
Leseprobe:
Das halbe Amulett
Es geschah 1492, im Jahr der ungewollten Entdeckung Amerikas durch den Genuesen Christoforo Colombo. Nach der christlichen Eroberung des letzten maurischen Emirats auf der iberischen Halbinsel, dem von Granada ganz im Süden, hatte er der stolzen Isabella I, der neuen Königin von ganz Spanien, einer pausbäckigen, stämmigen Frau mit grünen Augen, viel Ehrgeiz und wenig Skrupeln, zur weiteren Mehrung ihres Reichtums und ihrer Glorie versprochen, einen kürzeren Seeweg nach Indien als den um Afrika herum zu finden. Isabella hatte das Glück, Königin zu sein. Sonst hätte man sie mit großer Wahrscheinlichkeit ihrer roten Haare und ihrer Selbstherrlichkeit wegen als Hexe verbrannt.
Der deutsche Arzt und Astronom Kopernikus und andere Männer der Wissenschaft bestanden trotz päpstlicher Ermahnungen und Warnungen auf ihrer Erkenntnis, dass die Erde keine Scheibe, sondern eine Kugel ist und sich um die Sonne dreht. Das widersprach dem päpstlichen Dogma von der Erde als Mittelpunkt der Schöpfung, um die sich alle Himmelskörper drehen, gebar aber die Idee, dass es möglich sein musste, die vor Gewürzen, Seide, Purpur, Gold und Edelsteinen überquellenden Länder Ostasiens, insbesondere Indien, westwärts schneller als auf der bisherigen östlichen Route zu erreichen. Obwohl sich Isabella als die katholischste aller Regenten bezeichnete, lockten sie materielle Schätze mehr als die Lehren des Papstes. Ihm tat sie Genüge, indem sie die Allah anhängenden Bewohner der von den Mauren eroberten Gebiete zu Jesus bekehrte und die nicht bekehrungswilligen Juden des Landes verwies, wofür sie 1492 das Alhambra-Edikt erließ, ein Dokument der Schande. Erst fünf Jahrhunderte später, am 16. Dezember 1968, wurde es von einem anderen spanischen König, Juan Carlos I, in der Synagoge von Madrid außer Kraft gesetzt. Doch 1492 wanderten bei einer Gesamtbevölkerung Spaniens von 850.000 Seelen je nach Schätzung zwischen 150.000 und 300.000 über Frankreich, Holland und Italien ins griechische Saloniki und weiter ins Osmanische Reich aus. Sultan Bayezid II meinte dazu:
„Wie töricht sind doch die spanischen Könige, dass sie ihre besten Bürger ausweisen und ihren ärgsten Feinden überlassen.“
Eine entscheidende Rolle bei der Ermöglichung der Auswanderung und der Aufnahme in den Gastländern einer so großen Zahl von Menschen spielte Dona Gracia Mendes, eine der lichtvollsten Frauengestalten des zu Ende gehenden 15. und des beginnenden 16. Jahrhunderts. Von ihr wird in einer anderen Geschichte die Rede sein.
Die nicht auswanderungswilligen Juden, die, die die Mittel dazu nicht hatten oder ihre Freunde und Verwandten nicht verlassen wollten, hielten ihre Köpfe in der Not unters Taufbecken, blieben im Geheimen aber ihrem Glauben treu. Isabella, ihr Gemahl Ferdinand und der teuflische Inquisitor Thomas de Torquemada nannten sie Marranos - Schweine -, verfolgten sie mit unerbittlicher Härte und verbannten sie bei lebendigem Leib auf Autodafés, die auf der Plaza Mayor in Madrid, in Sevilla, Valladolid, Toledo, Guadelupe, Valencia, Lissabon und anderen Städten Spaniens und Portugals, als öffentliche Volksfeste von der Kirche und der weltlichen Obrigkeit veranstaltet wurden. Den Zuschauern wurde sogar der Erlass der Steuern versprochen, um möglichst viele anzuziehen.
Da Colombo fast keine Freiwilligen für seine Segelfahrt ins Ungewisse fand, konnten einige ihr Leben retten, indem sie sich auf seinen Schiffen Santa Maria, Pinta und Nina verdingten. Manche Forscher behaupten gar, die gesamte Besatzung der Schiffe hätte mit wenigen Ausnahmen aus Juden bestanden. Das ist nicht unglaubhaft, wenn man bedenkt, dass die meisten Menschen ihre Fahrt ins Ungewisse als eine Reise in den Tod ansahen. Der Ozean, in den sie aufbrachen, war geheimnisvoller als das Weltall. Den Mond und die Planeten konnte man sehen, auf dem riesigen Meer aber war nicht das Geringste zu erspähen. Man wusste nicht, ob, wo und wann die Fahrt enden würde und ob eine Rückkehr überhaupt möglich wäre.
Eine der als Marranin Angeklagten war die junge Mirjam de Toledo. Einem Neffen des Königs war die außergewöhnlich hübsche Sechzehnjährige auf einem Ritt durch die Stadt aufgefallen. Er ließ sie entführen, in seinen Palast bringen und stellte sie vor die Wahl, vors Inquisitionsgericht gestellt zu werden, was den sicheren Tod bedeutete, oder ihm zu Willen zu sein. Die Entführte sträubte sich, sodass der Prinz sie mit Gewalt nahm und danach der Inquisition auslieferte, die sie wie erwartet zum Tod verurteilte. Im Kerker merkte sie, dass sie schwanger war, ließ es dem Prinzen mitteilen. Da diesem keine seiner Mätressen ein Kind geschenkt hatte, er sich jedoch eines wünschte, veranlasste er den Aufschub der Hinrichtung bis nach der Geburt, wonach er das Kind, einen Knaben, zu sich nahm. Die Mutter bedingte sich einen letzten Wunsch aus, den der Prinz ihr gewährte. Sie trug ein großes Amulett aus Gold um den Hals, das der Vater, ein begüterter Kaufmann, der ebenfalls verbrannt worden war, ihr geschenkt hatte. Zwei Löwen waren darin eingraviert, die die Menorah hielten, den siebenarmigen jüdischen Leuchter. Sie brach es in der Mitte entzwei, hängte eine Hälfte dem Neugeborenen um und verlangte, dass er es sein ganzes Leben lang tragen solle. Es würde ihn vor allem Unglück beschützen, versicherte sie dem Vater ihres Kindes. Der abergläubische Prinz, dem der Glücksbringer gefiel, versprach es, und verhalf der Mutter, die die andere Hälfte des Amuletts behielt, heimlich zur Flucht.
Der Sohn des Prinzen genoss die vorzüglichste Erziehung im Palast von Toledo, wurde General des Königs, während das Schicksal der Mutter sich im Dunkeln verliert. Jedenfalls sah sie ihren Sprössling nie wieder. Dieser trug, wie ihm vom Vater aufgetragen, sein Leben lang das halbe Amulett um den Hals, ohne zu wissen, von wem es stammte oder was die Gravur darauf in Wirklichkeit darstellte. Es war für ihn einfach ein königlicher Wappenlöwe, der drei Kerzen hochhielt. Am Sterbebett vererbte er es seinem ältesten Sohn, dieser gab es an seinen Ältesten weiter und so blieb es von Generation zu Generation in der Familie der Prinzen von Toledo. Sie führten den Löwen mit den drei Kerzen gar in ihrem Schild, der sie vor jedem Unheil bewahrte.
Die Jahrhunderte gingen dahin, in Spanien lebten keine Juden mehr, bis nach der deutschen Besetzung Frankreichs 1940 wenige jüdische Flüchtlinge Zuflucht im Land des Diktators Franco fanden. 1948 wanderten aus Spanien jedoch fast 20.000 Juden ins neu gegründete Israel aus. Es waren Marranos. Sie hatten dem Bund mit Gott 450 Jahre lang im Verborgenen und unter Todesgefahr die Treue gehalten. 2014 kam eine spanische Delegation nach Israel, um ihnen auf Beschluss des spanischen Königs und des Parlaments in Madrid die spanische Nationalität anzubieten. Der Leiter der Delegation, ein hoher Beamter mit Namen Manuel Esteban de Toledo, trug ein seltenes Amulett um den Hals, das einen Löwen und drei Kerzen zeigte. Im Außenministerium in Jerusalem wurde er von einer ausnehmend hübschen israelischen Chefbeamtin empfangen. Sofort bemerkte sie das halbe Amulett, das der spanische Gesandte trug. Ihr eigenes glich ihm aufs Haar. Sie nahmen beide ab und fügten sie zusammen. Sie passten nahtlos aneinander, zeigten zwei Löwen, die eine Menorah hielten, den jüdischen Leuchter. Obwohl der Spanier kein Jude war, heirateten sie mit dem Segen des Oberrabbiners in einer kleinen Synagoge in Jerusalem. Angeblich war es die größte Liebe, die es in Israel je gab.
Gottes Hochzeitsgeschenk
Wer kennt nicht Tevje, den Milchmann, und Mendel Singer, den Schneider? Sogar die ärgsten und dümmsten Antisemiten können sich ihrem wehmütigen Charme, ihrer Frömmigkeit und ihrem absoluten Gottvertrauen nicht entziehen, auch wenn sie Joseph Roths Roman ‘Hiob’ nicht gelesen und das Singspiel ‘Anatevka’ nicht gesehen haben.
Meine Großmutter Ettie Singer war mit meinem Großvater Siegmund Günsberg, einem österreichischen Offizier, nach dem verlorenen Weltkrieg 1919 aus der Bukowina nach Wien zurückgekehrt, wo sie heirateten und als erstes von drei Kindern meinen Vater Max zeugten. Er kam in den Iden des März 1920 auf die Welt. Ihrer aller Vorfahren waren wie viele andere Wiener Juden im 18. Jahrhundert von Kaiserin Maria Theresia in die östlichen Länder der Krone an der Grenze zum Zarenreich entsandt worden. Dort wurde hauptsächlich Rumänisch, Ruthenisch, Polnisch und Jiddisch gesprochen, auch Russisch, und die Menschen fühlten sich dem weitentfernten Kaiser in Wien nicht besonders verbunden. Weil die neu ankommenden Wiener Juden Deutsch sprachen und ohne Einschränkungen zum Kaiser standen, waren sie die denkbar besten Kolonisatoren.
Meinem Großvater hatte Kaiser Karl 1917 bei einem seiner Frontbesuche persönlich die Hand geschüttelt und ihm den höchsten Tapferkeitsorden an die Offiziersjacke geheftet, die Nichtadelige in Österreich-Ungarn bekommen konnten. Die Tat, für die er ausgezeichnet wurde, war in der ganzen k. und. k. Armee Legende. Sogar an der Piavefront in Italien und am Balkan sprach man von ihr. Als der Zug von Oberleutnant Günsberg in einen Hinterhalt geriet und zehn seiner Soldaten von den Russen gefangengenommen wurden, hatte er nicht gezögert, das Minenfeld und die unter Dauerbeschuss liegende Front zu überqueren, ohne Rücksicht auf sein eigenes Leben. Ganz allein schaffte er es, das russische Kommando auszuschalten, seine Leute zu befreien und acht der zehn zurückzubringen. Nur zwei verloren ihr Leben. Einer starb im Geschosshagel, dem anderen riss die explodierende Erde über einer Mine die Beine weg. Jede Hilfe kam zu spät.
Im März 1938, als der Gefreite und Meldegänger Adolf Hitler triumphal in Wien empfangen wurde und zweihunderttausend Wiener seine Rede am Ballhausplatz beklatschten, mit der er vor der Geschichte den Eintritt seiner Heimat - die er schmählich verlassen hatte - ins Deutsche Reich verkündete, zählte das weniger als der Dreck auf der Straße. Hitler selbst war der Orden, den er trug, im Gegensatz zu dem meines Großvaters nicht für besondere Tapferkeit verliehen worden, sondern nur, weil er bei Kriegsende selbst darum nachgesucht hatte. Trotzdem waren es jetzt mein Großvater und seine Kameraden, die mit der Zahnbürste die Parolen gegen den Anschluss an Hitler-Deutschland von den Gehsteigen putzen mussten. Von den Nazis und denen, die dem selbsternannten Führer den jubelnden Empfang bereitet hatten, wurden sie dabei noch bespuckt, verhöhnt und mit Fußtritten traktiert. Keiner von ihnen hatte sein Leben fürs Vaterland riskiert, keiner hatte acht Menschenleben gerettet. Reibpartien nannte man diese Aktionen in Wien.
Hundertsiebzig Jahre hatten meine Vorfahren in der Bukowina gelebt, sieben Generationen lang, in Städten und Dörfern, vom großen, blühenden Czernowitz bis zu den kleinen Weilern, die sich von der Vojvodina im Süden über Siebenbürgen bis nach Galizien im Norden erstreckten.
Einer der Ahnen meiner Großmutter hieß Mendel Singer, genau wie der Schneider aus Anatekva und genau wie er war er Schneider. Die Geschichte hat mir mein Vater erzählt, denn meine Grossmutter habe ich nie kennengelernt. Sie wurde mit ihren beiden Töchtern, meinen Tanten Hertha und Rita, die sieben und zwölf Jahre alt waren, 1942 gemeinsam mit allen anderen, noch in Wien verbliebenen Juden mit Sonderzügen in den Wald von Maly Trostinec gefahren. Dort, weit entfernt von jeder menschlichen Behausung, mussten sie sich nackt ausziehen, wurden von der schwerbewaffneten SS beschimpft, geschlagen und erniedrigt, an Grubenrändern erschossen oder in speziell dafür hergerichteten Lastwagen vergast. Wer es nicht glaubt, kann es im Totenbuch von Waltraud Barton nachlesen. Darin sind die Namen der 9.547 Frauen, Kinder und Männer verzeichnet, die auf diese Weise in Maly Trostinec ermordet wurden. Mein Vater war nicht unter ihnen. Er hatte das Glück, von einem aufrechten Schweizer, der dafür gerichtlich verurteilt und seines Amtes enthoben wurde und sogar seiner Person verlustig ging, dem St. Galler Polizeihauptmann Paul Grüninger, Aufenthaltspapapiere in der Schweiz ausgestellt zu bekommen. Jad Vashem in Jerusalem hat ihn dafür als Gerechten unter den Nationen ausgezeichnet. Der Baum, der für ihn gepflanzt wurde, wird noch Blüten tragen, wenn die Namen der Mörder und ihrer Helfer und Helfershelfer längst vergessen sein werden. Zahllose andere jüdische Flüchtlinge aus Wien hatten nicht das Glück meines Vaters. Sie wurden von den Schweizer Grenzwächtern abgewiesen und auf Anordnung der Regierung in Bern und der Eidgenössischen Fremdenpolizei in den sicheren Tod zurückgeschickt. Ihr Chef hieß Heinrich Rothmund. Er war extra nach Berlin gefahren und hatte verlangt, ein großes ‘J’ in die Pässe der Juden zu stempeln, um sie an der Grenze erkennen zu können.
Aber zurück zu Mendel Singer, meinem Ur-Ur-Urgroßvater, in eine Epoche, als die Schrecken der Nazizeit noch außerhalb des Vorstellbaren lagen. Er lebte in einem Stetl nahe Czernowitz. Es war kein Ghetto, in dem die Juden benachteiligt und entrechtet waren, sondern ein stolzer Ort, in dem sie sich trotz drückender Armut allen Unwissenden und Ungläubigen, zu denen insbesondere die Christen zählten, weit überlegen fühlten. Sie waren das Volk Gottes, die Auserwählten, die die schriftliche und mündliche Lehre von ihm erhalten hatten und sich an seine 613 Gebote und Verbote hielten, um einst ins Ojlem habo, in die jenseitige Welt einzuziehen, während die Gojim, die rohen und ungebildeten Nichtjuden, von denen die Wenigsten lesen und schreiben konnten, egal ob sie Bauer oder Adeliger waren, im Gehennem schmoren würden.
Schon mit drei gingen die Kinder in den Cheder, um Chumisch zu lernen, die fünf Bücher der Bibel, und hörten ihr ganzes Leben nicht damit auf. In der Schul davneten sie die drei täglichen Gebete Schachris, Minche und Ma’ariv. In der Jeschiwe, der Thorahochschule, studierten sie Mischne und Gemore, die mündliche Lehre Gottes mit den Kommentaren Raschis, Rambams und Rambans. Die zwei Letztgenannten gehören auch für die Christen als Maimonides und Nachmanides zu den führenden Gelehrten des Mittalalters.
Die Frauen im Stetl wachten über den koscheren Haushalt, dass ja kein Tropfen Milch ins Fleisch sich verirre, denn Du sollst das Zicklein nicht in der Milch seiner Mutter kochen, wie es drei Mal in der Thora geschrieben steht, und bereiteten am Freitag den Einzug der Königin Schabbat vor mit dem Backen der Challes, der Zopfbrote, über die der Vater beim Kiddusch den Segen sprach, wie über den Wein und alles andere, was Gott ihnen geschenkt hatte. Sie zündeten die Kerzen an, während dem sie mit den Händen die Augen bedeckten und die Kinder mit glänzenden Augen an ihrem Rock hingen.
Die Feste feierten sie alle zusammen im Ablauf des Jahres, Lag Baoimer, Schwues, Tische beaw, Sukkes, Simches Toire, Chanukka, Purim und Pessach, das volksstiftende, standen an den zehn heiligen Tagen zwischen Rosch Haschone, dem Neujahrstag und Jom Kippur, dem Versöhnungstag, dem heiligsten von allen, in der Synagoge, direkt vor Gott, um sich seinem Urteil zu stellen und seine Gnade zu empfangen. Zu feiern gab es aber auch die Geburten der Kinder, die Bris Miles, die Beschneidungen der Knaben, die Bar und Bat Mitzwes, den Eintritt der jungen Männer und Frauen ins Gesetzesalter, und die Chassenes, die Hochzeiten, zu denen die ganze Gemeinde geladen war. Die Feste versüßten ihnen den harten Alltag mit Tanz und Musik und herrlichen Drosches - Erklärungen der Gelehrten über die Parsche, den Wochenabschnitt der Bibel, denen auch die Jüngsten gebannt lauschten.
Heute ist der Tag, an dem Mendel Singer heiratet. Aufrecht steht er unter der Chuppe, dem Baldachin, der im Synagogenhof aufgebaut worden ist, umhüllt vom Talles, dem Gebetsmantel, und den Tachrichin, dem weißen Totenkleid, denn auch hier, wie im Tod, der hoffentlich noch lange auf sich warten lässt - bis hunderundzwanzig soll er leben - steht er im Angesicht Gottes. Seine Kalle, die Verlobte, die gleich seine Frau werden wird, steht zniesdig neben ihm, das Gesicht vom Schleier bedeckt, wie es sich für eine jüdische Frau gehört. Ihr Tam - ihr Liebreiz und ihre Gottgefälligkeit - machen sie an diesem Tag zur Königin Esther, lassen die Strahlen des Himmels aus ihr leuchten. Keiner, der sie nicht mit Bewunderung ansieht, der sich nicht wünschte, sie wäre seine eigene Tochter. Die Ehrwürdigsten der Gemeinde, der Rabbiner, der Raw, die Lehrer und Eltern, sprechen die Schewe Broches, die sieben Segnungen, und führen das Paar siebenmal im Kreis herum. Endlich ist es soweit. Die Brautleute erklären sich im Angesicht des Ewigen und der Zeugen zu Mann und Frau, der Chossen, der Bräutigam, steckt seiner Frau den Ring an den Finger und übergibt ihr die Ksuwe, den Ehevertrag, in dem er sich verpflichtet, ihr im Falle der Scheidung sein gesamtes Vermögen zu überlassen, wie groß oder klein es auch sein mag. Alles soll sie bekommen, sollte er sie je verlassen. Doch das ist so weit weg von ihm wie der Gedanke, er könnte Chaser - Schweinefleisch – essen, am Schabbes ein Geldstück in die Hand nehmen oder sich an die Nähmaschine setzen, um zu arbeiten. Das in weißes Tuch gewickelte Glas am Boden wird zertreten, von überall her tönt es Masel tov, man beginnt ausgelassen zu tanzen und zu singen. Gleich wird man das Brautpaar auf Stühle setzen und sie in wilden Schwüngen hoch in der Luft herumwirbeln, den Bräutigam auf die Schultern nehmen und es den Chassidim gleichmachen, damit der Bal Schem Tov ihnen den Segen gibt, wo immer er jetzt sein mag.
Doch in diesem Moment erhellt Feuerschein das Stetl. Flammen lodern, Rauch steigt auf. Die Hochzeitsgesellschaft erschrickt, sieht die Holzhäuser brennen. Das Feuer droht, auf die Synagoge überzugreifen, die heiligen Thorarollen zu verbrennen. Chassene hin oder her, niemand zögert, mit Tanz und Gesang aufzuhören, alles stehen und liegen zu lassen und zum Brand zu laufen, ihn zu löschen versuchen. Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind rennt, so rasch die Füße sie tragen. Aber es ist aussichtlos. Sie haben kein Wasser, stehen verzweifelt und ratlos vor den Flammen, klagen den Mowe moloch an, den Teufel, der dabei ist, ihre Heime zu zerstören und ihnen das Wenige zu nehmen, das sie besitzen. Schon hat das Feuer das Gebetshaus ergriffen. Doch urplötzlich, ohne jedes Vorzeichen, beginnt es zu donnern und zu blitzen. Ein Gewitter! Wie aus dem Nichts sind die schweren Regenwolken im strahlend blauen Himmel aufgetaucht. Das Wasser prasselt hernieder wie nie zuvor. In Strömen ergießt es sich aufs Stetl. Es schüttet derart, dass sich sogar der Staub des Bodens in Schlamm verwandelt. Im Nu ist das Feuer aus. Kaum haben die Schwälle aus dem geöffneten Himmelreich es gelöscht, ist das Gewitter auch schon wieder vorüber. Die Wolken verziehen sich so schnell wie sie gekommen sind. Ein paar Häuser haben Schäden abbekommen, man sieht Ruß an den Wänden, Fenster sind zersplittert, Dächer beschädigt, von überallher tropft es herunter, aber im Großen und Ganzen ist nicht viel passiert. Das unerwartete Gewitter hat das Schlimmste verhindert. Die Sonne strahlt über die Häuser und die Synagoge.
Die klitschnassen Menschen umarmen und beglückwünschten einander, tanzen im Schlamm als wäre es der Parkett des schönstens Ballsaals, singen Masel tov wesimen tov chaj chaj wekajam, David Melech Israel und andere Lieder der Freude und des Überschwangs. Der Rabbiner geht zu Mendel und seiner Frau und sagt zu ihnen:
«Das ist das Geschenk Gottes zu Eurer Hochzeit. Erweist Euch dankbar dafür und erzieht Eure Kinder nach seinen Gesetzen!»
Sie taten es. Deshalb bin ich heute hier und konnte Euch diese Geschichte weitererzählen.