Höhe kam die Bewährungsprobe. Es galt, in einem Hagelsturm aus nur dreihundert Metern Höhe über einem Wald abzuspringen, in dem es nur eine Lichtung gab. Die Sicht war schlecht, der Wind böig. Max-David landete in einer Baumkrone, blieb hängen. Sein rechter Arm war in einer Astgabel eingeklemmt. Die Leinen des Fallschirms wickelten sich um Hals und Brust. Er rutschte ab. Immer mehr zogen sich die Leinen zu, drohten ihn zu ersticken. Die Lage war lebensbedrohlich. Er spürte den rechten Arm nicht mehr, wäre in den nächsten Minuten von den Leinen stranguliert, wenn keine Hilfe kam. Niemand war zu sehen. Die Kameraden waren zu weit weg, hörten ihn nicht, wie er auch schrie und röchelte. Er bekam keine Luft mehr. Der rechte Arm war taub. Die Situation schien aussichtslos. Schon begann sich alles um ihn herum zu drehen. Mit allerletzter Kraftaufbäumung schaffte er es, das am Gürtel befestigte Messer mit der freien Hand aus der Scheide zu ziehen, die Leinen zu kappen, mit den Beinen einen beiden Äste wegzubrechen, zwischen denen sein rechter Arm festsaß, ihn trotz fürchterlicher Schmerzen herauszuziehen und sich fallen zu lassen. Beim Sturz durch den Baum brach sich zwei Rippen. Die Rinde, an der entlangschrammte, riss sein Gesicht und seine Hände auf. Beim Aufschlagen am Boden verstauchte er sich den Fuss. Er schwoll an. Max-David blutete überall, bekam kaum noch Luft. Jeder Körperteil schmerzte ihn. Aber er war am Leben.
Der Ausbildner, ein Sergeant mittleren Alters mit Stoppelhaaren, war erst zur Stelle, als er am sich Boden krümmte. Per Funk rief er die Sanitäter herbei. Sie kamen mit einer Bahre angerannt, legten Max-David darauf und trugen ihn aus dem Wald. Der Sergeant schritt nebenher, klopfte ihm auf die Schulter und meinte zu ihm:
«Well done, soldier.»
Nur die kamen durch die Ausbildung und durften sich Marines nennen, die die gefürchteten Übungen schafften. Eine davon galt als eine Art Reifeprüfung für den Kampfeinsatz. Mit voller Ausrüstung, über dreißig Kilo, mussten sich die Soldaten in einem nur fünfzig Zentimeter hohen, aber über dreihundert Meter langen Gittergestell durch Schlamm, Wasser und Dickicht robben, Stacheldraht durchschneiden und Minen entschärfen, wurden dabei mit roter Platzmunition beschossen. Die Minen waren Attrappen, aber sie detonierten, wenn man unvorsichtig hantierte und erzeugten beim Hochgehen ein Explosionsgeräusch. Die sie nicht richtig entschärften, wussten, dass sie im Ernstfall getötet oder schwer verwundet worden wären. Wer mit weniger als fünf Treffern aus dem Gitterkäfig kam, mindestens drei von vier Minen entschärft hatte und nach dem Hinauskriechen noch laufen konnte, wurde gleich darauf vom Ausbildner über eine nochmals dreihundert Meter lange Leidensstrecke mit bis zu vier Meter hohen Hindernissen gehetzt. Mit der Stoppuhr in der Hand und der Trillerpfeife im Mund beobachtete er jeden, der über den Parcours rannte. Nichts entging seinen Argusaugen. Bemerkte er das kleinste Anzeichen von Erschöpfung oder Müdigkeit, so trat die Pfeife in Aktion. Das ständige Trillern der Pfeife, das Knallen der Schüsse und das Detonieren der Minen erzeugten einen Höllenlärm. Er war schrill und atonal, ein Teufelskonzert. Doch der Sergeant war trotz seiner Strenge und Unnachgiebigkeit kein Teufel, sondern ein Lebensretter. Er ließ nur die den Ausbildungskurs bestehen, denen er Überlebenschancen im Gelände und im Kampf Mann gegen Mann einräumte. Die anderen wurde ausgesondert und mussten die Marines verlassen. Sie kamen zu einer Truppe, bei der sie mehr Chancen hatten, am Leben zu bleiben.
Im Januar 1942, nach erfolgreicher Beendigung der Ausbildung, wurde Max-David mit seiner Einheit nach Amerikanisch-Samoa im Pazifik verschifft. Doch zum Kampfeinsatz kam es nicht. Das Flugzeug, eine abgespeckte, zum Truppentransporter umfunktionierte DC-3 mit Wellblechverkleidung und nur den nötigsten Instrumenten an Bord, das sie nach der Ankunft im Hafen von Pago Pago zu den Marshall-Inseln fliegen und mit Fallschirmen auf einem Zerstörer absetzen sollte, erlitt kurz nach dem Start einen Totalausfall beider Propellertriebwerke und stürzte ins Meer. Von dreißig Mann, die im Wasser noch atmeten, überlebten nur zwei.
Max-David plagten Bauchschmerzen. Er ahnte nicht, dass sie von inneren Verletzungen herrührten und sein Leben an einem dünnen Faden hing, der jederzeit reissen konnte. Er klammerte sich an eine Holzplanke, die nur einem Mann Platz zum Liegen auf ihr bot. Er hatte den Platz einem Kameraden überlassen, der völlig erschöpft war und unterzugehen drohte. Es war Jonathan Ryan, ein Buchhändler aus Queens. Nicht nur die beiden schlotterten vor Angst, als sie die Haie kommen sahen. Panik brach aus. Die Männer schrien, schwammen einzeln oder in Gruppen herum, wussten nicht, was zu tun war, wie oder wohin sie sich retten konnten. Die Haie waren sich ihrer Beute sicher, wussten, dass niemand ihnen entkommen konnte. Die Rückenflosse aus dem Wasser ragend, nur wenig Gischt aufwerfend, umrundeten sie die entsetzten Marines. Dann begann das große Fressen. Jeder nahm den nächstbesten Mann zwischen die dolchartigen Zähne. Blutrot färbte sich das Meer. Es begann zu schäumen. Einer nach dem anderen wurde unter Wasser gezogen, verschwand kreischend, mit hochgereckten Armen und weit aufgerissenen Augen im Maul des Hais, das nackte Grauen im Gesicht. Je mehr einer strampelte, je mehr er aufs Wasser schlug, je lauter er schrie und je wilder er um sich schoss, desto schneller war er an der Reihe. Die Kugeln trafen die Haie nicht einmal. Das Wasser bremste sie ab, nahm ihn die Wucht und die Durchschlagskraft. Sobald sie eintauchten, verloren sie ihre Energie und sanken wie kleine Steine langsam in die Tiefe. Immer größer wurde die Blutlache auf der Wasseroberfläche. Mit der Gewalt von Betonbrechern bissen die Tiere zu, zerhackten und zerstückelten die Menschen. Sie waren im Fressrausch. Es gab keine Rettung. Die Menschen im Wasser waren wie von Sinnen, erwarteten den Biss in der nächsten Sekunde und wollten es doch nicht wahrhaben. Max-David hatte alle Kraft verloren, war von der Planke geglitten. Jeder Augenblick konnte sein letzter sein. Er schwamm in einem Meer von Blut und abgetrennten Körperteilen, war wie gelähmt vor Todesangst. Doch das verhinderte, dass er wie die anderen mit den Beinen strampelte und die Haie auf ihn aufmerksam wurden. Einer aber kam näher, ein Riese von über fünf Metern. Max-David gelang es, die Pistole zu ziehen und ihm über Wasser in die Schnauze zu schießen. Er war einer der Einzige, der wusste, dass ihm die Kugeln unter Wasser nichts anhaben konnte. Der verletzte Fisch tauchte ab, wurde sofort von den anderen angefallen und in Stücke gerissen, was Max-David Luft verschaffte. Andere machte es ihm nach, schossen den Haien über Wasser ins Maul oder in den Leib, was ihre Lebenszeit aber nur wenig verlängerte, denn immer mehr der grauen Räuber erschienen und bedienten sich am reich gedeckten Menschentisch. Max-David erschoss noch zwei weitere Haie, dann war sein Magazin leer. Wehrlos war er den Bestien ausgeliefert. Etwas abseits bemerkte er die Planke, von der er geglitten war. Jonathan Ryan lag immer noch auf ihr, bewegte sich nicht mehr. Er hatte das Bewusstsein verloren, war aber einer der Letzten, die noch lebten. Max-David drehte sich auf den Rücken, versuchte Beine und Arme stillzuhalten und nur mit Händen rudernd zur Planke zu gelangen. Sollte ihn jetzt einer der Haie anfallen, wäre sein Kopf zuerst dran, aber er musste versuchen hinzugelangen und dabei so ruhig wie möglich zu bleiben, keine Wellen zu erzeugen, um Himmels willen nicht zu strampeln. Noch bevor er die Planke erreichte, hörte er den Motor des Rettungsbootes. Es kam direkt auf ihn zu. Ryan und er wurden an Bord gezogen. Noch im Boot verlor Max-David das Bewusstsein.
Erst drei Monate später erwachte er aus dem künstlichen Koma, in das er nach mehreren komplizierten Operationen in verschiedenen Spitälern und Spezialkliniken versetzt worden war.
Er hätte zwei Mal unwahrscheinliches Glück gehabt, erklärte ihm, kurz nachdem er erwacht war, einer der Ärzte im Militärhospital der großen Navy- und Air Force-Basis am Mississippi unweit des Golfs von Mexiko. Dorthin war er aus Pago Pago zur letzten Operation gebracht worden. Sein erstes Glück wäre gewesen, führte der Arzt aus, nicht von einem Hai gefressen worden. Die Chancen dafür hätten bei höchstens eins zu hundert gelegen. Er verdanke es wahrscheinlich der Tatsache, dass er keine blutenden Wunden gehabt hätte. Haie riechen Blut im Wasser auf riesige Entfernungen und suchen sich ihre Mahlzeiten danach aus. Sie sind nicht so grausam, wie man glaubt, erklärte er Max-David, ersparen verletzten Tieren damit einen langsamen und qualvollen Tod, lassen die gesunden unbehelligt. Das zweite, noch viel größere Glück hätte das medizinische Wunder dargestellt, dass er an den inneren Blutungen im Meer nicht gestorben sei und die operativen Eingriffe im Gehirn am offenen Schädel besser verlaufen seien, als es seine Kollegen erwartet hätten. Sie hatten ihn schon aufgegeben, aber er hätte außerordentlichen Überlebenswillen gezeigt. Irgendetwas Wichtiges müsse er im Leben noch vorhaben, meinte er scherzend. Damit hatte er nicht so Unrecht, wie er annahm.
Nach seiner Entlassung aus dem Hospital wurde Max-David eine Tapferkeitsmedaille verliehen, nicht irgendeine, das Navy Cross. Er fand, dass er sie nicht verdient hatte. Ja, er hatte Joe Ryan auf die Planke geholfen, sich selbst dann nur noch an sie klammern können, hatte irgendwann den Halt verloren und war von ihr hinuntergeglitten. Mit den Beinen im Wasser bot er den Haien ein lockendes Ziel, wäre oben auf der Planke liegend sicherer vor ihnen gewesen. Aber war das etwas Besonderes? War es nicht selbstverständlich, einem erschöpften Kameraden hinaufzuhelfen, der sonst untergegangen und ertrunken wäre, während er sich noch halten konnte? Der Major, der ihm die Auszeichnung vor versammelter Mannschaft ansteckte, sprach von außergewöhnlichem Mut und von Hilfsbereitschaft ohne Rücksicht auf das eigene Leben, davon, dass er einem Kameraden in den haiverseuchten Fluten das Leben gerettet hätte, ohne an sich zu denken. Er hätte das des Kameraden über seines gestellt, erklärte er, sei ein Vorbild für alle. Erst jetzt, als er darüber nachdachte, kam Max-David zu Bewusstsein, wie riskant sein Handeln gewesen war. Gedankenversunken stand er neben dem Offizier, nahm die in Reih und Glied angetretenen Marines nur verschwommen war, versuchte darüber nachzusinnen, was er damals im Wasser getan hatte und was ihn dazu getrieben hatte. Plötzlich erschien ihm die Sache nicht mehr so selbstverständlich. Warum war er nicht selbst auf das rettende Holzstück geklettert, das nur einem Menschen Platz bot? Warum hatte er einem anderen hinaufgeholfen? Er wusste es nicht. Es hatte für ihn in diesem Moment einfach keine andere Möglichkeit gegeben. Joe hatte seine Hilfe benötigt und er hatte sie ihm gegeben, ohne darüber nachzudenken, auch nur eine Sekunde zu zögern. Das war alles. Im Nachhinein kam es ihm total verrückt vor. Damals aber, im blutdurchtränkten Meer, in dem die Haie seine Kameraden wie ihnen vor die Mäuler gestreutes Fischfutter frassen, ging ihm nichts anderes durch den Kopf, als einem Kameraden zu helfen. Der Gedanke an sein eigenes Leben war ihm überhaupt nicht gekommen. Wahrer Mut zeigt sich in der Not, sagte der Offizier am Schluss der Zeremonie. Die Kapelle fiel zu spielen an, die Marines scharten sich um ihn, klopften ihm auf die Schultern. Keiner von ihnen ahnte, dass Max-David nicht anders gehandelt hatte als sein Vater vor achtundzwanzig Jahren an der österreichisch-russischen Front, bevor ihm beide Beine abgerissen wurden. Auch Max-David wusste es nicht.
Zum First Lieutenant avanciert, zierte die Medaille seine Parade-Uniform. Stolz trug er sie, die dunkelblaue Jacke mit den weißen Epauletten, den goldenen Knöpfen und dem breiten weißen Ledergürtel und die hellblaue Hose mit den roten Streifen, die Längsfalte messerscharf gebügelt. Wie ein Magnet zog sie das weibliche Geschlecht an, wenn es Gelegenheit zum abendlichen Ausgang gab.
Im Lauf des Krieges gesellten sich noch weitere vier Auszeichnungen zur ersten auf die Uniform. Einer wurde ihm nach der Eroberung der Insel Guam im Sommer 1944 verliehen, die Tausenden das Leben kostete. Drei behielten es dank ihrem Zugführer Max-David Friedländer. Der Amtrac, der kettenbetriebene Schwimmpanzer, der ihn und seine Leute über das Riff, zwischen die Felsen hindurch und über die Brandung zum Strand bringen sollte, hatte Maschinenschaden. Antriebslos trieb er vor der Küste im Meer, bot den Japanern ein leichtes Ziel. Die Männer sprangen heraus, wurden jedoch vom Sog in tiefe Gewässer hinausgezogen. Die guten Schwimmer unter ihnen konnten sich auf andere Landungsboote retten oder schwammen durch Gischt und Maschinengewehrfeuer zum bereits eroberten Strandabschnitt. Aber auch dort, im Geschoss- und Granathagel und auf der Erde, die unter ihren Stiefeln explodierte, verloren viele noch ihr Leben.
Drei Männer trieben hilflos auf dem Meer, schluckten große Mengen Salzwasser, wurden immer weiter hinausgezogen und drohten unterzugehen, wenn sie nicht vorher eine feindliche Kugel traf. Als Max-David es realisierte, sprang er vom Strand, den er schon erreicht hatte, wieder in die Fluten zurück, zerteilte die Wellen mit kräftigen Schlägen, kümmerte sich nicht um die Einschläge, die das Wasser um ihn herum aufpeitschten und zog alle drei im Schlepptau durch das tobende Meer an Land, eine fast unvorstellbare Leistung. Seine Rettungsaktion machte Furore. Die Kriegsberichterstatter und Wochenschaureporter stellten die Szene im seichten Wasser. In allen Kinos Amerikas wurde die Heldentat bejubelt. Nach dem Krieg versuchte die Navy, sie unter den Bedingungen, die an jenem Tag geherrscht hatten, an derselben Stelle von dreissig der besten Kampfschwimmer wiederholen zu lassen. Sie verletzten sich an den Felsen, wurden von der Platzmunition außer Gefecht gesetzt, schafften es nicht über das Riff oder kamen gegen die Strömung nicht an. Keinem gelang es, auch nur eine der auf den Wellen treibenden Dummys zu retten.
Nach dem Dienst im Pazifik, bei dem er noch drei Mal verwundet wurde und zwei Finger einer Hand verlor, wurde Max-David im Frühjahr 1945 nach Europa versetzt. Er war fünfunddreißig, zum Captain aufgestiegen und fungierte als Adjutant eines Brigadegenerals in der amerikanischen Besatzungszone Deutschland. Der General hatte Max-David ausgesucht, weil er perfekt Deutsch sprach - den wienerischen Akzent hörten nur wenige Amerikaner heraus – und genügend Intelligenz besass, um sich von den gefangengenommenen Deutschen nicht täuschen zu lassen. Bei den Verhören behaupteten alle, keine Nazis gewesen zu, keine Verbrechen begangen und keine Juden behelligt zu haben. Jeder wollte Juden geholfen haben und von Anfang an gegen die Nazis gewesen sein. Sie hätten aber die Gesetze beachten und den Befehlen gehorchen müssen, sonst wären sie selbst des Todes gewesen. Wenn man ihnen Glauben schenkte, so hatte es in Deutschland außer Hitler und seinen engsten Gefolgsleuten keine Nazis gegeben.
Einer der Inhaftierten, der beim Vergraben seiner SS-Gruppenführer-Uniform sowie Kistenvoller Goldbarren, Diamanten und Schmuck im Garten seiner Villa erwischt worden war und bei dem Unmengen falscher Dollarnoten gefunden wurden, verstieg sich zur Behauptung, Juden hätten ihm vor ihrer Abreise nach Palästina das Gold und die Wertsachen zur Aufbewahrung übergeben, da sie ihn als vertrauenswürdigen Mann gekannt hätten. Die Villa würde er für die ins Ausland gegangenen jüdischen Besitzer treuhänderisch verwalten, die gefälschten Dollarnoten würden von einem jüdischen Wucherer stammen und die Uniform und Dokumente wären ihm von Nazis untergeschoben worden, um ihn zu diskreditieren.
Angewidert von den Lügen, die der Mann unbefangen und in freundlichem Ton von sich gab, so als sässe er nicht vor amerikanischen Offizieren, sondern erzähle am Stammtisch Münchhausiaden, fragte ihn Max-David, der die Befragung leitete, was er eigentlich von den Juden halten, denen er geholfen haben wollte.
«Nun ja», antwortete der SS-General, der er in Wirklichkeit war, leise, beugte sich dabei zu Max-David hin, als wolle er ihn als Arier, für den er ihn hielt, ins Vertrauen ziehen, «wissen Sie, natürlich waren das alles Halunken, keine richtigen Deutschen, eigentlich gar keine richtigen Menschen. Der Führer hatte schon recht, sie in den Osten zu schicken, damit sie endlich lernten, was ehrliche Arbeit ist. Passt in Amerika nur auf, dass sie euch nicht auch so bestehlen und betrügen, wie sie es mit uns Deutschen gemacht haben. Am besten schließen wir uns zusammen, um den Juden und den Bolschwiken endgültig den Garaus zu machen.»
Er lächelte, war sich nicht bewusst, dass er der große Mann mit den blauen Augen, dem er gegenübersaß, Jude war, und welche Ungeheuerlichkeiten er ihm an den Kopf geworfen hatte. Max-David konnte nicht anders, als ihm mit voller Wucht ins Gesicht zu schlagen.
Der Krieg gegen Nazideutschland befand sich in der Endphase. Obwohl Amerikaner, Briten und Franzosen von Westen und die Russen von Ostern her unaufhaltsam vorrückten, das längst geschlagene 3. Reich in die Zange nahmen, gab Hitler nicht auf. Aus seinem unterirdischen Bunker in Berlin, in dem er sich mit seinem Propagandaminister Josef Goebbels und dessen Familie versteckte, gab er Befehle, die noch Tausenden Deutschen das Leben kosteten, nur um sein eigenes um ein paar Tage zu verlängern. Er schickte Kinder und alte Männer in den sinnlosen Kampf, liess die, die die Waffen niederlegten oder die Weiterführung des Krieges beklagten, aufhängen, ihre Leichen an den Bäumen baumeln und öffentlich zur Schau stellen. Er, der die Welt in den schrecklichsten aller Kriege gestürzt hatte, der 60 Millionen Menschen auf dem Gewissen hatte, der Europa 12 Jahre nackten Grauens aufgezwungen und 6 Millionen Juden ermordet hatte, kostete am Ende dem eigenen Land das halbe Staatsgebiet und verursachte ihm nie dagewesenes Leid. Doch statt zuzugeben, dass seine militärischen Fehlentscheidungen zur Niederlage im Krieg geführt hatten, beschuldigte er jetzt das eigene Volk, nicht genug gekämpft zu haben und seiner nicht würdig zu sein, liess die deutsche Hauptstadt Berlin durch die vorrückenden Russen vollständig zerstören. Der Verantwortung für seine Verbrechen entzog er sich durch Selbstmord. Auch das Ehepaar Goebbels brachte sich um. Martha Goebbels hatte zuvor sechs ihrer sieben Kinder vergiftet.
Bei der Befreiung der Konzentrationslager boten sich den Soldaten Bilder, die an Grauenhaftem nicht zu überbieten und bis dahin für unvorstellbar gehalten worden waren. Bergen-Belsen, Mittelbau, Neuengamme, Nordhausen, Buchenwald, Flossenbürg, Dachau, Ravensbrück, Sachsenhausen und Mauthausen waren Orte, die die Vorstellung der Hölle bei weitem übertrafen. Menschen in viel zu großen Pyjamas, nicht mehr als Mann oder Frau erkennbar, zu Skeletten abgemagert, die Köpfe kahlgeschoren, dem Hungertod und dem Wahnsinn nahe, irrten ziellos zwischen Leichenbergen und den Körpern der noch in letzter Sekunde Erschossenen umher. Wahllos waren sie über den Boden verstreut. Ausgemergelte Kinderleichen und tote Frauenkörper lagen nackt herum als wären sie weggeworfene Haut- und Knochenreste von Tieren. Jede Menschlichkeit war den SS-Schergen, viele von ihnen weiblich, abhandengekommen. Dünner Rauch und der süßliche Geruch verbrannten Menschenfleisches entstieg den Kaminen der Verbrennungsöfen. Bis zuletzt hatten sie auf Hochbetrieb gearbeitet. Wachttürme und Hochspannungszäune umgaben die Lager. An vielen Stellen hingen geschwärzte Kadaver von Lagerinsassen, die sich in sie gestürzt hatten, um ihrem Dasein ein Ende zu bereiten.
Die Befreier machten sich unverzüglich daran, die noch Lebenden mit Decken, Kleidern, Essen und Medikamenten zu versorgen und sie von Sanitätern und Militärärzten behandeln zu lassen. Viele von ihnen starben in ihren Armen oder auf den notdürftig errichteten Operationstischen. Beim Eintritt ins Lager betrachteten manche sie als von Gott gesandt, andere starrten sie nur ungläubig an, verweigerten jede Hilfe, hielten sie für verkleidete Nazis, die sich neue Teufelswerke für sie ausgedacht hatten. Nicht wenigen der Retter wurde beim Anblick des Unfassbaren, dessen, was an diesen Orten geschehen war, schwarz vor Augen. Sie mussten sich übergeben, wähnten sich in einem Menschenschlachthof. Die wenigen SS-Leute, derer sie habhaft werden konnten, mussten bei den Rettungsarbeiten mitmachen, waren sich aber keiner Schuld bewusst. Ihr Gewissen war derart abgestumpft, dass sie das Leben ihrer Hunde für wichtiger hielt als das der Menschen. Die meisten jedoch waren geflohen, hatten sich in Zivilkleidern davongemacht. Wer gefunden wurde, wurde an den Ort seiner Schande zurückgebracht, um die Zeugnisse seiner Scheußlichkeiten nochmals vorgeführt zu bekommen, diesmal im Licht der Wahrheit und nicht der Nazi-Ideologie. Ihre noch lebenden Opfer waren zu schwach, ihnen etwas anzutun, teilten nur hin und wieder Schläge oder Fußtritte aus, hatten kaum noch die Kraft, sie zu bespucken.
Max-David - Cpt. M.D. Friedländer - wurde sich bewusst, welches Glück er als Jude gehabt und wie klug und vorausschauend seine Mutter gehandelt hatte, als sie mit ihm zu Zeiten aus Österreich weggegangen war. Er wollte nach Wien zurück, nach denen suchen, die er 1937 zurückgelassen hatte. Der Gedanke, was aus ihnen geworden war, den nichtjüdischen, besonders aber den jüdischen, raubte ihm den Schlaf, ließ ihn in Spekulationen und Albträume fallen.
Am 7. Mai unterzeichnete Alfred Jodl, ein Mann, der das Abitur nur mit Mühe geschafft, es unter den Nazis aber zum Generaloberst gebracht hatte, vor den kommandierenden Generälen der West-Alliierten im französischen Reims die bedingungslose Kapitulation Deutschlands. Viele Naziverbrecher, Aufraggeber und Ausführer der Massenmorde, tauchten unter oder flohen unter Mitnahme geraubter Millionen und Kunstschätze ins Ausland. Man munkelte von einer weitverzweigten Organisation mit der Abkürzung Odessa, die ihre Flucht organisierte, hauptsächlich nach Argentinien und Ägypten. Sogar der Vatikan sollte involviert sein, doch Genaueres wurde nicht bekannt. Das Mafia-Gesetz der Omerta, des Schweigens, galt auch für die Nazis und ihre Helfer und Helfershelfer. Es gab sie überall, in Deutschland und in den Ländern, in denen sie Gleichgesinnte gefunden hatten.
Am 8. Mai um 23.01 Uhr mitteleuropäischer Zeit war der Zweite Weltkrieg der Kapitulationsurkunde gemäß offiziell beendet. Niemand schenkte der noch zwei Wochen bestehenden deutschen Reichsregierung in Flensburg-Mürwik unter Hitlers Nachfolger, Admiral Karl Dönitz, Beachtung. In London, Paris, New York und anderen Städten fanden überschäumende Siegesfeiern statt. Die sechs Jahre des schlimmsten Kriegs der Geschichte und die zwölf Jahre der Naziherrschaft waren vorbei. Das Tausendjährige Reich, das Hitler den Deutschen versprochen hatte, hatte weniger lange gedauert als jedes andere in Deutschland zuvor, jedoch mehr Schaden und Verwüstung angerichtet als alle zusammen.
Wien war nach heftigen Kämpfen und sinnloser Gegenwehr von Nazifanatikern, die die Stadt zu über siebzig Prozent zerstört hatten, schon am 13. April von General Alexej Blagodatows Verbänden unter die Kontrolle der Roten Armee gebracht worden. Hitler hatte die vollständige Vernichtung der Stadt und die Tötung seiner Bewohner durch Flutung der Stadtbahntunnels, in die sich die Menschen geflüchtet hatten, befohlen, ebenso wie er Paris beim Abzug seiner Truppen dem Erdboden hatte gleichmachen wollen. Beiden Befehlen wurde keine Folge geleistet. Es waren ja keine Juden, die sterben sollten.
Wie von den Siegermächten während des Kriegs vereinbart, wurde der von Hitler am 15. März 1938 am Ballhausplatz verkündete Anschluss Österreichs an Deutschland, der von 250.000 Wienern frenetisch bejubelt worden war, rückgängig gemacht und der Staat Österreich in den Grenzen vom 14. März 1938 wiederhergestellt.
Am 27. April konstituierte sich unter sowjetischen Auguren eine provisorische Staatsregierung unter Dr. Karl Renner, einem Sozialdemokraten, der seit seinem Studientagen den Ideen von Karl Marx anhing. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie hatte er als Staatskanzler und Leiter der österreichischen Delegation bei der Konferenz von St. Germain-en-Laye 1918 die österreichischen Interessen derart schlecht vertreten, dass die Delegation nicht zu den Verhandlungen zugelassen wurde und Österreich nicht nur seiner nicht deutschsprachigen Gebiete im Osten und Süden Europas verlustig ging, sondern sogar die deutschsprachigen in Südtirol, Böhmen, Mähren, Schlesien und Westungarn verlor. 1933 hatte er als Präsident des Nationalrats dessen Selbstauflösung erklärt und damit Engelbert Dollfuß die Errichtung des Austrofaschismus ermöglicht und 1938 auch noch den von Hitler proklamierten Anschluss Österreichs an Deutschland begrüßt. Max-David, dem all das bekannt war, wurde schlecht, als er erfuhr, dass sich nun ausgerechnet dieser Mann an die Spitze der neuen Republik Österreich stellte. Metternich hätte sich im Grab umgedreht, wenn er es gewusst hätte, davon war er überzeugt. Doch ein Gutteil der Österreicher, hin und hergerissen zwischen romantisch-nostalgischer Deutschlandliebe und langsam wieder aufkeimendem österreichischen Nationalbewusstsein, betrachteten Renner als großen Staatsmann, der sie aus diesem Dilemma zu befreien versuchte. Mit bescheidenem Erfolg, wie sich zeigen sollte.
In Wien öffnete im April 1945 das Simpl wieder seine Tore, der Tempel des jüdisch-österreichischen Kabaretts, in dem vor dem Krieg der unvergessene Fritz Grünbaum die Menschen zum Lachen über sich selbst und die Herren in der Regierung gebracht hatte. In Berlin, wo er 1907 im Chat Noir aufgetreten war, schilderte ihn der Besitzer Rudolf Nelson so:
«Wenn er den Mund auftut – ein Feuerwerk des Gehirns. Schiesst pausenlos seine Witzraketen und Bonmots mit überdrehter Logik ins überraschte Parkett.»
1910 ohrfeigte er einen Offizier im Wiener Cabaret Hölle, als dieser antisemitische Sprüche ins Publikum rief und setzte anschließend sein Programm fort als wäre nichts gewesen. Aus dem ersten Weltkrieg kehrte der bezaubernde Jude, wie er genannt wurde, als Oberleutnant zurück, wurde Pazifist und gab im Simpl mit Karl Farkas, der sein Nachfolger werden sollte, die legendären Doppelconferencen zum Besten. Farkas erklärte sie ihm folgendermaßen:
«Das Wesen der Doppelconference besteht darin, dass man einen äußerst intelligenten, gutaussehenden Mann nehme – das bin ich – und einen zweiten, also den Blöden, dazustellt. Das bist, nach allen Regeln der menschlichen Physiognomie, natürlich du!»
Grünbaums Schlagfertigkeit war ebenso sprichwörtlich. 1933, als bei einem Stromausfall während Grünbaums und Farkas’ höhnender Wochenschau im Simpl die Lichter ausgingen, meinte er:
«Ich sehe nichts, absolut gar nichts, da muss ich mich in die nationalsozialistische Kultur verirrt haben.»
1919 heiratete der kleine, mit keinen körperlichen Vorzügen gesegnete Mann, der die Frauen anzog wie kaum ein anderer, in dritter Ehe Lilly Herzl, die Nichte von Theodor Herzl, des geistigen Vaters des Staates Israel. Auch sie sollte 1942 von den Nazis mit den noch in Wien verbliebenen Juden in den Wald von Maly Trostinec gebracht und dort auf schrecklichste Art ermordet werden. Im März 1938, nach dem Einmarsch der Nazis wurde er ins KZ Buchenwald und von dort ins KZ Dachau gebracht, wo er am 14. Januar 1941 an Entkräftung starb. Noch in der Nacht vor seinem Tod gab er eine Vorstellung vor den Häftlingen, bei der er scherzte:
«Der völlige Mangel und systematisches Hungern sind das beste Mittel gegen die Zuckerkrankheit.»
Zu einem Aufseher, der ihm ein Stück Seife verweigerte, meinte er:
«Wer für Seife kein Geld hat, soll sich kein KZ halten.»
Nach dem Krieg zog das wiedereröffnete Simpl die Wiener jedoch erst in Scharen an, als der aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrte Karl Farkas es 1950 übernahm. Die Zuschauer lagen unterm Tisch, wenn er sich über Renner und seine Minister lustig machte, immer jedoch so, dass die Betroffenen mitlachen konnten. Ernst Waldbrunn, Fritz Muliar, Elfriede Ott, Maxi Böhm, Gerhard Bronner, Hugo Wiener, Cissy Craner, Heinz Conrads, Otto Schenk, Hans Moser, Ernst Stankowski, Kurt Sobotka, Ossy Kolmann, Elly Naschold, Helmut Qualtinger, alle kamen sie auf die Bühne von Karl Farkas. Kaum einer im Publikum machte sich bewusst, dass viele von ihnen noch vor kurzem als jüdische oder halbjüdische Untermenschen gegolten hatten.
Es waren die wenigen Monate nach Kriegsende, in denen Russen und Amerikaner im besetzten Deutschland zusammenarbeiteten, wenn sie sich auch schon gegenseitig zu misstrauen und zu bespitzeln begannen. Doch noch hielten die Russen sich an die Abmachung, Österreich und die Stadt Wien in Besatzungszonen der vier Hauptsiegermächte USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich aufzuteilen. Sie zogen sich aus den Regionen und Stadtteilen zurück, die den Westalliierten zugedacht waren und übergaben sie ihnen am 1. September 1945.
Max-David arbeitete als US-Verbindungsoffizier zu den Sowjets im amerikanischen Hauptquartier in Berlin. Gemeinsam mit anderen deutschsprachigen Offizieren, die meisten aus Deutschland und Österreich geflohene Juden, leitete er die Verhöre mit Deutschen, die Naziverbrechen verdächtigt wurden. Im September, nachdem die Amerikaner ihr österreichisches Hauptquartier in Wien bezogen hatten, ließ er sich mit Zustimmung seines Vorgesetzten, des schon erwähnten Brigadegenerals, für einen Monat nach Wien versetzen.
Sein erster Weg führte ihn durch die Ruinen des achten und neunten Bezirks, die im amerikanischen Sektor lagen, zur Alserstrasse. Er suchte die Spuren seiner jungen Jahre. Fast alle Gebäude, die Strassen und Plätze, die er gekannt hatte, die Volksschule, in die gegangen war, das jüdische Gemeindezentrum mit den Jugendclubs, dem jiddischen Theater, dem Konzertsaal und den Sportanlagen, alles war zerstört, existierte nicht mehr.
Die Leute schienen ihm ziellos zwischen den Resten ihrer Vergangenheit umherzuirren. Irgendwie erinnerten sie ihn an die lebenden Leichen, die er in den deutschen Konzentrationslagern gesehen hatte, nur dass sie keine Skelette waren, keine viel zu großen, blauweiß gestreiften Pyjamas trugen und nicht dem Wahnsinn nahe waren. Auch ihnen hatte der Krieg fast alles genommen, ihnen aber die meisten ihrer Lieben und die Menschenwürde gelassen. Wenn sie an ihm vorübergingen, Frauen, Männer und Kinder, sahen sie ihn aus bewundernden, aber auch neidvollen Augen an. Ihn, den stolzen amerikanischen Offizier, den Sieger, den Reichen, der alles hatte, was sie nicht mehr besaßen, der eine Zigarette achtlos wegwarf, für die sie das Hemd gegeben hätten, das sie am Leibe trugen.
Er entdeckte das grüne Schild eines Wirtshauses. Es hatte geöffnet. Ein Mann kam heraus, die Bierflasche in der Hand, stolperte über einen Pflasterstein, der aus dem Teil der Strasse ragte, der einmal das Trottoir gewesen war, der Gehsteig, wie man es in Wien nannte. Er fing ihn auf, bewahrte ihn vor dem Hinfallen.
«Danke, der Herr», sagte der Mann, ohne aufzuschauen. Dann tat er es doch, erkannte den amerikanischen Besatzungsoffizier an der Uniform und den darauf befindlichen Streifen.
«Oh, entschuldigen Sie bitte, ich wollte Ihnen keine Umstände machen, Herr Offizier», beeilte er sich anzufügen.
«Scho in Ordnung, Sie brauchen Erna net zu entschuldigen», erwiderte Max-David extra in breitestem Wienerisch.
Der Mann sah ihn erstaunt an.
«San Sie am End gor a Wearna?», fragte er ihn.
«A holber», erwiderte Max-David immer im selben Jargon.
«Na sowas, wie kommen’s dann in die Uniform?», wollte der Mann wissen.
«Des is a lange G’schicht», gab Max-David zurück.
«De interessiert mi», meinte der Mann. «Kommen’s, i lad Sie auf a Bier ein. So a G’schicht hert ma ja net jeden Tog!»
«Warum eigentlich net, einverstanden», ließ sich Max-David auf die Sache ein, «aber zahlen tu I», ergänzte er, immer noch das Proletendeutsch verwendend, an das er sich mit Freuden erinnerte. «Sie schau’n ma net aus, als wann’s viel Göld hätt’n».
Gemeinsam betraten sie das Lokal. Zwei Männer um die Fünfzig und eine etwas ältere Frau saßen an einem einfachen Holztisch, halbgeleerte Bierkrügel vor sich. Der Wirt stand hinter der Theke, spülte Teller.
«Schaut’s her», sagte der Mann zu ihnen, «a Wearna in aner Ami-Uniform, was sagt’s dazu?»
«Des gibt’s ja net, stimmt des?», wollte die ältere Frau wissen.
«Klar stimmt des», antworte er, «glaubt’s, i erzähl Eich an Schmonzes oder an Tinef?»
Es gab sie also immer noch, die jiddischen Ausdrücke im Wienerischen, bemerkte Max-David mit sichtlichem Vergnügen.
«Setzst Eich zu uns, darauf trink ma wos», forderte sie die Frau auf.
Sie setzten sich zu den dreien. Ohne zu fragen, stellte der Wirt ein großes Krügel frisch gezapftes Bier vor Max-David auf den Tisch. Sie stießen an, tranken und der Ankömmling wurde sofort mit Fragen überhäuft. Max-David zögerte, zu viel von seiner Vergangenheit preiszugeben, sagte nur, dass er vor dem Krieg als junger Mann mit seiner Mutter nach Amerika ausgewandert wäre und in der US Army gedient hätte, was sie ohnehin an seiner Aufmachung sahen. Sie ließen aber nicht locker, wollten unbedingt wissen, wie er hieß, wo er in Wien gewohnt hätte, wer seine Mutter gewesen wäre und warum sie aus Wien weggezogen wären. Er konnte nicht mehr anders, als es ihnen mitzuteilen. Irgendwie waren ihm die Leute sympathisch, wenn er auch vorsichtig blieb. Er wusste ja nicht, ob sie sich im Krieg etwas zuschulden hatten kommen lassen und wenn, was es gewesen war.
«Mein Name ist Max-David Friedländer, meine Mutter war Schneiderin. Sie hatte eine kleine Näherei ein paar Häuser weiter», rückte er mit der Sprache heraus, verfiel dabei in ein etwas weniger breites Wienerisch.
«Na sowas, I werd’ verrückt», rief die Frau ungläubig, «der Maxi Friedländer, der gescheite Judenbub, den ma allerweil so gern g’habt ham, der Sohn von der Elsi, die was die beste Frau im ganz’n Bezirk g’wes’n is! I schuld’ ihr no zwanzig Schilling, die hot’s nie hab’n woll’n, die Elsi. Kommen’s, lassen’s Erna umarmen. Dos i des no erleb’, nach alldem, wos passiert is, i glaub’s net.»
Sie drückte Max-David so fest an sich, dass ihm fast die Luft wegblieb. Der Wirt setzte sich zu ihnen, andere Leute kamen dazu. Alle wollten die unglaubliche Geschichte hören, die der Sohn von Else Friedländer zu erzählen hatte, der Frau, die alle gemocht hatten, der besten im ganzen Bezirk, wie die Alte gemeint hatte.
Schnell machte die Sache die Runde. Immer weiter füllte sich das Lokal. Die Leute waren nicht nur froh, einen der ihren wiederzusehen, sie waren stolz darauf, ihn in der Uniform eines amerikanischen Offiziers vor sich zu haben, mit ihm an einem Tisch zu sitzen. Egal, wie sie noch vor kurzem über die Juden gedacht hatten, wie indoktriniert sie von den nationalsozialistischen Wahnideen gewesen waren, heute war er als US-Captain mitten unter ihnen, stand in ihrer Achtung höher noch als es ein österreichischer Hauptmann in den Zeiten der Monarchie gewesen war, die in ihnen fortlebte. Er erschien ihnen wie Moses, der sie aus der ägyptischen Versklavung führte, in der sie sieben Jahre lang, seit 1938, gewesen waren, und sie mit seinem Bericht, dem sie ehrfurchtsvoll lauschten, ins Gelobte Land Amerika brachte. Dass er Jude war, einer von denen, die vor kurzer Zeit noch Untermenschen genannt hatten, änderte daran nichts, ja es machte sie sogar glücklich, nach Jahren wieder einen unter sich zu haben und schließlich und endlich war Moses ja auch Jude gewesen. Einer meinte sogar, «unser Heiland ist ja auch a Jud g’wesen, des ham de Deppen vergessen!“
Ein Reporter der erst vor wenigen Wochen von den Amerikanern gegründeten Tageszeitung Wiener Kurier, dem ab dem ersten Tag meistverkauften Boulevardblatt, erschien im Lokal. Wie er so schnell von der Sache Wind bekommen hatte, blieb sein Geheimnis. Er brachte einen Fotographen mit, der Aufnahmen des jüdischen US-Captains inmitten der ihm fasziniert zuhörenden Wiener schoss. Eines davon erschien am nächsten Tag auf Seite 3 der Zeitung, direkt neben dem einer leichtbekleideten Blondine. Der Titel des Artikels lautete Die Heimkehr des verlorenen Sohnes.
Als Max-David mit seinem Bericht innehielt, selbst Fragen nach dem stellte, was in Wien in den Jahren seiner Abwesenheit geschehen sei, fragte ihn einer der Anwesenden, ob er nicht der sei, der vor dem Krieg mit einer gewissen Hertha Kollek befreundet gewesen sei. Max-David war wie vom Blitz getroffen. Es war das erste, was er über eine Person in Wien hörte, die er persönlich gekannt hatte, nicht über irgendeine, sondern über die, mit der er die erste intime Beziehung seines Lebens geführt, mit der er zum ersten Mal die Wonnen der Liebe erlebt hatte.
«Ja, der bin ich», gab er zur Antwort. «Was ist mit ihr? Kennen Sie sie? Wissen Sie, wo sie ist? Ist sie in Wien?»
Jetzt war es, dessen Neugier geweckt war.
«Das ist eine schlimme Geschichte», antworte der Mann. Er räusperte sich, bevor er fortfuhr. Man sah ihm an, dass es ihm nicht leichtfiel, mit der Sprache herauszurücken.
«Sie hat ihre ganze Familie verloren. Alle wurden 1942 von der Gestapo abgeholt, obwohl ihr Vater einen Sonderstatus als letzter jüdischer Rechtsanwalt in Wien hatte. Angeblich wurden sie alle in den Osten zum Arbeitseinsatz geschickt. Genaueres weiß niemand, aber zurückgekommen ist niemand von ihnen.»
«Und Hertha?» fragte Max-David ungeduldig. «Wurde sie auch deportiert?»
«Nein», erwiderte der Mann, «als die Gestapo kam, um die Familie abzuholen, war sie auf dem Heimweg, sah von der gegenüberliegenden Strassenseite aus, was passierte. Sie konnte sich in einen Hauseingang drücken und unerkannt verschwinden, floh zu einer christlichen Freundin der Familie, Sonja Brandstetter, der Burgschauspielerin. Sie hat sie aufgenommen und in ihrer Wohnung versteckt, was unter Todesstrafe stand. Doch das kümmerte sie nicht. Ihr waren die Judengesetze von Anfang an ein Unding gewesen. Fast drei Jahre lang ging die Sache gut. Niemand bemerkte etwas. Niemand verdächtigte sie, eine Jüdin zu verstecken, sie dem Zugriff der Gestapo zu entziehen. Doch ganz am Schluss der Naziherrschaft in Wien, nur zwei Tage, bevor sie die Waffen streckten, am 11. April, vor nicht einmal fünf Monaten, als die Russen schon den Großteil Wiens eingenommen hatten, der Geschützdonner überall zu hören war, die Häuser reihenweise einstürzten, wurde sie von einem Nachbarn, einem Parteimitglied und eingefleischten Judenhasser, den niemand im Haus leiden konnte, verraten. Die Gestapo hat sie noch am selben Tag am Kastanienbaum vor dem Haus aufgehängt, mit dem Kopf nach unten, ihr ein Schild mit der Aufschrift ‘Judenfreundin’ umgehängt. Sie starb eines elendiglichen Todes. Zwei Gestapomänner standen neben ihr, passten auf, dass niemand ihr zu Hilfe kam, bevor sie starb oder sie danach zu rasch abhängte.»
«Ja und Hertha, konnte sie der Gestapo entkommen? Hat sie überlebt?»
Max-David zappelte vor Ungeduld und Nervosität auf dem Stuhl herum.
«Das weiß niemand», fuhr der Mann mit seinem Bericht fort. Sie war verschwunden. Niemand hat sie mehr gesehen. Die Wohnung der Brandstetter befand sich in der Wiedner Hauptstrasse, im 4. Bezirk, im russischen Sektor. Dort kommt keiner ohne Spezialbewilligung hin. Vielleicht können Sie ja als amerikanischer Offizier zu einer Bewilligung kommen. Aber wer weiß, ob Hertha Kollek überhaupt noch dort ist. Wenn Sie sie finden sollten, geben Sie uns bitte Bescheid.»
«Das mache ich, darauf können Sie sich verlassen, und vielen Dank für die Information», sagte Max-David, erhob sich und verließ so schnell es ging das Lokal, um sie suchen zu gehen, jedoch nicht ohne sich vorher von den Menschen herzlich zu verabschieden, die ihm die Rückkehr nach Wien zu einem unerwarteten Fest gemacht hatten.
Er fuhr mit dem Taxi ins US-Hauptquartier, kam in wenigen Minuten zur erforderlichen Bewilligung und stand kurz darauf am sowjetischen Check-Point. Die russischen Wachtposten ließen den amerikanischen Offizier nach kurzer Kontrolle der Papiere passieren. Die Adresse in der Wiedner Hauptstrasse, die er bekommen hatte, war nur wenige Gehminuten entfernt. Er raste förmlich hin. Die Leute drehten sich nach ihm um, vermuteten, er sei auf der Flucht vor den Sowjets, doch, doch kein russischer Soldat folgte ihm. Drei Treppenstufen mit seinen langen Beinen auf einmal nehmend, hechtete er in den dritten Stock hinauf. Tatsächlich, an der Klingel neben der Wohnungstür stand noch der Name S. Brandstetter. Mit zittrigen Fingern läutete er. Nichts tat sich. Kein Geräusch war aus der Wohnung zu hören. Er läutete nochmals, diesmal länger. Wieder tat sich nichts. Er läutete zum dritten Mal. Endlich hörte er leise Schritte näherkommen, so als wolle jemand vermeiden, gehört zu werden.
«Keine Angst, ich bin es, Max-David Friedländer, Maxi», sagte er, den Mund fest an die Tür gepresst.
Er sah, wie der in die Tür eingelassen Spion von innen geöffnet wurde. Ein helles Licht blitzte kurz auf, dann wurde die Tür langsam geöffnet.
Sie stand vor ihm, Hertha, seine erste Liebe, die er so schändlich verlassen hatte. Aber das zählte in diesem Moment nicht, weder für sie noch für ihn. Sie sahen sich an, als wären sie nie voneinander getrennt gewesen. Er erschrak, wie abgemagert sie war, wie bleich und eingefallen ihr Gesicht war, wie tief die Augen in den Höhlen lagen, wie viele Falten ihre Haut durchzogen. Ihre Haare waren total zerzaust, sie war ungeschminkt, hatte weder die Lippen noch die Nägel gefärbt und doch fand er, dass sie wie eine Prinzessin aussah. Nie zuvor hatte er eine schönere Frau gesehen, obwohl sie nichts als ein Häuflein Elend war. Er verstand nicht, wie er sie je hatte verlassen können, obwohl sie ihm damals nichts bedeutet hatte. Die Jahre, die sie getrennt waren, führten sie nun zusammen, auf gänzlich unerklärbare Weise.
Sie begann zu keuchen, hatte offenbar seit Tagen nichts in den Magen bekommen, schwankte, verdrehte die Augen, verlor das Bewusstsein und fiel um. Im letzten Moment konnte er sie auffangen. Auf den Armen trug er sie in die Wohnung, zog die Tür hinter sich mit dem Fuß zu. Sie war leicht wie eine Feder, wog kaum mehr als ein Kind. Er legte sie aufs Sofa, holte ein Glas Wasser aus der Küche, richtete ihren Oberkörper auf und flößte es ihr vorsichtig ein. Das Wasser ließ sie zu sich kommen. Sie öffnete die Augen, trank in kleinen Schlucken. Immer noch hatten sie kein Wort miteinander gewechselt. Wieder sah sie ihn an, blickte ihm ins Gesicht, als wolle sie in ein paar Sekunden alles begreifen, was sie in acht Jahren nicht begriffen hatte. Keine Frage stand in ihren Augen, kein Vorwurf kam über ihre Lippen, kein Wort über all das Schreckliche, was sie in diesen Jahren erlebt hatte. Sie schlang nur die Arme um ihn und küsste ihn, obwohl sie vor Hunger fast starb. Er erwiderte ihren Kuss, hielt sie so fest, als wolle er sie nie mehr loslassen. Nach einer Ewigkeit lösten sich ihre Hände und Lippen voneinander. Das erste, was sie sagte, war:
«Bring mir etwas zu essen, mein Herz, in der Küche gibt es nichts mehr, aber mach schnell, sonst falle ich um. Ich bin zu schwach, um mitzukommen.»
«Ja, Hertha, meine Hertha, ich mache, so schnell ich kann, bin gleich wieder zurück», antwortete er, löste sich von ihr, rannte aus der Wohnung, sprang die Treppen hinunter, lief aus dem Haus und eilte mit Riesenschritten zum Naschmarkt, der ganz in der Nähe lag.
Nur wenige Stände waren geöffnet. Er ging zum ersten, nahm alles, was ihm in die Hände kam, Brot, Wurst, Käse, saure Gurken, Äpfel, ein Glas Marmelade, einen Sack Nüsse, Dörrzwetschgen, Marillen, einen Gugelhupf und anderes. Kaum hatte der Verkäufer es in Zeitungspapier gewickelt, warf er ihm einen Geldschein hin, viel zu viel für das, was er gekauft hatte, wartete nicht aufs Rückgeld und rannte zurück. Völlig außer Atem kam er wieder in die Wohnung. Hertha hatte sich etwas zurecht gemacht, ihre Haare gerichtet, Lippenstift aufgetragen, die Trainingshose, die sie getragen hatten, gegen einen Rock getauscht. Er aber bemerkte es nicht einmal. Schon vorher war sie der schönste Engel für ihn gewesen. Er küsste sie nur kurz, stellte alles Mitgebrachte auf den Tisch, den sie schon gedeckt hatte. Sie begann gleich zu essen, schlang die Sachen in sich hinein, Gurke, Brot, Wurst und Käse, alles durcheinander.
Wie viele Tage mochte sie wohl nichts mehr gegessen haben, ging es ihm durch den Kopf, was musste sie alles in den letzten Monaten mitgemacht haben, allein, versteckt und voller Angst vor allem und jedem.
Sie verschluckte sich, bekam Schnackserl und begann plötzlich aus vollem Hals zu lachen. Tränen schossen ihr in die Augen. Er wusste nicht, ob es Tränen der Freude über ihr Wiedersehen oder der Trauer über die Lieben waren, die sie für immer verloren hatte. Es war beides, das sie zum Weinen brachte, während sie lachte. Alles brach aus ihr heraus, die ganze Verzweiflung über das Gewesene und die ganze Hoffnung auf die Zukunft. Erst jetzt bemerkte sie die Uniform an ihm. Sie streichelte über die goldenen Knöpfe seiner Jacke, doch immer noch fragte sie nichts. Ohne zu fragen, verstand sie alles, kannte die Antworten.
Nie hatte Max-David solche Liebe verspürt. Wie dumm war er gewesen, sie zu verlassen! Warum hatte er sie nicht nach Amerika mitgenommen oder sie nachgeholt? Was hatte er nicht alles verpasst. In Wirklichkeit aber hatte er nichts verpasst, denn erst durch die Trennung hatten sie wieder zueinandergefunden und diesmal waren sie so fest verbunden, dass nichts mehr sie würde auseinanderbringen können. Das wussten beide, ohne es auszusprechen.
Doch Max-David sprach etwas anderes aus. Er nahm ihre Hände in die seinen, sah sie an, wie keine der vielen Frauen je angesehen hatte, mit denen er zusammen gewesen war, und fragte sie:
«Willst du meine Frau werden, Hertha?»
«Was für eine Frage, mein Herz, mein Alles, mein Leben?», antwortete sie. «Weißt du nicht, dass ich immer schon Deine Frau war, mit oder ohne Ehering? Natürlich will ich dich heiraten. Keinen anderen Mann habe ich je gewollt, war dir alle die Jahre treu, in denen du nicht bei mir warst. Doch das stimmt nicht. Du warst immer bei mir. Jede Sekunde meines Lebens warst du in meinem Herzen und in meinem Kopf. Acht Jahre habe ich nur an dich gedacht. Ich wusste, dass du eines Tages zurückkommen würdest, habe auf dich gewartet, die Stunden gezählt, bis es soweit war. Glaubst du wirklich, dass ich dich ein zweites Mal gehen lasse? Nicht, solange ich lebe.»
Zwei Wochen später heirateten sie, gaben sich das Jawort vor einem US-Richter im Hauptquartier der amerikanischen Truppen in Wien. Max-David quittierte den Dienst, ging mit Hertha nach New York zurück und nahm eine Stelle als Ingenieur bei einer Maschinenfabrik an. Ein Jahr später kam ihr erstes Kind auf die Welt, ein Mädchen. Sie nannten es Else, nach seiner Großmutter.
Ach ja, und das Testament. Ich hätte es fast vergessen.
Max-David war erst sechsunddreißig Jahre alt, also noch lange nicht fünfzig. Das Erbe seiner Mutter, die große Wohnung am Central-Park, die vielen Millionen Dollar, die Firmenbeteiligungen, Aktien und alles Übrige hätte er mit Fug und Recht behalten können. Doch er vermachte alles den Organisationen der Armen, die seine Mutter ausgewählt hatte, behielt nichts davon, denn das Glück, das ihm beschieden war, Hertha wiederzufinden und die größte Liebe zu erleben, die es auf dieser Welt geben konnte, hatte er damit nicht kaufen können. Das war ihm unendlich viel mehr wert als das Erbe. Das Testament aber, mit dem seine Mutter ihm zu diesem Glück verholfen hatte, das, das ich fast vergessen hätte, noch einmal zu erwähnen, ließ er einrahmen und hängte es im Wohnzimmer der neuen, einfachen Wohnung in Brooklyn auf, in der er mit Hertha und den vier Kindern, die sie bekamen, ein langes und erfülltes Leben führte. Es heißt, es hinge immer noch dort, obwohl Maxi und Hertha längst gestorben sind.