
Leseprobe:
Chanukka
Eine Geschichte aus New York
In New York erzählt man sich folgende Geschichte, deren Anfang sich im Dezember 1775 zugetragen haben soll:
Die Stadt zählte damals kaum 25.000 Einwohner, war Teil einer britischen Neuengland-Kolonie und befand sich an der Südspitze einer langgezogenen Halbinsel mit dem uralten Namen der Eingeborenen Manna-hatta. 1626 hatte sie der weitsichtige holländische Kaufmann Peter Minuit dem dort lebenden und jagenden Indianerstamm für ein Butterbrot abgekauft. Amerikanische Forscher behaupten, sie hätten zum weitverzweigten Volk der Irokesen gehört. Ein Jahrhundert davor, im Jahr 1524, hatte es der eigentliche Entdecker des Gebiets, der Italiener Giovanni da Verrazano, einer weiteren Erkundung und vor allem einer Besiedlung durch Weisse für vollkommen ungeeignet befunden. Die erste Bebauung durch europäische Auswanderer, vornehmlich durch Holländer, aber auch Engländer und Deutsche waren unter ihnen, war von Banditentum und Willkür geprägt. Es galt das Recht des Stärkeren. Korruption, Prostitution, Glücksspiel, Mord, Raub, Geiselnahme, Erpressung und unkontrolliertes Bauen waren an der Tagesordnung. Niemand war seines Lebens und seines Eigentums sicher. Erst dem 1647 zum Gouverneur ernannten Peter Stuyvesant gelang es, den Gesetzen einigermassen Nachachtung zu verschaffen und die ausufernde Kriminalität einzuschränken. Er war es auch, der die erste Schule und das erste Krankenhaus errichten liess. Zum Schutz der Stadt vor Indianerüberfällen ordnete er zudem den Bau einer Mauer unweit des Sound River an, der später in East River umbenannt wurde. Er konnte nicht ahnen, dass an ihrer Stelle einmal die Wallstreet mit dem wichtigsten Börsenhandelsplatz des ganzen Planeten entstehen würde.
Das gehört aber nicht zur Geschichte, die sich die New Yorker erzählen. Sie spielt in der Zeit des beginnenden Unabhängigkeitskriegs gegen die Briten. Diese hatten die Stadt 1664 erobert, als sie noch New Amsterdam hiess und zu Ehren des Herzogs von York – Robin Hood winkt aus dem Grab – in New York umbenannt. Am 14. Juni des anfangs genannten Jahres 1775 war der Gutsbesitzer George Washington aus Virginia in Philadelphia beim Kontinentalkongress der 13 Neuengland-Staaten, die sich gegen die britische Krone erhoben hatten, zum kommandierenden General und Oberbefehlshaber aller aufständischen Verbände gewählt worden. Er hatte sich in den vorangegangenen langjährigen Franzosen- und Indianerkriegen als kluger Stratege und Truppenführer ausgezeichnet und sich sofort nach seiner Wahl nach Boston aufgemacht, um das Kommando über 16.000 Milizsoldaten zu übernehmen, die die damals grösste amerikanische Stadt gegen die britischen Belagerer verteidigten, nachdem sich bei Lexington und Concord erste Gefechte entwickelt hatten. Vor allem aber hatte er es verstanden, die Franzosen, gegen die er anfänglich erbittert gekämpft hatte, auf seine Seite zu ziehen und für die Sache der Aufständischen zu gewinnen.
Doch in der New Yorker Geschichte geht es weder um die erst viel später angelandeten französischen Generäle Marquis de la Fayette, Jean-Baptiste-Donatien de Vimeur, Comte de Rochambeau, noch um den französischen Flottenadmiral François Joseph Paul de Grasse oder Washingtons Truppenführer Friedrich Wilhelm von Steuben, Richard Gridley, Horatio Gates, Anthony Wayne oder Henry Lee, sondern um den einzigen Juden in seiner New Yorker Truppe. Gleich nach seiner Ankunft in der neuen Welt hatte dieser seinen polnischen Namen Jakob Kaminsky in Bob Kamer geändert. Das hatte er jedoch bald bereut, denn zu seinem grossen Erstaunen musste er feststellen, dass seine neuen Kameraden in der rasch ausgehobenen Armee Jeremias, Isaak, Moses, Elias, Ruben, Levi, Jonathan und Joseph hiessen, obwohl sie allesamt keine Juden waren. Aber es war zu spät, um seine Namensänderung rückgängig zu machen. Sein Ausweispapier war schon auf Bob Kamer ausgestellt. So war es denn ausgerechnet der Jude in Washingtons Truppe, der einen der wenigen nichtjüdischen Namen trug. Er war aus dem polnischen Lodz gekommen. Sein Vater, Schuster und Talmudlehrer, hatte ihn von der Reise ins Ungewisse nicht abhalten können. Nachdem all sein Reden, Warnen und Argumentieren und auch das Flehen, Bitten und Weinen der Mutter und der Geschwister nicht gefruchtet hatten, hatte es der Vater zumindest durchgesetzt, dass Jakob einen kleinen Chanukka-Leuchter, einen Siddur - ein Gebetbuch - und einen Chumasch – eine jüdische Bibel - im Rucksack mitnahm.
Es war der Abend des 25. Kislew, den die Christen Dezember nennen. Für die Juden war und ist es der erste Abend des Chanukka-Festes. Bob, wie er nun hiess, lag mit seinen Mitkämpfern im Zelt vor der Stadtmauer. Das Feuer davor war ausgegangen. Der grosse, schwarze Suppentopf stand ausgeschöpft am Boden, die Fleischspiesse lagen abgenagt auf der Erde. Ameisen und anderes Kleingekreuch machten sich über sie, die Brotkrumen und die übrigen Essensabfälle her. Unter den wehenden Leinenwänden schützten die Männer dicke Unterwäsche, mit Zeitungspapier ausgestopfte Stiefel, wärmende Decken, gefütterte Lederhandschuhe, Schals und Socken aus Wolle und Strohmatratzen vor Wind, Eis, Schnee und Kälte. Die Bostoner Fabrikanten und Händler hatten bei der Ausrüstung der neuen Armee nicht gespart, ging es doch darum, die drückende Steuerlast loszuwerden, die ihnen die britischen Kolonialherren auferlegt hatten. Zum allergrössten Teil diente ihr schwerverdientes Geld zu nichts anderem, als einem viele tausend Kilometer entfernten König in London das Leben noch luxuriöser und feudaler zu gestalten, als es ohnehin schon war. Für ihn, George III, wie der dickbauchige Perückenträger hiess, waren die amerikanischen Kolonien nichts anderes als eine reich fliessende Geldquelle. Das Wohlergehen der Menschen in Amerika kümmerte ihn nicht. Sie hatten das Mutterland verlassen, also sollten sie bluten und zahlen. Davon waren die Menschen im Land überzeugt. Das gemeinsame Schicksal und die blaustolze Uniform, die sie trugen, trieb ihnen das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einer neuen Nation in Herzen und Köpfe, wies sie als Soldaten der Union aus, der Vereinigten Staaten von Amerika, wie viele sie schon nannten, liess sie die Ungemach der Witterung und die Gefahren ihres Daseins vergessen.
Zwischen den Wolken schien die Mondsichel durch den Eingangsspalt des Zelts. Sterne zeigten sich am Himmel nicht. Dafür aber war das Schnarchen der Schläfer, das Jaulen der Wölfe und ab und an das Miauen herumschleichender, läufiger und sich paarender Katzen zu hören. Niemand störte es. Das Vogelgezwitscher hatte längst aufgehört, die Hunde waren eingedöst. Der Geruch des Pulvers von den nachmittäglichen Schiessübungen lag noch in der Luft, überdeckte den Duft der erkalteten Fleisch- und Suppenreste, wollte sich nicht verziehen. Aus der Ferne blinkten vereinzelt die Lichter der Stadt herüber.
Bob fand als Einziger keinen Schlaf an diesem Abend. An genau diesem Tag, vor langer Zeit, im Jahr 164 vor dem Beginn der christlichen Zeitrechnung, hatten die Seleukiden, die griechischen Herrscher Syriens, mit dem Sturm auf das jüdische Jerusalem begonnen. Lysias, der das Reich für den minderjährigen König Antiochus regierte, missachtete die Freiheit, die der Begründer des makedonisch-griechischen Riesen-Imperiums, der grosse Alexander, den Juden in ihrem Land gewährt hatte. Vor sechs Generationen hatte er es auf der Verfolgung des Perserkönigs Dareios im Jahr 313 mit dem mächtigsten Heer der Welt durchquert. Sogar von den Persern erbeutete Kriegselefanten soll er mitgeführt haben. Auf seinem Zug hatte er alles vernichtet, was sich ihm und seinen Soldaten in den Weg stellte. Jerusalem aber hatte er trotz der Verleumdungen durch die judenfeindlichen Samaritaner verschont, war seinen Bewohnern und ihrer Religion mit Achtung begegnet. Schimon HaZaddik, der Hohepriester, Letzter der Grossen Versammlung Esras, genannt Simon der Gerechte, war ihm in der Nacht vor der geplanten Erstürmung, dem 24. des Monats Tevet, in seinem pupurblauen Ornat im Traum erschienen. Achtest du die Heiligkeit des Allmächtigen und seinen Tempel in Jerusalem, so sollen alle deine Unternehmungen von Erfolg gekrönt sein, hatte er ihm prophezeit. Alexander hielt sich daran, die Weissagung wurde Wirklichkeit und während Jahrtausenden nannten geschichtsbewusste Juden ihre erstgeborenen Söhne Alexander.
Beim Angriff der Seleukiden war nur noch ein einziger Krug Öl im Tempel vorhanden, um das Licht des Ewigen zu speisen, des Einen Gottes, der Israel Namen und Lehre gegeben hatte, zum Wohl und als Vorbild für die Welt. Am Tag, an dem es erlöschen würde, so ging die Sage, würde Er den Schutzschirm einziehen, den Er über sein das Volk hielt, über das Volk, mit dem Er einst den Bund am Sinai geschlossen hatte. Der Glaube an ihn und seine Werte der Menschlichkeit und der Liebe und Achtung hatten dem Volk die Kraft gegeben, seinen Feinden während tausend Jahren zu widerstehen, den Tempel Salomons wieder zu errichten, den der sündhafte König Babylons Nebukadnezar zerstört hatte. Nehemia hatte den Wiederaufbau geleitet, nachdem König Artaxerxes dem Volk die Heimkehr aus dem Exil erlaubt und Esra als Statthalter eingesetzt hatte. Nun aber schien das endgültige Aus für Israel gekommen zu sein.
Gewaltig und furchterregend war die Streitmacht der Seleukiden. Deutlich sichtbar, ohne besondere Befestigung, Bewachung oder Schutz lagerte sie vor den Mauern Jerusalems, keinen Feind fürchtend, protzend und siegesgewohnt, als wolle sie allein schon durch ihre Anwesenheit die Bewohner der Stadt zur Aufgabe zwingen. Griechische, baktrische und persische Lanzenreiter, Heere makedonischer Bogenschützen, Kriegsmaschinen aller Art, feuer- und steinschleudernde Ungeheuer und zehntausende, schwerbewaffnete Söldner aus allen Teilen des Grossreichs bedeckten die Abhänge und Täler Judäas. Fahnenträger, wo man hinsah. Unmöglich, die Schwadronen zu zählen, die sich den Augen der Verteidiger auf den Zinnen darboten. In ihrer Mitte der prächtig gewandete Feldherr Nikanor auf dem erhöhten Befehlsstand, der vor seinem palastartigen Planenbau errichtet worden war. In allen Farben erstrahlte er. Waffen, Rüstungen und Gerätschaften blinkten in der Sonne, als wären sie Abglanz der Sterne des Himmels. Die Pferde schnaubten, konnten das Losstürmen nicht mehr erwarten. Posaunenklänge, Fanfarenstösse und Trommelwirbel erschallten, kündigten den unmittelbar bevorstehenden Ansturm der riesigen Massen und der geballten Kraft des Seleukidenstaates auf die Hauptstadt der Juden an.
Ihnen gegenüber standen die bescheidenen Truppen Jehuda Makkabis, des Anführers der Verteidiger. Ausgedünnt und ausgezehrt waren sie nach den verlorenen Schlachten bei Bet Sacharia und Bet Sur. Doch Jehuda Makkabi verzagte nicht, trieb die Seinen, ob Offizier oder einfacher Bogenschütze, mit aller Macht zum Widerstand und zur Selbstbehauptung an. Mit dem Mut vom Untergang ihres Volkes bedrohter Menschen, im Wissen um Versklavung, Folter und Tod ihrer Lieben im Fall der Niederlage waren sie wie Heroen aus einer anderen Welt, kümmerten sich nicht um Flammen, Geschosse oder ihr eigenes Leben, stiessen die Aufkletternden von den Leitern, trafen sie mit Pech und Pfeilen, hieben ihnen die Helme von den Schädeln, bohrten ihnen die Schwerter durch die Lederpanzer, zerstörten ihre Rammböcke, Katapulte und Kampftürme und wussten Feuer, Stein, Schwerter und Fäuste einzusetzen wie einst die Getreuen Jehoschua bin Nuns. Einer wehrte zehn ab, keiner verliess seinen Posten, jeder kämpfte wie einst Jehoschua gekämpft hatte oder auch David ben Jischai, der tapferste aller jüdischen Krieger. Doch wieder mussten sie Verluste hinnehmen. Immer kleiner wurde ihre Zahl.
Am Abend des ersten Tages kamen die Verbliebenen im Tempel zusammen, warteten auf das Erlöschen des Ewigen Lichts, Symbol der schützenden Hand Gottes, die er über sein Volk hielt. Das Erlöschen der Flamme schien nur noch eine Frage von Stunden, denn kaum war noch Öl im riesigen Leuchter vorhanden und neues war nicht zu bekommen. Die Blockade der Griechen war vollständig, verunmöglichte jede Lieferung in die Stadt. Sobald die Flamme erstarb, war auch das Schicksal des Volkes besiegelt, besagte die Legende. Das Ende schien gekommen. Vernichtung wartete auf die Stadt und das Volk, Tod oder Versklavung auf jeden Mann, jede Frau und jedes Kind. Die Griechen kannten keine Gnade, liessen den Besiegten weder Leben noch Ehre. Das schreckliche Los schien unabänderlich. Wie der gewaltigen Übermacht länger widerstehen, wie sich gegen die ungeheure Kriegsmaschinerie der Vielgötteranbeter länger wehren? Wie Zeus, Ares, Poseidon und Hades länger aufhalten, die an ihrer Seite standen? Doch das Licht im jüdischen Tempel brannte weiter und weiter. Die Menschen konnten es nicht glauben. Das Öl wurde von der Flamme nicht aufgezehrt. Es speiste sie, als gäbe es keinen Mangel an brennbarer Flüssigkeit. Keine natürliche Erklärung gab es dafür. Wollte Gott die Griechen für ihren Frevel bestrafen? Was waren schon olympische Abgötter? Nichts als Produkte der Phantasie und des Aberglaubens, auch wenn sie in Bronze gegossen vor den Toren standen und auf die Banner, Fahnen und Schilder der Angreifer gemalt waren. Die Menschen in Jerusalem sprachen von einem Wunder.
Mit neuer Kraft und Opferbereitschaft kämpften sie am zweiten Tag, warfen die Griechen abermals zurück. Abends im Tempel brannte das Licht immer noch. Grösser und grösser wurde das Wunder, denn die wenigen Tropfen Öl, die im Leuchter noch zu sehen waren, speisten das Feuer der Flamme, als wären sie ein unerschöpflicher Bach aus dem Garten Eden. Auch am dritten, vierten, fünften, sechsten und siebten Tag wurde das Öl nicht weniger. Manchen schien es gar, dass es sich noch vermehrt hatte. Die Flamme Gottes erstrahlte so hell wie nie zuvor, das Feuer loderte hoch und höher und der Mut der Jeruschalmer stieg ins Unermessliche.
Am achten Tag schliesslich gaben die Belagerer auf und zogen ab. Zu sehr hatten ihnen die jüdischen Verteidiger zugesetzt, zu schmerzhaft waren ihre Verluste an Menschen und Material, zu gross die Schmach ihrer Anführer. Die letzten verbliebenen Kämpfer Jehuda Makkabis hatten den glänzendsten Sieg über hundertfach überlegene Gegner errungen, den Jerusalem in seiner langen Geschichte gesehen hatte. Gott hatte den Bach aus dem Paradies gespiesen und sein Volk ein drittes Mal vor der Vernichtung bewahrt, so wie er es vor tausend Jahren in Ägypten und vor dreihundert in Persien getan hatte. Der Ewige hatte sein Volk nicht verlassen, es erneut aus höchster Bedrängnis gerettet. Chanukka!
Vergiss es nicht, hatte Jakobs Vater zu ihm gesagt, als er ihm den kleinen Leuchter mit den neun Armen, acht für die acht Tage des Wunders und einen für den Schammes, den Diener und Anzünder, beim Weggang aus Lodz in den Rucksack gesteckt hatte. Nun, in der Stille der mondhellen Nacht, vor den Toren der kleinen Stadt New York, holte er ihn heraus, nahm auch eine der vorbereiteten Kerzen, die Zündhölzer und das Gebetbuch mit und schlich sich leise aus dem Zelt, um niemanden aufzuwecken. Keiner sollte ihn bei seinem ungewohnten Tun beobachten. Für einen Sonderling würden sie ihn halten, wenn sie es sähen, dachte er bei sich, ihn vielleicht nicht mehr als einen der Ihren betrachten. Das galt es um jeden Preis zu vermeiden, war er doch ein Amerikaner wie sie, stand wie sie im Kampf gegen die verhassten Briten, war wie sie bereit, sein Leben für die Freiheit zu geben. Er ging zu einem Baum, vermied auf Indianerart jeden Lärm, achtete auf die Blätter am Boden, wählte seine Schritte mit Bedacht. Endlich stellte er der Leuchter auf, bestückte vorsichtig den ersten Arm mit der Kerze, murmelte lautlos die drei vorgeschriebenen Danksegnungen an Gott und zündete sie an. Als winziges Licht schimmerte sie durch die Nacht. Er setzte sich, stimmte die Melodie des Maos Tsur an, des uralten Liedes der Freude und der Lobpreisung des Allmächtigen.
Niemand sah die kleine Flamme, ausser einem. Er kam ebenso lautlos näher wie Jakob gekommen war, legte ihm die Hand auf die Schulter. Erschrocken drehte sich Jakob, Bob wie er jetzt hiess, um. Unmöglich, dachte er erneut bei sich. War er es wirklich, der ihn aus gütigen Augen ansah, der General, George Washington persönlich, der riesenhafte Mann, den alle verehrten und bewunderten, der Held so vieler Schlachten, das Vorbild Amerikas, der Staates, der in den Geburtswehen lag, seines neuen Staates, der, der ihn aus der Bedrückung Polens und des alten Kontinents befreien sollte, der ihn zu einem gleichberechtigten Bürger machen sollte? Würde die Geburt gelingen, würde der Staat überhaupt je entstehen? Oder würden die Briten siegen und alle Hoffnungen auf ein Morgen in Selbstbestimmung und Würde zunichtemachen? Das alles ging ihm in diesem einen Augenblick durch den Kopf. Was wollte der kommandierende Oberbefehlshaber aller amerikanischen Truppen ausgerechnet von ihm, einem kleinen unbedeutenden Soldaten?
«Was machst du da? Was soll die Kerze?», fragte er ihn freundlich.
Ohne dass seine Offiziere es wussten, hatte er es sich zur Angewohnheit gemacht, allnächtlich, wenn bis auf die Posten alle schliefen, das Lager zu inspizieren.
Jakob wollte aufstehen, doch der General hielt ihn zurück, setzte sich neben ihn auf einen Baumstrunk und hörte seiner Chanukka-Erzählung zu, ohne ihn zu unterbrechen.
«Ein grosser Mann, dieser Jehuda Makkabi», sagte er nach mehr als einer Stunde, als Jakob geendet hatte. «Aber vielleicht war er auch nur ein Werkzeug Gottes, so wie ich es bin, denn das neue Israel heisst Amerika.»
Er stand auf und ging. Der Krieg nahm den Verlauf, den alle kennen. Amerika blieb siegreich und erstand als neuer Staat, in dem keiner über dem anderen stand und kein König und kein Fürst die Menschen drangsalierte und unterdrückte. George Washington, der Sieger im Unabhängigkeitskampf gegen die Briten, wurde erster Präsident. Jakob – Bob Kamer – zog in eine kleine Wohnung in New York, arbeitete wie sein Vater als Schuster, nicht aber als Talmudlehrer, und heiratete. Zum Leidwesen des jungen Paars wollten sich jedoch keine Kinder einstellen.
Auf den Tag genau fünfzehn Jahre später, am 23. Kislew des Jahres 1790, kurz vor Sonnenuntergang, klopfte es an ihrer Tür. Sie wunderten sich, erwarteten sie doch niemand an diesem ersten Chanukka-Abend, hatten schon den Leuchter aufgestellt, um die Kerze anzuzünden, wie sie es jedes Jahr taten, seit Bob nach Amerika gekommen war. Sein Erstaunen war nicht kleiner als damals unter dem Baum vor den Toren der Stadt, als sie den Angriff der Feinde erwartet hatten, die nun zu Freunden und Verbündeten geworden waren. Er erkannte den grossen Mann sofort. Es war der Präsident. Ganz allein war er gekommen, ohne jede Begleitung. Keine Soldaten oder Schutzmänner waren bei ihm. Angst um sich selbst kannte er nicht, nur die Sorge um sein Land und seine Bürger.
«Hello Bob», sagte er erneut in freundlichem Ton und fragte, als wäre er ein ganz gewöhnlicher Besucher: «Darf ich eintreten?»
Natürlich baten sie ihn herein, boten ihm ein Glas Wein an und fragten nach dem Grund des hohen Besuchs.
«Ich wollte mich nur bedanken», meinte er. «Du wirst es nicht wissen, Bob, aber unsere Lage an jenem Abend vor fünfzehn Jahren war verzweifelt, ja praktisch hoffnungslos. Die Engländer waren uns an Soldaten und Waffen haushoch überlegen. Die Kerze, die du in jener Nacht angezündet hast und die Geschichte, die du mir dazu erzählt hast, von Jehuda Makkabi und den Seinen und von Gott, der ihnen beigestanden ist, weil sie die Sache der Freiheit und der Selbstbestimmung vertreten haben, haben mir den Mut gegeben, nicht zu verzagen, uns den Feinden nicht zu ergeben, die die Gründung unseres Staates mit allen Mitteln verhindern wollten. Jehuda Makkabi und sein Glauben an Gott haben auch mir den Mut gegeben, in der Stunde der Gefahr und der Bedrängnis nicht zu verzweifeln. Unser Sieg ist ihm und deiner Kerze zu verdanken. Deswegen bin ich heute hier.»
Er griff in die Tasche, holte eine Medaille heraus, zeigte sie Bob und steckte sie ihm an. Über einem Chanukka-Leuchter waren die Worte eingraviert:
Bob Kamer in ewiger Dankbarkeit – die Vereinigten Staaten von Amerika
Er bestand darauf, dem Anzünden der Kerze und den Segenssprüchen beizuwohnen, summte beim Maos Tsur sogar mit, verabschiedete sich dann aber rasch und ging in die Nacht hinaus, genauso unerkannt, wie er gekommen war.
Sie haben ihn nie mehr getroffen, aber neun Monate danach gebar Jakobs Frau ihr erstes Kind, einen Knaben. Sie gaben ihm die Vornamen George Jehuda Alexander, nach George Washington, Jehuda Makkabi und Alexander dem Grossen, drei wahrhaft bedeutenden Männern. Er wurde der erste jüdische General Amerikas. An jedem 25. Kislew, jeweils im Dezember, zündete er in seinem Hauptquartier die erste Chanukka-Kerze an. Nie hat er eine Schlacht verloren.