die akte eisenstadt
Leseprobe
Aus der zweiten, ergänzten Auflage von 2020
schwarzes Buchcover, oben das erste von links
Paris, Dezember 1966
Im Chez François, gelegen im 16. Arrondissement der Weltstadt an der Seine, entspricht der Preis eines Abendessens, bei weitem nicht des teuersten, dem durchschnittlichen Monatslohn eines französischen Arbeiters. Es ist ein von Legenden, aber bisher zur Zufriedenheit seines berühmten Eigentümers noch von keinen Skandalen umwobenes Etablissement, im Guide des Reifenherstellers mit drei Sternen ausgezeichnet, der höchsten Anzahl, die in Restaurant der Spitzenklasse bekommen kann. Ton und Licht sind gedämpft. Kein lautes Wort stört die von Klängen Beethovens oder Bachs untermalte Ambiance. Im Flüsterton servieren livrierte Kellner Speisen, wie sie nirgends sonst gibt, ‘Créations ultimes’ von François Henri Gabriel Rocheteau de Courteville. Er ist der letzte Spross einer uralten Dynastie von Köchen, die schon die exquisitesten Gerichte für den Sonnenkönig Ludwig XIV zubereitet hatten. Legende sind sie im ganzen Land. Um die gedämpfte Lautstärke im Tempel der französischen Küche nicht zu stören, wurden die Schuhsohlen und -absätze des Personals mit Filz unterlegt. Wehe, ein Kellner, wagt es, den Gästebereich in anderer Fußbekleidung zu betreten. Fristlose Entlassung wäre die Folge. Das ist im Arbeitsvertrag ausdrücklich festgehalten.
Das Tenue der Gäste und ihre anderen Äußerlichkeiten sind mit den Preisen auf der Menükarte vergleichbar. Crevettes avec filet Wellington aux Pommes Romarin dreihundertfünfzig neue Francs, eine Flasche Chateau Margaux 1955 das Doppelte. Dafür kommt François persönlich an den Tisch, begrüßt jede Mann und jede Frau einzeln. Dankbar und bewundernd schauen sie zu ihm auf. In Frankreich sind Köche Halbgötter, wenn sie in den Olymp der Haute Cuisine aufgestiegen sind. François Henri Gabriel Rocheteau de Courteville ist dort oben geboren, hatte sich nicht erst hinaufarbeiten müssen. Alt- und Neureichen, den Arrivierten und Emporkömmlingen und noch mehr den von ihnen mitgebrachten Damen, den echten und den unechten, ist der Moment, wenn er ihnen die Hand schüttelt, der Höhepunkt des Tages. Nach Geld und Anerkennung streben sie, nach Schein und Glanz, nach Gesehenwerden und Dazugehören, nach allem, was die materielle Welt ihnen zu bieten. Sie selbst bieten der Welt nichts. Seelenwärme, Herzensgüte und Charakterbildung gehören bei ihnen nicht zur Ausstattung ihres Wesens. Vielen gilt der Besuch bei François als Eintrittskarte in die Gesellschaft, die sie als die bessere bezeichnen. Dafür sind ihnen ein paar tausend Francs nicht zu schade, auch wenn ihnen Merguez mit Brot und Senf oder Choucroute mit Speck und Schweinsnieren in einem billigen Restaurant in der Nähe besser geschmeckt hätten und sie satter davon geworden wären. Doch lieber stochern sie in den Sèvres-Tellern bei François herum, setzen ein zufriedenes Lächeln auf und bemühen sich, so natürlich und ungezwungen wie möglich zu wirken, so als kämen sie jeden Tag hierher und als wären die Preise für sie nicht mehr als Krümel im Portemonnaie.
Für einige von ihnen sind es aber wirklich nur Krümel. Zu ihnen gehört der elegant gekleidete, großgewachsene Mittfünfziger, der alleine an einem Tisch sitzt. Die graumelierten Haare trägt er kurz geschnitten. Sein Gesicht ist von Pockennarben durchlöchert. Die Augen stechen blau heraus. Nur ein kleiner, aber unübersehbarer Höcker stört das Ebenmaß der Nase. Der Mann wirkt nicht hässlich, vielmehr maskulin und lebenserfahren. Seine Selbstsicherheit und Ruhe unterstreichen diesen Eindruck. Eleganz und Überlegenheit gehören zu ihm als wären sie Gaben der Geburt. Er hat das Diner beendet, bestellt Kaffee, nimmt den Figaro zur Hand, überfliegt die Schlagzeilen auf der Titelseite, blättert um. Er interessiert sich nicht wirklich für den Inhalt, nimmt ihn kaum auf. Es ist das Ritual, das ihm gefällt, der Ablauf, der er zelebriert. Er genießt es, als einer derjenigen angesehen zu werden, die es im Nachkriegsfrankreich zu etwas gebracht haben, die bewundert und beneidet werden, aus der Masse herausstechen. Er kann es sich leisten, drei oder vier Mal in der Woche zu François zu kommen, bestellt ohne auf den Preis zu achten. Heute waren es Morue salée à la mousse de Champagne zum Entrée, Plat de viandes argentines aux mangues et aux figues fraiches zur Hauptspeise und Surprise de Fromages de Saint Marcellin et Saint Augur aux raisins de Bourgogne zum Dessert. Eine Flasche Grave blanc Péssac-Léognan 1951 hat er sich genehmigt und als Rotwein einen Grand Cru Classé Château Lafite de Pauillac 1954. Nur wenig davon hat er getrunken, den Rest den Kellnern gelassen, die sich freuen, nicht immer nur den billigen Fusel aus dem Supermarché trinken zu müssen, den François ihnen vorsetzt. Zum Abschluss hat der elegante Mittfünfziger er sich noch einen Otard Hors d’âge du Château de Cognac genehmigt. Fünfzehntausend Franc war ihm der heutige Besuch im Chez François wert, soviel wie andere ein Jahr lang für das Essen der ganzen Familie ausgeben. Er aber schöpft aus dem Vollen. Sein Reichtum gestattet es ihm. Arbeiten muss er nicht dafür, hat sein Vermögen ererbt, wie die Kunde geht, die ausgestreut hat.
Ein Paar tritt ein. Es hätte gegensätzlicher nicht sein können.
Der Mann über Vierzig, leicht untersetzt, stiernackig. Ein buschiger schwarzer Schnurrbart und eine Vollglatze verunzieren Gesicht und Schädel. Im Unterschied zu den anwesenden Gästen ist er auffallend schlecht, ja man könnte fast sagen, schäbig gekleidet. Die Frau ist wesentlich jünger, Mitte zwanzig etwa und von ausnehmender Schönheit, gepaart mit einem Hauch von Laszivität. Sie ist hochaufgeschossen, sehr schlank und trägt die hellbraunen Haare mittellang. Ihr Gesicht ist fein gezeichnet, der Teint vielleicht ein wenig zu blass. Die Augen sind blau wie die des Mannes mit dem Figaro in der Hand. Entfernt erinnert sie an Greta Garbo, trägt aber einen kürzeren Rock. Er lässt das Knie frei. Darunter erkennt man glänzende, hautfarbene Seidenstrümpfe und nicht allzu hohe Stöckelschuhe. Trotzdem überragt sie ihren Begleiter deutlich, um mindestens einen Kopf.
Der elegante Mittfünfziger schielt zu ihr hinüber, vergräbt sich aber rasch wieder in den Figaro.
Der Maitre d’Hotel empfängt die Neuankömmlinge mit den gewohnt freundlichen Worten:
„Bonsoir, Madame, Monsieur. Entzückt über Ihnen Besuch. Ich nehme doch an, Sie haben reserviert?“
Der Mann antwortet: „Ja, einen Tisch für zwei, Gilbert Fournier. Ich habe angerufen.“
„Es ist mir eine Freude, Monsieur et Madame Fournier. Kommen Sie bitte“.
«Die Alte ist nicht meine Frau», gibt der Mann barsch zurück.
Der Maitre d’Hotel überhört den beleidigenden Ausspruch, führt sie an einen nahegelegenen Tisch. Sie setzen sich, er überreicht die Speisekarten.
„Darf ich Ihnen einen Aperitiv bringen?“
Der Mann, ein wahrer Rüpel, beachtet seine Begleiterin nicht, bestellt für sich allein, fragt sie nicht nach Ihren Wünschen.
„Ich nehme einen Campari Soda, aber bitte nicht lauwarm“.
„Und für Madame?“
„Einen Martini mit viel Eis bitte“.
Sie lächelt scheu.
„Sehr wohl, ich wünsche den Herrschaften einen angenehmen Abend“.
Der Mann mit dem Figaro beobachtet das ungleiche Paar aus den Augenwinkeln. Sie beginnen ein Gespräch, das sehr rasch hitzig wird. Er versteht kaum etwas, aber es ist deutlich zu hören, dass sie streiten.
Der Maitre d’Hotel bringt die Getränke. Der Mann leert sein Glas, ohne mit seiner Begleiterin anzustoßen.
„Darf ich Ihnen unsere heutigen Spezialitäten empfehlen?“, erkundigt sich der schwarz livrierte Maitre d’hôtel, der Chefkellner.
„Schießen Sie los“.
„Zur Vorspeise hätten wir frischen Rucolasalat mit Erdbeerdressing, Burgunderschnecken in Weißweinsauce oder eine hervorragende Straßburger Spargelcrèmesuppe mit pochierten Crevetten. Danach kann ich Ihnen ein zartes Rehfilet mit Rotkohl und Kastanienpüree anbieten, gedünsteten kanadischen Lachs mit jungen Butterkartoffeln oder ein zartes Rindspavé, in Burgunder abgeschmeckt, mit Trüffelnudeln und frischen Erbsen.“
Der Mann, unwirsch: „Ist so ziemlich alles dasselbe, ich nehme die Schnecken und das Rind.“
Die junge Frau, verlegen ob des schlechten Benehmens ihres Begleiters: „Darf ich Rucolasalat haben und dann den Lachs?“
Der Mann: „Von mir aus, Du machst ja eh, was Du willst.“
Der Maitre d’hôtel überhört die Grobheiten, lässt sich seinen Abscheu nicht anmerken.
„Sehr gerne», sagt er, «und was darf ich zu trinken servieren? Ich würde einen Chateau Margaux aus dem Medoc empfehlen. Wir hätten einen 51er Premier Grand Cru Classé, ein in jeder Beziehung großartiger Wein.“
„Zu einem Wahnsinnspreis, nehme ich an“, antwortet der Mann schroff. „Nein danke. Haben Sie keinen Côte du Rhône für das Portemonnaie eines Normalverdieners, nicht so ein überzüchtetes Millionärsgesöff?“
Der Maitre d’hôtel räuspert sich, übergeht auch das.
„Wenn Sie es wünschen, bringe ich Ihnen einen offenen roten Beaune und für die Dame zum Fisch einen weißen Graves.“
„Am liebsten hätte ich ein Glas Champagner», meint die Frau.
Der Mann, erregt: „Natürlich. Noch was Teureres als den Margaux. Das sieht dir ähnlich. Immer nur profitieren, mir so viel Geld wie nur irgend möglich aus der Tasche ziehen. Kannst du nicht was Normales bestellen, sowas, was alle trinken?“
Der Maitre d’Hotel räuspert sich abermals. Der Mann mit dem Figaro am Nachbartisch hat die Anwürfe und Grobheiten mitbekommen. Er schüttelt unwirsch den Kopf.
Sie: „Gut, dann nehme ich den leichten Weißwein, den Sie empfohlen haben. Der ist sicher wunderbar.“
„Gerne, Madame. Ich empfehle Ihnen einen Chateau de Boisreveries 1957.“
Und, zum Mann gewandt: „Wir servieren ihn auch im Glas.“
Er, ungehalten: „Okay, bringen Sie das Zeug, egal, jetzt ist mir auch schon schnuppe, was es kostet, ich habe Hunger und will endlich was in den Magen kriegen. Ich hoffe, das dauert keine Ewigkeit bei Ihnen.“
Der Mann mit dem Figaro beobachtet die beiden. Nachdem der Kellner indigniert gegangen ist, artet ihr Zank rasch aus. Der Mann macht der jungen Frau Vorwürfe in immer heftiger werdendem Ton. Es geht um Geld. Mitleidlos wirft er ihr die ärgsten Dinge an den Kopf, fährt immer weiter, steigert sich in Rage, Wut und Zorn hinein. Tränen schießen der jungen Frau in die Augen. Sie zittert. Ihr Rock rutscht nach oben, entblößt schmale, makellose Oberschenkel. Der Mann mit dem Figaro schielt hinüber, ist fasziniert von ihrem Sexappeal. Sie bemerkt die Blicke vom Nachbartisch, die auf ihrem Körper auf- und abwandern, während ihr Partner sie rüde abkanzelt und nichts davon mitbekommt. Sie streift den Rock zurecht, wendet sich ab, versucht den Blicken zu entgehen. Der Mann versenkt sich wieder in den Figaro, doch als sie die Beine übereinanderschlägt und dabei abermals die Schenkel entblößt, kann er nicht umhin, erneut hinüberzusehen. Spannung liegt in der Luft. Das Interesse des pockennarbigen, aber deswegen nicht weniger attraktiven Mannes, der nur wenige Meter neben ihr sitzt, entgeht ihr nicht. Es scheint ihm, dass sie es nicht gänzlich kalt lässt, besonders da der Rüpel, mit dem sie gekommen ist, sie derart mit Worten misshandelt. Sie zieht den Rock ein weiteres Mal hinunter, was sie aber nur umso begehrenswerter macht, schlägt die Augen nieder, um keinen der beiden Männer ansehen zu müssen. Abrupt erhebt sich ihr Begleiter, geht zur Toilette. Der Mann mit dem Figaro sieht sie nun ungeniert an. Sie tut alles, um ihm auszuweichen, aber schließlich treffen sich ihre Blicke. Sie ist die Erste, die die Lider niederschlägt. Er blickt sie weiter an. Mit einem Mal, so als wolle sie sagen ‚es tut mir leid, aber ich bin halt mit diesem Ekel hier, vielleicht ein andermal‘ erwidert sie seinen Blick, zieht die Achseln bedauernd in die Höhe.
‚Schade‘, denkt der Mann mit dem Figaro und wendet den Blick ab. Wortlos sitzen sie da, nebeneinander und doch meilenweit voneinander entfernt. Sie zündet sich eine Zigarette an, während er sich ein weiteres Mal in den Figaro vergräbt, ohne jetzt auch nur einen einzigen Buchstaben des Geschriebenen aufzunehmen. Er rückt die Krawatte zurecht, schielt erneut zu ihr hinüber, wartet ab. Lange würde die Sache am Nachbartisch nicht gutgehen. Wer weiß, vielleicht würde er noch eine Chance bekommen.
Der Begleiter der jungen Frau kommt zurück, überhäuft sie abermals mit bitteren Vorwürfen. Auch der letzte Gast hat mittlerweile die unschöne Szene bemerkt. Man tuschelt, aber niemand traut sich einzugreifen und der Sache ein Ende zu machen.
Der Maitre d’Hotel kommt mit den Vorspeisen, serviert sie auf unnachahmliche Weise. Nicht viele wissen die Teller so elegant zu platzieren. Die beiden halten nur kurz mit dem Streit inne.
„Ich wünsche guten Appetit, die Herrschaften!“, sagt er.
Der Mann: „Der Appetit ist mir gründlich vergangen.“
Der Maitre d‘Hotel entfernt sich kopfschüttelnd.
Der Mann bedrängt die junge Frau weiter. Man kann ihn erst verstehen, als er lauter wird:
„Friss schon das teure Grünzeug, du Hure, von mir aus kannst Du dabei gleich verrecken!“
Sie erbleicht, antwortet nicht. Alles sieht zu ihnen hinüber. Das Schweigen der Frau provoziert ihn noch mehr.
„Du bist wirklich das Allerletzte, der letzte Dreck von ganz Paris, nichts als ein Haufen stinkende Scheiße. So was wie dich hab’ ich noch nie gehabt. Jede billige Nutte an der Ecke ist besser als du!“
Er schreit noch lauter, kümmert sich nicht im Geringsten um die Leute im Restaurant, die nervös werden, aber immer noch nicht einschreiten. Zivilcourage ist nicht jedermanns Sache. Vielleicht gibt sich der Streit ja von selbst, denken die meisten. Doch sie irren. Der Streit artet immer mehr aus. Das Benehmen des Mannes wird absolut unerträglich.
„Man sollte dich an einen Stein binden und in die Seine werfen, Du mieses Stück. Hexe, Canaille, Schandweib, Schweinefickerin!“, schreit er, ohne sich um die Anwesenden zu scheren, die zu ihnen hinstarren.
Der Maitre d’Hotel eilt herbei. Der Mann springt auf. Er ist wie von Sinnen, schlägt der jungen Frau heftig ins Gesicht, das hochrot anläuft. Die Menschen im Restaurant sind entsetzt. Nie zuvor haben sie solch eine Szene im Chez François erlebt.
Noch vor dem Maitre d’Hotel steht der Mittfünfziger vor dem Schläger. Den Figaro hat er fallen gelassen. Er ist einen Kopf größer, herrscht den Kleineren von oben herab an:
„Entschuldigen Sie sich sofort bei der Dame, Sie unverschämter Lümmel!“
„Das könnte dir so passen, Du alter Trottel“, antwortet der Berserker. Er ist außer sich. Wutentbrannt stößt er den Größeren und Älteren weg, wirft den Stuhl um, rennt aus dem Etablissement. Seine Begleiterin würdigt er keines Blickes mehr.
Der Maitre d’Hotel: „Wollen Sie, dass wir die Polizei verständigen, Madame?“
Sie: „Nein, es geht schon, verzeihen Sie bitte. Ich schäme mich ja so.“
Der Mittfünfziger: „Es gibt nichts zu verzeihen, Madame, und schämen müssen Sie sich schon gar nicht. Das Benehmen Ihres Begleiters war unerhört und in jeder Beziehung unentschuldbar.“
Sie blickt ihn dankbar an. Er ist Herr der Lage. Selbstsicher wendet er sich an den Maitre d’Hotel:
„Die Dame wird Ihr Diner an meinem Tisch beenden. Decken Sie bitte um.“
Sie wagt nicht zu widersprechen. Der Maitre d’Hotel legt ihr Gedeck und ihre Gläser auf den Tisch des Mannes, der sie eingeladen hat.
Langsam wenden sich die Leute ab, erregen sich aber offensichtlich weiter über das Vorgefallene. Der elegante Mann geleitet die junge Frau zu ihrem Stuhl, rückt ihn galant zurecht. Sie setzen sich. Sie beginnt zu reden:
„Ich danke Ihnen, mein Herr, das war außerordentlich liebenswürdig von Ihnen. Ich hätte sonst nicht gewusst, was ich machen soll.“
„Nein nicht doch, das war ganz selbstverständlich. So einen Lümmel habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Eine Frau in einem Restaurant vor allen Leuten in primitivster Art auf Schlimmste zu beleidigen und dann auch noch brutal zu schlagen! Ganz unabhängig von dem, was vorgefallen sein mag, so etwas ist durch absolut nichts zu rechtfertigen.“
„Ich versichere Ihnen, Monsieur, es ist nichts vorgefallen, wirklich nichts, zumindest nicht von meiner Seite.“
„Sie brauchen mir nichts zu erklären, Mademoiselle. Nehmen Sie erst einmal einen Schluck Wein und essen Ihren Salat, er ist wirklich ausgezeichnet, dann geht es Ihnen sicher gleich viel besser.“
Er hebt sein Glas, in dem sich noch etwas Rotwein befindet. Zögernd greift sie nach ihrem, hebt es ebenfalls. Kaum wagt sie es, ihm in die Augen zu sehen. Er nimmt ihre Hand, ganz natürlich.
„Beruhigen Sie sich. Jetzt kann Ihnen nichts mehr passieren. Cheers und auf einen schönen Abend!“
Sie bebt, zieht ihre Hand aus der des Fremden nicht weg, haucht ebenfalls „Cheers“, schlägt verschämt die Augen nieder, trinkt und beginnt zu essen.
Er: „Ich will ja nicht indiskret sein, aber wer war der Mann, doch nicht etwa ihr Ehegatte?“
„Um Himmels willen, nein», antwortet sie. «Ich habe ihn erst vor ein paar Tagen kennengelernt, bei Freunden, und er meinte schon, Rechte auf mich zu haben.“
„So ein Ekel. Ich kenne diese Art Männer. Die lässt man besten gleich von Anfang an links liegen.“
„Nein, nein, am Anfang war er gar nicht so. Im Gegenteil, zuerst war er nett, charmant, aufmerksam und vor allem sehr großzügig. Erst nach und nach, als ich ihm immer wieder klargemacht habe, dass ich nichts von ihm wollte, wurde er böse und aggressiv.“
„Böse ist ein ziemlich freundlicher Ausdruck für solch ein Verhalten.“
„Anfangs hat er mich mit teuren Geschenken überhäuft, sehen Sie nur die Uhr hier und dieses Collier! Er meinte wohl, mich damit kaufen zu können. Er wollte einfach nicht akzeptieren, dass ich nicht mit ihm ins Bett gehen wollte. Heute Abend hat er mich gar als Hure beschimpft, obwohl ich gerade das Gegenteil davon bin. Ich gehe nicht mit jedem ins Bett, sicher nicht, nur weil einer mir Schmuck schenkt und schon gar nicht am ersten Tag!“
„Der weiß gar nicht, was er an Ihnen verloren hat. Frauen wie Sie gibt es nicht viele in Paris.“
„Hören Sie auf, Monsieur, Sie machen mich noch ganz verlegen.“
„Sehen Sie, jetzt lachen Sie schon fast wieder. Und sagen Sie bitte nicht Monsieur. Nennen Sie mich doch einfach Albert wie alle meine Freunde. Übrigens, mein Name ist Follonier.“
„Ich liebe es, wenn man mich zum Lachen bringt, Albert. Ich heiße Michèle Jeanrenaud.»
„Ich bin entzückt, Ihre Bekanntschaft zu machen, Michèle - ich darf Sie doch Michèle nennen - wenn auch die Umstände unseres Zusammentreffens und Kennenlernens nicht eben die erfreulichsten waren. Da Sie gerne lachen und um Sie auf andere Gedanken zu bringen, schlage ich Ihnen vor, dass wir nach dem Essen in eine nette Bar gehen und noch etwas trinken. Dabei kann ich Ihnen viele amüsante Geschichten erzählen, die sie noch mehr zum Lachen bringen werden, das verspreche ich Ihnen. Ich kenne eine sehr schöne und diskrete Bar ganz in der Nähe. Da vergessen Sie schnell die Aufregung von vorhin und den miesen Rüpel!“
„Ich weiß nicht recht.“
„Sie können die Einladung ruhig annehmen. Schließlich könnte ich Ihr Vater sein, Michèle. Von mir haben Sie nichts zu befürchten.“
„Schade, von Ihnen hätte ich gerne ein klein wenig befürchtet.“
„Naja, erst einmal bringe ich Sie zum Lachen, okay?“
„Das ist toll. Endlich einmal ein Mann, der mich nur zum Lachen bringen will.“
„Wer sagt denn nur? Aber jetzt essen Sie erst einmal auf. Sonst kommt der Lümmel noch zurück und spuckt Ihnen in den Teller!“
„Würden Sie das denn zulassen, Albert?“
„Ich glaube, Sie kennen mich schlecht, Michèle. Das würde der Bursche keine drei Sekunden überleben.“
Sie lachen.
Nach dem Essen führt er sie in die versprochene Bar. Spärliches Licht, dicke Samtfauteils, leichtbekleidete Kellnerinnen, verliebte Paare, eine erotische Sängerin, kaum verhüllt, tiefe Stimme. Sie setzten sich an einen kleinen Tisch. Eine leichtbekleidete Barfrau serviert Champagner. Sie sehen einander in Augen. Albert nimmt abermals ihre Hand.
„Sie sind eine wunderschöne Frau, Michèle.“
„Sie machen mich ganz verlegen, Albert. Aber Sie sind auch ein toller Mann, wie man ihn nicht alle Tage trifft.“
„Das müssen wir begießen.“
Sie trinken. Er nimmt ihr Gesicht zwischen seine Hände. Sie lässt ihn gewähren. Langsam nähern sich ihre Lippen. Sie bebt, als er sie küsst. Der Kuss wird immer leidenschaftlicher. Mit einem Mal schlingt sie ihre Arme um seinen Hals, schluchzt hemmungslos:
„Albert, Ich weiß nicht wohin. Ich bin nur mit dem Typen mitgegangen, weil mein Verlobter, für den ich alles gegeben hätte, mich belogen und betrogen hat. Wie oft hat er mir gesagt, er würde mich lieben! Wir wollten heiraten. Ich war verliebt bis über beide Ohren und dumm wie eine Ziege. Ich dachte, er wäre treu und würde mich wirklich lieben. Falsch gedacht! Als ich einen Tag früher als vorgesehen von einem Besuch bei meiner Mutter zurückkam, fand ich ihn ich ihn mit meiner besten Freundin in unserem Bett. Du kannst dir vorstellen, was das für ein Schock für mich war. Ich musste einfach weg, so rasch wie möglich. Es ging mir dreckig. Ich war schon fast so weit, dass ich nicht mehr leben wollte. Eine andere Freundin hat mich ein paar Tage bei sich aufgenommen. Dann hat sie mich auf diese Party mitgenommen. Dort hab den Typen kennengelernt, den du vorhin erlebt hast. Er hat mir das Blaue vom Himmel versprochen, mir Komplimente und Geschenke gemacht. Ich konnte ja nicht ahnen, was für ein Scheusal er ist. Albert, was soll ich nur machen? Ich weiß nicht mehr ein noch aus.“
Man sieht ihr die Verzweiflung an. Sie schluchzt und weint. Albert nimmt sie in die Arme, tröstet sie:
„Hör auf zu weinen, mein Liebling. Jetzt wird alles gut. Ich bin ja da. Von jetzt an werde ich auf dich aufpassen. Ich verspreche dir, niemand wir dir mehr wehtun.“
„Wirklich?“
„Du kennst mich noch nicht und kenn dich auch erst seit heute Abend. Aber ich weiß, dass Du die Frau meines Lebens bist. Ich werde alles tun, um dich glücklich zu machen und dich nie betrügen!“
„Ich hab’ dich nicht verdient, Albert.“
Wieder finden sich ihre Lippen und Hände. In der Dunkelheit streichelt er sie zärtlich, Bauch, Beine, Brüste, Hals.
Michèle: „Gehen wir zu dir.“
Albert: „Wenn du willst, übernachte ich auf der Couch.“
„Nein, mein Dummerchen, ich will mit dir schlafen heute Nacht“.
„Willst du das wirklich?“
„Ja, ich will dich heute Nacht in mir spüren, Albert.“
„Dann komm. Wir sollten keine Sekunde versäumen.“
Er legt einen Schein auf den Tisch, wartet nicht aufs Rückgeld. Sie stehen auf und gehen, Hand in Hand. Schweigend fahren sie in seinem Wagen durch das nächtliche Paris. Wie unwirklich ziehen die Lichter an ihnen vorbei. Leise Musik tönt aus dem Radio. Sie lehnt den Kopf an seine Schultern, küsst ihn auf den Hals. Er schiebt seine Hand unter ihre Bluse und ihren Rock, streichelt sie. Sie lässt es geschehen, stöhnt. Er hält das Auto an, küsst sie leidenschaftlich.
Michèle: „Fahr weiter, mein Geliebter. Ich will’s nicht im Auto machen. Lass uns zu dir nach Hause fahren.“
„Dein Wunsch ist mir Befehl, Michèle.“
Er fährt weiter, parkt den Wagen in der Garage. Mit dem Lift fahren sie nach oben. Seine Hände sind überall an ihr. Schon im Lift will er sie nehmen, zieht ihren Rock hinauf. Doch sie drängt ihn in die Wohnung.
„Komm, Albert, wir machen es auf meine Weise. So hast du es noch nie erlebt.“
„Da bin ich aber gespannt.“
„Das wird die unvergesslichste Nacht deines Lebens, das verspreche ich dir. Du wirst sehen.“
„Ich kann es kaum erwarten.“
„Warte nur noch ein ganz klein wenig, mein Schatz.“
„Du bist die tollste Frau, die ich je kennengelernt habe.“
„Es wird noch viel toller, Albert, aber du musst tun, was ich dir sage.“
„Alles, was du willst, mein Schatz.“
„Zieh dich aus!“
Er streift seine Kleider ab, sie bleibt angezogen.
„Leg dich aufs Bett!“
Er gehorcht. Sie zieht einen Strick aus ihren Handtasche.
„Hände hinter das Bettgitter!“
„Muss das sein?“
„Liebst Du mich oder nicht? Wenn Du mich liebst, dann vertraue mir. Ich sage dir, das wird die unvergesslichste Nacht deines Lebens.“
„Ich liebe dich über alles, Michèle, mein Schatz, ich mach ja schon, ich mache alles, was du willst.“
Er legt die Hände hinter das Bettgestell. Sie bindet sie zusammen.
„Aua, nicht so fest.“
„Doch, so fest es geht. Du wirst sehen, so war es noch nie!“
„Komm schon, Michele, fick mich, du geiles Weib!“
„Nur noch einen Moment, Albert. Ich geh ins Bad und mach mich frisch. Bin gleich wieder da, versprochen.“
Sie geht aus dem Zimmer, er bleibt erwartungsvoll zurück. Kurz darauf kommt sie wieder, zusammen mit zwei Männern. Er traut seinen Augen nicht: Alle drei in Militäruniformen, Kepis, Revolver - Davidsterne. Was soll das? Er versteht nichts mehr.
Breitbeinig stellt sie sich vor ihm auf, nimmt das Kepi ab, streift die dunkle Perücke ab. Lange blonde Haare kommen zum Vorschein. Sie schüttelt sie aus, setzt das Kepi wieder auf. Er schreit, windet sich, versucht sich von den Fesseln zu befreien. Vergebens. Die Soldaten halten seine Beine fest. Sie ist wie verwandelt, spricht in völlig verändertem, kalten Ton zu ihm, mit monotoner Stimme:
„Sind Sie Arthur Bleuler, SS-Nummer 34576, Kommandant der Aktionsgruppe Wolfsrotte, die zwischen 1940 und 1944 die abscheulichsten Kriegsverbrechen in Frankreich verübt hat?“
Er schreit in Todesangst: „Michèle, nein, nein, das bin ich nicht, Ihr verwechselt mich, lasst mich frei!“
Verzweifelt, mit aller Kraft, versucht er sich aus den Stricken winden, vergebens. Der Strick sitzt zu fest.
„Ich bin nicht Michèle, sondern Yael Bar Ilan, Oberleutnant des Staates Israel, des Staates, den es nicht geben dürfte, wenn es nach Ihnen und Ihresgleichen gegangen wäre. Sechs Millionen von uns habt Ihr ermordet, auf die unmenschlichste Art, vergast und erschossen, die Kinder vor den Augen ihrer Mütter, die Männer vor den Augen ihrer Frauen. Geben Sie es zu, Arthur Bleuler, seien Sie wenigstens in der letzten Minute Ihres Lebens ehrlich!“
Der Gefesselte, vor Angst zitternd: „Nein, das bin ich nicht, ich habe nie jemand getötet, keinen einzigen Menschen. Ihr müsst mir das glauben!“
„So, und was war mit Sara und Leo Finkelstein, David und Hannah Levy, Michèle Rosier, Virginie Goldenberg, Professor Max Brenner und den vielen anderen, die Sie auf dem Gewissen haben? Sie sind nichts als ein erbärmlicher Feigling, wie alle SS-Offiziere, die nur in der Masse stark sind und in der Uniform mit dem Hakenkreuz, mit tausend anderen Verbrechern hinter sich. Haben Sie jetzt, nur einmal im Leben Courage, den Mut, Ihre ungeheuerlichen Verbrechen zuzugeben. Aber vielleicht ist es besser, dass Sie so sterben wie Sie gelebt haben, als kleiner elender und verlogener Wicht, der wehrlose Menschen foltert und umbringt, aber vor Angst zittert und bebt, wenn es um sein eigenes erbärmliches Leben geht.“
Er schluchzt und weint wie ein beim Lügen ertapptes Kind. Seine Pupillen weiten sich. Entsetzen und Todesangst sind mit großen Lettern in sein Gesicht geschrieben. Der eben noch so starke Mann hat sich in ein Häuflein Elend verwandelt. Er macht ins Bett. Eine große gelbe Lache breitet sich auf dem Laken aus. Beißender Uringeruch zieht ihnen in die Nase.
Yael, zu den Kameraden: „Fast tut es mir leid, ein solches Nichts erledigen zu müssen. Untersucht ihn, aber fasst nicht in die stinkende Pisse!“
Die verräterische SS-Blutgruppentätowierung über dem Ellenbogen auf der Innenseite des linken Oberarms ist rasch gefunden. Sie vergleichen sie mit den auf einem Zettel notierten Zahlen und Buchstaben. Es sind dieselben. Es steht außer Frage: Der Mann ist der Gesuchte, SS-Sturmbannführer Arthur Bleuler, Major und Leiter der Aktionsgruppe Wolfsrotte, hundertfacher Mörder, einer der schlimmsten deutschen Kriegsverbrecher im besetzten Frankreich während des Zweiten Weltkriegs, eine Bestie in Menschengestalt.
Yael, zu Albert: „Für die Morde an Sara und Leo Finkelstein, David und Hannah Levy, Michèle Rosier, Pierre-Alain Dupasquier, Roselyne und Joseph Pagard, Virginie Goldenberg, Max Brenner, Rachèle und Baruch Cohen, Mirjam Ceskovic, Franck und Marie Petermann, Robert und Antoine de Sausier, Eli Sharan und Claudine Bovier wurden Sie vom Obersten Gericht des Staates Israel zum Tod verurteilt. Das Urteil wird hier und heute von den anwesenden Offizieren von Tsahal vollstreckt.“
Arthur Bleuler hechelt und zittert, seine Glieder zucken wild, erschlaffen jedoch, als er merkt, dass lange Zeit kein Schuss fällt. Vielleicht wollten ihn die drei nur zu Tode erschrecken. Wie eine Erlösung schießt ihm der lebensrettende Gedanke durch den Kopf. Sicher wollten sie ihm nur zeigen, wie es sich anfühlt, vor dem Henker zu stehen, doch nicht wirklich schießen, ihn nicht wirklich töten. Yael wartet mit der Pistole in der ausgestreckten Hand. Endlich, nach einer halben Ewigkeit, betätigt ihr Finger den Abzug, langsam, ganz langsam. Der Bügel des Revolvers spannt sich. Nur noch Bruchteile von Sekunden verbleiben, bis sie ihn loslassen wird.
Jetzt endlich erkennt Arthur Bleuler, der Massenmörder, dass er diesmal nicht mit dem Schrecken davonkommt, ihm nur noch ein Augenaufschlag auf dieser Erde verbleibt. Im allerletzten Moment seines jämmerlichen Lebens wird ihm klar, so klar, wie ihm nie etwas zuvor in seinem teuflischen Dasein gewesen war, dass seine ungeheuren Verbrechen nicht ungesühnt geblieben sind.
Wie Korkenknallen hallt der Schuss durch den Schalldämpfer in den Raum, der seine gotteslästerliche Existenz ein für alle Mal beendet.
_______________________________________
Elieser hält mit der Erzählung inne, gießt sich und Arik Wasser ein.
«Trink, mein Sohn», sagt er zum jungen Mann, der ihm gegenübersitzt. Er ist dem ersten Bericht des alten Mossad-Chefs gebannt gefolgt. Es war ja keine Geschichte, die man jeden Tag zu hören bekommt, nicht einmal in Israel, dem Land, in dem Außergewöhnliches normal ist.
«Eine packende Story, die Sie mir da erzählt haben, aber was hat sie mit meinem Großvater zu tun?» fragt er.
«Warte ab, Arik», antwortet Elieser, «du wirst es bald erkennen, musst nur Geduld haben und mich alles berichten lassen. Kein Film könnte spannender sein, in keinem Kino wirst du eine Handlung sehen, die dich so mitreißen und berühren wird wie die, von der du heute hören wirst. Sie dauert volle sechsundsechzig Jahre und ist nicht nur dramatischer als jeder noch so gut gedrehte Spielfilm, sie hat auch noch einen wesentlichen Vorteil gegenüber einem Kinofilm - sie ist wahr. Alles in der Geschichte ist genau so geschehen, wie ich es dir schildern werde. Ich werde nichts einfügen oder dazudichten, muss nur einiges weglassen, denn sonst müsstest du sechsundsechzig Jahre hier sitzen bleiben und meinen Worten folgen. Und das willst du doch nicht, nehme ich an. Dein Leben hat eben erst angefangen, du hast alles Schöne, was ein Mensch erleben kann, noch vor dir. Dass du es in Israel leben und erleben kannst, dem einzigen Land der Welt, in dem Juden keine Bürger zweiter Klasse sind, dafür sorgt der Mossad. Sei also unbesorgt und höre zu. Was du zu hören bekommen wirst, ist vergangen, aber doch ein Teil von Dir und uns allen».